Lasst uns über Filme klönen: Knarren und Gewalt im Film

Ich habe eine Theorie. Die Schusswaffe ist tief und unauslöschlich in der DNA des Mediums Film codiert. Für das Hollywood-Kino gilt das fraglos. 1903 ließ Regisseur Edwin S. Porter seinen Film ‚Der große Eisenbahnraub‘ mit dieser Szene enden:

Dies geschah kaum sieben Jahre nachdem die Brüder Lumière mit ‚Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat‘ ihr Publikum zwar wohl nicht, wie die Legende es will, in Panik versetzt aber doch zumindest beunruhigt haben. Porter wollte bei seinem Publikum also fraglos eine viszerale Reaktion herausfordern. Der Film wurde zu einem der erfolgreichsten, frühen, amerikanischen Filme. Wurde zu einem Vorbild für spätere „Blockbuster“-Macher, wie D. W. Griffith. Und während Europa im Ersten Weltkrieg damit beschäftigt war sich mit echten Waffen gegenseitig umzubringen, übernahmen die bis dahin eher unbedeutenden USA die Führungsrolle im Filmgeschäft. Und mit den USA trat auch die Leinwand-Version der Schusswaffe ihren weltweiten Siegeszug an. Sei es das blutige Hong Kong Ballett eines John Woo, in dem die Choreographie von Mündungsfeuer und spritzenden Körperflüssigkeiten unterstützt wird. Oder die Western-Opern eines Sergio Leone, wo die wortlosen Libretti aus stahlblauen Augen gestarrt werden, unterbrochen nur vom stets tödlichen Bellen der Revolver. Die Schusswaffe ist kein amerikanisches Phänomen mehr. Sie ist eingebacken in die grundlegende Symbolik des Kinos. Die USA waren nur ihr chromosomaler Adam.

Wir als erfahrene Kino-Zuschauer verstehen eine Schusswaffe instinktiv. Wenn sich zwei bewaffnete Charaktere unterhalten steht direkt eine Menge mehr auf dem Spiel, als wenn sie unbewaffnet wären. Eine stumme Androhung von Gewalt haftet jedem ihrer Worte an. Ist nur ein Charakter bewaffnet, der andere aber nicht erhält der Bewaffnete direkt eine Dominanz über die Szene. Alles was er tut ist bedrohlich und gefährlich, jedes Widersetzen des Unbewaffneten wird heldenhaft oder unsagbar dreist, je nachdem wie unsere Sympathien verteilt sind. Ist ein Charakter bewaffnet und der andere weiß nichts davon, erhält die Szene gar direkt hitchcockschen „Suspense“. Der ahnungslose Unbewaffnete plaudert unbeschwert vor sich hin, während wir als Zuschauer wissen welches grausame Schicksal ihm droht, sollte er das Falsche sagen. Unsere Hintern nähern sich unweigerlich der Kante des Sessels.

Die Schusswaffe kann einen Charakter unterstreichen, James Bond ist im Umgang mit seiner kleinen, formschönen Walther PPK ebenso elegant, wie wenn er Martinis schlürft oder mit schönen Frauen flirtet. Dirty Harry Callahans langläufiger Colt Magnum symbolisiert die Linie, die ein Mann zieht, der vom System erschöpft ist, eine Linie, die sagt „bis hierhin und nicht weiter“, die sich nicht mehr um Bürokratie oder ethische Richtlinien schert.

Schusswaffen können einen ganzen Film prägen, wie die mörderischen Tanzszenen eines ‚John Wick‘ oder die gesamte Filmogaphie Arnold Schwarzeneggers mitsamt seiner tausenden, augenrollwürdigen aber, nicht zuletzt ob seines steirischen Akzents, unvergesslichen Oneliner.

