Wer sich auf dem Weg ins Kino beeilt schafft es vielleicht noch Denis Villeneuves aktuellen Film den „War on Drugs“-Thriller ‚Sicario‘ zu sehen. Ich werfe hier einen Blick auf den ersten englischsprachigen Film des Kanadiers (nach ‚Prisoners‘ erschienen aber vorher gedreht).
Adam Bell (Jake Gyllenhaal) ist ein introvertierter Geschichtsprofessor an der Universität von Toronto. Er führt ein gleichförmiges Leben: am Tage hält er Vorlesungen über totalitäre Systeme, den Abend verbringt er desinteressiert mit Freundin Mary (Mélanie Laurent). Auf Hinweis eines Kollegen, schaut er einen lokalen Film und bemerkt in einer Szene einen Nebendarsteller, der exakt wie er selbst aussieht. Er beginnt über den Schauspieler Anthony Claire (Jake Gyllenhaal) zu recherchieren, stellt ihm und seiner schwangeren Ehefrau Helen (Sarah Gadon) nach und nimmt schließlich Kontakt auf. Als die beiden feststellen, dass sie sogar dieselben Narben haben, scheint es keine einfachen Antworten zu geben.
Diese Inhaltsangabe ist nicht direkt falsch aber sie ist vollkommen inadäquat, um auch nur im Ansatz wiedergeben zu können worum es in dem Film geht. Der Film untersucht Ideen zu Identität ähnlich, wie David Lynch in ‚Mulholland Drive‘ oder ‚Lost Highway‘. Aber anstatt lynchesk, würde ich ihn eher kafkaesk umschreiben. Wir haben eine klare Handlung, die (bis auf die Letzte Minute) nachvollziehbar ist und „Sinn ergibt“, doch daneben haben wir ein ganzes hermetisches System aus Andeutungen und Bildern, die wir entschlüsseln können, so wir denn wollen. Die ganze Zeit besteht das Gefühl einer diffusen Bedrohung, die weit über das persönliche Schicksal des Gyllenhaal-Doppels hinausgeht. Jede Aufnahme ist in kränkliches orange-braunes Licht getaucht und Kanadas Stahlbeton und Glastürme (und vor allem seine Plattenbauten) haben seit David Cronenbergs Frühwerken, wie ‚Shivers‘ oder ‚Rabid‘, nicht so hässlich brutalistisch ausgesehen. Untermalt wird das Ganze von einem Soundtrack aus diskordanten Streichern. Ich habe mich während des Films mehrfach körperlich unwohl gefühlt. Weil ich eine neblige Skyline gezeigt bekomme. Das muss man erst mal schaffen.
Der Film wiederholt gewisse Bilder und Szenen in anderen Zusammenhängen (passenderweise zitiert Adam bell in seiner Vorlesung das Hegel/Marx-Zitat, dass sich in der Geschichte alles wiederholt, das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce). Besonders auffällig hier das implizite Bild eines Spinnennetzes (anhand von Stromleitungen, Splittern etc.) und ganz explizit das Bild einer Spinne (die in einer Szene sehr an diese Skulptur erinnert (der Name der Skulptur mag einen interpretatorischen Ansatz bieten)). Vieles kann man aus den Bildern ablesen: sexuelle Obsession, Angst vor Verantwortung, Intimität und Bindung und immer wieder Kontrolle (das große Thema von Bells Vorlesungen). Gyllenhaals Doppelperformance ist sehenswert und nicht überzogen. Die Nebendarsteller durch die Bank sehr gut
Wer bereit ist sich hierauf einzulassen findet einen hervorragenden Film, der mehrere Sichtungen nicht nur belohnt, sondern fast notwendig macht. Dabei handelt es sich aber nicht um den lysergsäuregetriebenen Surrealismus eines Alejandro Jodorowsky, sondern ist deutlich bodenständiger. Also bitte nicht direkt „Iiih Kunstfilm“ rufen und die Flucht ergreifen.
FAZIT: Wow, genau mein Film und er kam für mich komplett aus dem Nichts. Wer sich von dem obigen Text nicht völlig abgeschreckt fühlt sollte den Film schauen (wer sich abgeschreckt fühlt auch, denn das liegt wohl eher an meinen „Schreibkünsten“ als dem Film). Arachnophobiker sollten vor dem Ansehen ihren Arzt oder Apotheker aufsuchen (einfach mal „Hallo“ sagen).
9/10 dunklen Apartment-Komplexen
Pingback: Erster Trailer zu ‚Arrvial‘ | filmlichtung
Pingback: Die 5 Besten am Donnerstag: die 5 besten (noch lebenden) männlichen Schauspieler | filmlichtung
Pingback: Die 5 Besten am Donnerstag: Die 5 besten Filme aus den Jahren 2010 – 2015 | filmlichtung