„Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“, das Interview-Buch (Erstauflage 1966) von Francois Truffaut über Hitchcocks gesamtes Schaffen ist vermutlich mein liebstes Buch über Film. Die beiden Filmemacher waren so unterschiedlich, wie sie nur sein konnten. Truffauts Filme bildeten meist autobiographisch einen Teil seines Lebens ab, er war ein recht lockerer Stilist und ließ seinen Schauspielern gern größte Freiräume, schrieb sogar oft nachts seine Drehbücher nach ihren Vorstellungen um. Hitchcocks Themen waren niemals aus seinem Leben gegriffen, er plante jede Szene quasi mathematisch durch und betrachtete Schauspieler als zwar notwendiges, letztlich aber störendes, weil ihm gelegentlich widersprechendes, Element. Truffauts Buch ist vermutlich zu einem nicht unbedeutenden Teil dafür verantwortlich wie wir Hitchcock heute wahrnehmen. Eine Inspiration für das Buch war nämlich die ungläubige Reaktion, die Truffaut bei amerikanischen Filmkennern auslöste, als er auf die Frage nach seinem Lieblingsregisseur mit Hitchcock antwortete. Der mache doch nur plumpe, unrealistische Unterhaltung, ist kein „Auteur“, war die Antwort. Genau dies wollte Truffaut mit seinem Buch widerlegen. Hitchcocks katholisches Schuldverständnis, seine sadistischen und masochistischen Vorstellungen, all seine Obsessionen und Triebe sind für jeden erkennbar in jedem seiner Filme zu finden. Man muss nur genau hinschauen. Das er nebenbei auch noch ein geradezu genialer Innovator war, der die damals strengen Regeln des Films immer brutaler aufbrach weiß heute jeder zu berichten, ist aber in aller Ausführlichkeit zum ersten Mal in Truffauts Werk deutlich gemacht worden. Das bedeutendste Element des Buches ist aber wohl, dass es hier zwei absolute Experten geschafft haben ihre Ideen und Theorien in vollkommen verständlicher Weise, auch für den filmisch weitgehend unbelesenen Leser nachvollziehbar zu machen.
Was also bietet dieser Film, was das Buch nicht liefern würde? Nun das für mich Interessanteste war wohl einige der Aussagen Hitchcocks in seinem getragenen Duktus im Original, direkt von den Aufnahmen des tagelangen Interviews zu hören, unterlegt mit einer ganzen Reihe von Fotos, die während der Aufnahmen entstanden sind. Nebenbei hat der Film natürlich den Vorteil Erklärungen zu Szenen direkt mit den Szenen aus den jeweiligen Filmen unterlegen zu können anstatt mit Fotos arbeiten zu müssen. Andererseits kann der Film natürlich nur eine Handvoll der wichtigsten Filme abdecken. ‚Vertigo‘ und ‚Psycho‘ wird dabei der weitaus größte Raum gewährt. Dazu kommen dann noch die standardmäßigen „Talking Heads“ Interviews, wo man, neben den üblichen Verdächtigen für jede filmhistorische Doku (Martin Scorcese, Peter Bogdanovich, David Fincher) auch selten gesehenere Gäste findet, wie Olivier Assayas, Richard Linklater oder Kiyoshi Kurosawa. Dabei kommt, abseits des natürlich allgemeinen Respekts, der dem Altmeister gezollt wird teilweise wenig überraschendes (Wes Anderson ist von Hitchcocks minutiöser Planung angetan, wer hätt’s gedacht?) aber oftmals auch durchaus Spannendes zum Vorschein. Zum Beispiel, wie schwierig es in den 70ern war gewisse Hitchcock Filme zu sehen oder wie viel Anstrengung es viele Regisseure kostet Hitchcock nicht 1:1 zu zitieren. Spannend sind auch definitiv die Sequenzen, die das Augenmerk mehr auf Truffaut richten. Der hatte unter einem extrem strengen Vater zu leiden („Ich habe meine Kindheit als eine Zeit erlebt, die keine Fehler erlaubt“) und fühlte sich als Erwachsener oft zu älteren Künstlern hingezogen, wie Renoir, Rosselini oder eben schlussendlich Hitchcock. Eine Suche nach einer neuen Vaterfigur? Besonders spannend ist hier eine O-Ton Szene in der sich Hitchcock minutiös eine Szene aus ‚Sie küßten und sie schlugen ihn‘ schildern lässt und diese kritisiert. Daneben ist es sehr schön und vor allem sehr menschlich zu hören, wie viel Spaß die beiden Männer aber auch Übersetzerin Helen Scott bei dem Interview hatten, aus dem sich eine lebenslange Freundschaft zwischen den beiden Filmemachern entwickelte, die sogar soweit ging, dass sie sich ihre unfertigen Drehbücher gegenseitig schickten. So war es denn auch für Truffaut eine Herzensangelegenheit, nach dem Tode Hitchcocks 1980 eine erweiterte Version seines Buches zu veröffentlichen, die das Gesamtwerk des Meisters abdeckte. Es sollte ihm gelingen, bevor er 1984, mit nur 52 Jahren viel zu früh, verstarb.
Die größte Leistung, die der Film erbringt ist sicherlich die, dass er eine sehr große Lust auf das Buch macht. Andererseits weiß jemand, der mit dem Film überhaupt nichts anfangen konnte hinterher sicher, dass das Buch ebenfalls nicht überzeugen wird. Er ist zum Teil Verfilmung, zum Teil Hommage an das Buch, zum Teil aber auch ein eigener Zugang von Regisseur Kent Jones zu zwei Großen des Kinos des 20ten Jahrhunderts. Er kann (Und will!) das Buch nicht ersetzen, funktioniert aber als durchaus gelungene Ergänzung.
Erstaunlicherweise gibt es bisher keine deutsche Version der Dokumentation, die britische DVD kommt allerdings mit gutem Bild, 60 Minuten Bonus-Interviews und recht günstig daher (die UK-Bluray hingegen ist geradezu albern teuer).
Pingback: Mehr Filme, die niemals waren – weitere gescheiterte Projekte | filmlichtung