Andererseits können sie auch eine einzelne Szene deutlich herausheben. Das monströse Brüllen der Schnellfeuergewehre in Michael Manns ansonsten recht stillen Thriller ‚Heat‘, brennt die Bankraub-Szene unauslöschlich im Gedächtnis des Zuschauers ein. Travis Bickle aus ‚Taxi Driver‘, der, nach der tödlichen Schießerei im Bordell, blutverschmiert auf dem Sofa sitzt und versucht sich mit einer nun vollends imaginären Waffe in den Kopf zu schießen, ist ein Bild das jedem Zuschauer erhalten bleiben wird.

Schusswaffen und Gewalt sind also oftmals ganz zentrale ästhetische und inhaltliche Elemente des Films, die zumindest ich – da bin ich mal ganz ehrlich – auch nicht völlig missen möchte. An dieser Stelle stellt sich dann aber ein gewisses moralisches Problem. Der „Hauptlieferant“ an cineastischer Schusswaffengewalt ist nach wie vor Hollywood. Also die USA, ein Land, dass jährlich durchschnittlich 33.000 Tode durch den Einsatz von Schusswaffen1 zu beklagen hat. Nirgendwo auf der Welt sonst sind es so viele, doch nimmt die Zahl der „Amokläufe“ ja auch hier in Deutschland zu. Kann sich ein gewaltdurchtränktes Medium, wie der Film hier jeglicher Verantwortung entziehen? Es gibt zahlreiche Studien2, die belegen, dass es das nicht wirklich kann. Auch wenn in den letzten Jahren vermehrt Computerspiele die Rolle des direkten Sündenbocks bei schweren, jugendlichen Gewalttaten übernehmen mussten, kann sich der Film hier doch nicht gänzlich entziehen. Die schwarzen Trenchcoats der Columbine-Mörder Harris und Klebold haben fraglos zahllose filmische Vorbilder und Seung-Hui Cho, der Amokläufer an der Virginia Tech, soll sich selbst in filmischen Posen abgelichtet haben3.

Eine einfache und logische Zuflucht bieten hier die Argumente von Autor und Regisseur Quentin Tarantino. Tarantino sieht sich seit Beginn seiner Karriere mit dem Vorwurf der Gewaltverherrlichung konfrontiert und ist diesen Vorwurf leid4. Die Gewalt in seinen Filmen, komme vom selben Ort, wie der Tanz in Stanley Donens Filmen. Von einem Ort der Kreativität. Die einzige Verantwortung, die Tarantino als Regisseur trage ist die seine Charaktere so glaubhaft wie möglich zu machen. Reale Gewalt sei eines der größten Probleme der USA, die Verantwortung trügen aber  mangelnde Versorgung psychischer Probleme und das Fehlen starker Waffenkontrollgesetzgebung.

Dem würde ich mich weitgehend anschließen. Allerdings ist es vermutlich kein Zufall, dass Wes Craven einem seiner Mörder in ‚Scream‘ eine gröbere, verballhornte Version von Tarantinos Worten in den Mund legt: „Now Sid, don’t you blame the movies. Movies don’t create psychos. Movies make psychos more creative!“ Es mag anhand seiner Filmographie überraschen aber Craven war stets ein großer Kritiker an Gewalt im Film5. Er war der Meinung Gewalt müsse – wenn sie denn gezeigt wird – in all ihrer Hässlichkeit und mit all ihren Folgen präsentiert werden.

