Wenn man sich mit der Frühgeschichte des Kinos befasst landet man fraglos in Frankreich. Hier haben die Gebrüder Lumiere 1895 zum ersten Mal öffentlich einen Film vorgeführt. Aus dem Bereich der Fotografie kommend, sahen sie im Film eine neue Möglichkeit die Realität abzubilden. Im Gegensatz zu ihnen stand der Bühnenmagier Georges Méliès, der im Film die Möglichkeit sah die Realität zu verändern.
Doch im Publikum der ersten Filmvorführung der Lumieres, im Keller des Grand Café in Paris, befand sich eine weitere Pionierin des Films deren Arbeit häufig übersehen wird: die zu diesem Zeitpunkt 21jährige Sekretärin Alice Guy. Sie bestürmte ihren Chef, den Industriellen Léon Gaumont, ihr die Möglichkeit zu geben in ihrer Freizeit ihre eigenen Filme zu drehen. Gaumont war einverstanden, vermutlich vor allem deshalb weil er das finanzielle Potential des neuen Mediums noch nicht sah. So entstand 1896 Guys erster Film ‚La Fée aux Choux‘, in dem eine Fee Babies in Kohl heranzieht (ja, so hab ich auch geguckt) und der möglicherweise der erste fiktive Film überhaupt sein könnte.
Für die nächsten 10 Jahre wurde Guy die filmische Produktionschefin von Gaumont und war als Regisseurin oder Produzentin für 700 bis 1000 Filme verantwortlich. Dabei behandelte sie aktuelle Themen, z.B. Feminismus in ‚Les resultats du feminisme‘, in dem Männer sich schminken und Kaffekränzchen abhalten und von biertrinkenden Frauen belästigt werden (das mag nicht sehr progressiv scheinen, aber allein die Tatsache, dass 1906 eine Frau öffentlich in einem Film über das Thema sinnieren konnte ist außergewöhnlich):
Sie suchte aber auch nach Möglichkeiten den Film weiter zu entwickeln, z.B. mittels Handeinfärbung in ‚Le départ d’Arlequin et de Pierrette‘:
Und sie zeichnet definitiv verantwortlich für die ersten ‚Musikvideos‘ mittels Chronophone-Verfahrens, bei dem Schallplatten mit dem Film synchronisiert werden mussten. Hier Armand Dranem 1905 mit einem Lied über Jiu-Jitsu (22 Jahre vor ‚The Jazz Singer‘!):
Hier ‚Making of‘ Aufnahmen einer solchen Chronophone-Sitzung, Guy ist im Vordergrund/Mitte zu sehen:
Als eines ihrer Meisterwerke gilt die damalige Großproduktion ‚Le vie de Christ‘ von 1906, der – mit über 300 Statisten – Stationen aus dem Leben Jesus‘ von Nazareth zeigt:
1907 heiratete Guy den Kameramann Herbert Blaché, der bald eine leitende Position bei Gaumonts Niederlassung in New York erhielt. 1910 gründeten die Beiden ihre eigene Filmproduktion ‚Solax‘ und ließen ein großes, modernes Produktionsgelände in Fort Lee, New Jersey bauen. Herbert sollte die finanzielle Seite übernehmen, Alice die kreative. Nach anfänglichen finanziellen Erfolgen (‚Solax‘ war das größte Prä-Hollywood Studio der USA) gingen die Dinge nicht gut. 1918 produzierte Guy-Blaché ihren ersten Flop und Herbert Blaché war entweder nicht gut im Umgang mit Geld oder betrachtete seine Frau als Rivalin und wollte ihr schaden. Wie dem auch sei, als ein bankrott absehbar war setzte er sich mit einer Schauspielerin nach Hollywood ab. Guy-Blaché drehte 1920 ihren letzten Film ‚Tarnished Reputations‘, arbeitete dann 2 Jahre für William Randolph Hearst, ließ sich 1922 scheiden und kehrte nach Frankreich zurück.
Niemand wollte mehr eine Frau Filme drehen lassen. Gaumont veröffentlichte 1930 die Geschichte seiner Firma und erwähnte keine Filme vor 1907. Viele von Alices Filmen wurden männlichen Filmemachern angedichtet. Sie selbst zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.
1952 veröffentlichte sie ihre Memoiren. Ein leicht beschämtes Frankreich nahm sie 1953 in die Ehrenlegion auf. Das Gefühl hielt nicht lange an. Als sie 1957 von der Cinématheque Française geehrt wurde, ignorierten Presse und Öffentlichkeit dies völlig. 1964 zog sie zu ihrer Tochter in die USA, wo sie 1968 94jährig in einem Altenheim starb. Ihre Karriere von 1896 bis 1920 war die längste aller Filmpioniere.
350 ihrer Filme sind erhalten, davon 22 Langfilme.