Am Anfang der Geschichte des Films war es ganz normal einen Film in einer einzigen Aufnahme abzudrehen. Da dauerte ein Film aber auch nur 1 bis 5 Minuten. Doch 90 Minuten oder mehr in einer einzigen Plansequenz abdrehen? Das war im letzten Jahrhundert nicht einmal technisch möglich. 1948 versuchte sich Alfred Hitchcock an seinem ‚Cocktail für eine Leiche‘ (OT ‚Rope‘), doch da eine Filmrolle nicht mehr als etwa 20 Minuten Material fassen konnte war er gezwungen mehr oder weniger versteckte Schnitte unterzubringen. Und mit dem Ergebnis soll er selbst nur mäßig zufrieden gewesen sein.
Erzählerisch sind lange Plansequenzen eine gute Sache, da sie für den Zuschauer die Szene oder den Ort der Handlung direkter und greifbarer machen. Doch bis zum ersten „in einem Rutsch“ gedrehten Film dauerte es noch bis 2002, als Alexander Sokurov ein sehr schmales Zeitfenster für einen Dreh in der Petersburger Eremitage bekam. Mit Steadycam und tragbarem Festplattenrecorder entstand seine Zeitreise durch die Geschichte Russland ‚Russian Ark‘. Damit war aber auch erst einmal wieder Schluss mit den One Take Filmen (wer die Erleichterung von Sokurovs Team am Ende des Films (er gelang im dritten Versuch) gesehen hat ahnt warum). Der letztjährige ‚Birdman‘ hatte zwar lange Aufnahmen, doch waren stets versteckte Schnitte eingestreut (abgesehen davon, dass der Film ohnehin nicht in „Echtzeit“ spielte).

Boxers (Mitte) Vergangenheit führt zum Grundkonflikt des Films
Und jetzt haben wir hier ‚Absolute Giganten‘ Regisseur Sebastian Schipper, der einen One Take Film mit über zwei Stunden Länge gedreht hat. Nicht in einem kontrollierbaren Studio oder Museum, sondern in Berlin. Mit 150 Statisten und an 22 Drehorten. Die Organisation hinter der Kamera muss eine Hölle gewesen sein, die quasi militärische Disziplin erfordert hat. Bleibt die Frage ob sich der Aufwand gelohnt hat.
Es ist halb 5 morgens an einem Wochentag. In einem Berliner Kellerclub tanzt die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) allein. Als sie gehen möchte, da sie in zwei Stunden bei ihrem Cafe-Job sein muss, trifft sie auf Sonne(Frederick Lau), Boxer, Blinker und Fuß. Vier halbseidene aber nicht unsympathische junge Männer. Sie laden sie ein mit ihnen Fuß‘ Geburtstag zu feiern. Zwischen Unsicherheit und Neugier schwankend willigt Victoria, die erst kurz in Berlin ist und kein deutsch spricht, ein. Man trinkt, man kifft, man freundet sich an und zwischen Victoria und Sonne scheint sich mehr zu entwickeln. Doch dann nimmt der Morgen eine unangenehme Wende: ein Knastbekannter von Boxer erwartet einen Gefallen. Und für diesen Gefallen braucht es vier Leute. Und Fuß ist zu besoffen. Alle Augen richten sich jetzt auf Victoria.

Victoria mag nicht „Triangel-Mädchen“ genannt werden
12 Seiten umfasste Schippers Drehbuch. Eine Übersicht dessen was geschehen soll. Die Dialoge wurden vor Ort von den Darstellern improvisiert. In „Digger-Alder-Chill ma“-Sprech zwischen den Jungs und in brüchigem Touri-Englisch zwischen Victoria und allen anderen. Und das funktioniert ganz hervorragend, wirkt authentisch und ist weit entfernt vom häufigen Problem des deutschen „theatralischen“ Spiels. Überhaupt ist Hauptdarstellerin Laia Costa wohl die größte Entdeckung des Films. Sei es natürliches Charisma, sei es die Tatsache, dass sie den einzigen Charakter spielt, der nicht in ständigem Posieren gefangen ist, es ist unmöglich die Augen von ihr zu nehmen. So ist denn auch die, meiner Meinung nach, beste Szene des Films eine in der nur Costa, Lau und ein Klavier eine Rolle spielen, der Zuschauer erahnt, dass Victoria eine zutiefst unglückliche Person ist und Laus Charakter für einen Moment seine „Mir-gehört-die -Welt“ Pose ablegt. Das soll aber nicht heißen, dass Action und Drama drum rum schlecht wären.

Gangster Andi ist ein wenig klischeehaft. Okay, ziemlich klischeehaft.
Die innere Logik der Handlung ist manchmal vielleicht etwas „märchenhaft“, doch ist man während des Ansehens so sehr im Sog des Films gefangen, dass diese Probleme erst im Nachhinein offenbar werden. Und das hängt natürlich mit dem Stilmittel des durchgängigen Filmens zusammen. Und daher muss ein großer Teil des Respekts für den Erfolg dieses ungewöhnlichen Films an Kameramann Sturla Brandth Grøvlen gehen. Was der in Hinsicht auf Bildkomposition und (in Ermangelung eines solchen) „Endschnitt“ abliefert ist dynamisch und intim zugleich und unter den gegebenen Bedingungen einfach großartig. Mal ganz abgesehen von der athletischen Leistung die Kamera für mehr als zwei Stunden treppauf und treppab in Autos und aus Autos zu wuchten und das Ganze noch gut aussehen zu lassen. Hut ab (wenn ich einen hätte)!
FAZIT: Großartiges, unerwartetes dynamisches und doch einfühlsames Werk aus Deutschland (und selbstverständlich nicht der deutsche Oscar-Beitrag, denn er arbeitet ja kein „wichtiges Stück deutscher Geschichte“ auf)
8/10 Ladendiebstählen beim Späti
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