Mal ganz abgesehen davon, ob Craven diesem Anspruch selbst immer (oder überhaupt) gerecht geworden ist, rührt er doch an die Crux der filmischen Gewalt. 1983 drehte Brian dePalma ‚Scarface‘, das Remake eines Gangsterfilms von 1932. Al Pacino spielt einen brutalen, rücksichtslosen kubanischen Gangster. Quasi eine Personifizierung des nackten Raubtierkapitalismus der 80er Jahre. Beim Publikum blieb vor allem die überzogene Gewalt des Charakters hängen, seine coolen Oneliner („Say hello to my lil friend!“) und Jugendliche aus unterprivilegierter Herkunft sahen im gnadenlosen, profitorientierten Tony Montana gar ein Vorbild. 1993 drehte Brian dePalma ‚Carlito’s Way‘. Al Pacino spielt einen Gangster, frisch aus dem Knast, der sein Leben aus Verbrechen und Gewalt hinter sich lassen möchte. Es soll ihm, allen Versuchen zum Trotz, nicht gelingen. Niemand sieht in Carlito ein Vorbild. Carlito ist anders als Tony Montana aus ‚Scarface‘ beinahe vergessen. Die adrenalingeschwängerte Gewalt eines ‚Scarface‘ ist so viel cinematischer, als es der reflexive Umgang mit einem Leben voll Gewalt in ‚Carlito’s Way‘ je sein könnte. Was das Publikum im Film möchte ist der Moment, wenn der Eisenbahnräuber das Feuer eröffnet, der Held aber schneller ist und den Räuber erschießt. Wir wollen nicht sehen, wie es der Familie des Räubers hinterher ergeht, wie der Held seine Tat gegenüber sich selbst rechtfertigt. Der Moment der Gewalt, der Adrenalinstoß, der Moment des selbstgerechten Zorns, der in direkte Strafe übergeht. Das ist das überzogene Gefühl, das überzogene Geschehen, das wir überlebensgroß auf der Leinwand sehen wollen. Die Folgen dieser Gewalt sind hässlich, schwierig und natürlich schmerzhaft und werden daher ausgeblendet, würden sie doch den triumphalen Moment verderben.

Damit will ich natürlich nicht sagen, dass es keine guten Filme über die Folgen von Gewalt geben kann. Ganz im Gegenteil, viele Filme die sich dieses Themas annehmen sind ganz hervorragend. ‚Carlito’s Way‘ ist meiner Meinung nach besser als ‚Scarface‘ wird aber aufgrund der Thematik nie dessen Erfolg haben. ‚We need to talk about Kevin‘ ist eine reine Auseinandersetzung mit den Folgen von Gewalt. Geschickt unterläuft Lynne Ramsay sogar in der minimalen Darstellung der Gewalt selbst noch unsere Erwartungen, wenn Kevin sein Massaker nicht mit einer herkömmlichen Schusswaffe sondern mit Pfeil und Bogen anrichtet. ‚We need to talk about Kevin‘ ist zwar ein großartiger Film aber war sicherlich kein Kassenerfolg. Dieses Muster ließe sich wahrscheinlich endlos fortsetzen, schlicht weil eine realistische Auseinandersetzung mit Gewalt schwer erträglich ist.

Ich bin also schon mal nicht allein mit meiner Akzeptanz von Gewalt im Film, sie ist ein Kassenerfolgsrezept. Doch woran liegt es, dass ich nicht mehr Ablehnung zeige? Liegt es vielleicht an meiner wohlbehüteten, mitteleuropäischen Herkunft, dass mich die Darstellung schwerer Gewalt nicht mehr abschreckt? Ein in der Autotür eingeklemmter Finger, ein Fußball in die… Leisten, ein Schlag auf die Nase oder auch ein gebrochenes Bein, das sind Dinge, die ich nachfühlen kann. Der Gebrauch einer Schusswaffe ist für mich so irreal, wie der Gebrauch von Captain Americas Bumerang-Schild. Aber das ist es auch nicht wirklich, denn, wenn in den Nachrichten Bilder von realen Gräueln gezeigt werden, die ich selbst nie erlebt habe und hoffentlich nie erleben werde, dann schockiert mich das und trifft mich. Alle Filmgewalt hat mich nicht im Geringsten dagegen abstumpfen lassen. Meine Empathie ist intakt.

Aber wahrscheinlich  ist das wohl das ganze Geheimnis: die Fähigkeit zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können. Damit will ich nicht sagen, dass mich Filme nicht berühren, natürlich tun sie das, sonst würde ich sie ja nicht schauen. Jeder Film ist so eine Art Vertrag mit den Machern: für die Laufzeit erkenne ich das, was ihr mir zeigt als wahrhaftig an. Wenn ihr keine großen Dummheiten begeht oder die Prämisse in sich nicht zu absurd ist, akzeptiere ich es und lasse mich darauf ein. Für die Laufzeit von ‚Der Exorzist‘ akzeptiere ich, dass es einen Teufel gibt, der von kleinen Mädchen Besitz ergreift und von der katholischen Idee Gottes besiegt werden kann. Außerhalb des Films akzeptiere ich das keinesfalls. Nun mache ich mir natürlich nicht vor, dass Filme keinerlei psychologische Wirkung auf mich haben. Wenn dem so wäre, wären Propaganda und Werbung ja nutzlos. Allerdings traue ich mir zu die Ideen eines Films hinterher anhand meines eigenen Weltbildes abzuklopfen und Gutes vom Schlechten unterscheiden zu können. Das traue ich auch den meisten anderen Menschen zu. Und ich glaube diejenigen, die das nicht können, würden mit oder ohne Filmen zum Problem. Ich hoffe für sie, dass sie die Hilfe bekommen, die sie brauchen und hoffe für alle anderen, dass sie keinen Zugriff auf Waffen haben. Eine waffenlose Gesellschaft ist mir tausendmal lieber und wichtiger als ein waffenloses Kino. Am Ende lande ich also doch gänzlich in Herrn Tarantinos Ecke, obwohl ich Cravens Ideen zur „ehrlichen“ Darstellung von Gewalt respektiere und anerkenne. Ich kann zumindest für mich persönlich aus über 30 Jahren persönlicher Erfahrung sagen, dass das Schlimmste, was von mir nach einem Actionfilm droht das hier ist:

Wie steht ihr zu Gewalt im Film? Ist das etwas, worüber ihr Euch manchmal Gedanken macht? Schaut ihr vielleicht gar keine gewalttätigen Filme? Zieht ihr irgendwo eine Grenze? Bitte erzählt es mir in den Kommentaren!

Anmerkungen in eigener Sache:

  1. der obige Text bezieht sich vor allem auf Action/Thriller etc. Für Horror- und (Anti)Kriegsfilme gibt es genug eigene Aspekte, die gesonderte Ausführung benötigen würden

2.normalerweise richte ich zukünftige Artikel nicht sooo sehr nach dem Erfolg vorangegangener. Hier steht der Aspekt des Dialogs aber schon im Titel, solltet ihr also nix dazu kommentieren, würde ich auf weitere solcher Beiträge verzichten.
Oder anners: Das soll hier n Schnack wern. Dafür brauch das mehr wie ein Klappskalli. Also secht da mol watt to, sons is allwedder daddeldu mitn Klönschnack!

1 https://fivethirtyeight.com/features/gun-deaths/

2 https://www.research.vt.edu/resmag/sciencecol/media_violence.html

3 http://www.nytimes.com/2007/04/23/movies/23movi.html?_r=1&ref=world&oref=slogin

4 https://www.theatlantic.com/entertainment/archive/2013/01/quentin-tarantino-violence-quotes/319586/

5 http://cinefantastiqueonline.com/2009/03/supernal-dreams-wes-craven-on-glorifying-violence-in-last-house-on-the-left/

33 Gedanken zu “Lasst uns über Filme klönen: Knarren und Gewalt im Film

  1. Sehr schöner Bericht und hoffentlich der Start einer Beitragsreihe! Gewalt in Filmen ist für mich nicht der Grund einen Film zu sehen, im Umkehrschluss allerdings ein Grund einen Film nicht zu schauen! Du hast Tarantino ja bereits genannt. Seine Filme zeigen oft harte Gewalt, stellen diese allerdings in einen Context, der einen jederzeit klar macht, warum ein Charakter zu diesem Mittel greift. Es gibt allerdings auch Filme, die zeigen die Gewalt einfach der Gewalt wegen. Ich weiß gerade spontan keinen Titel, aber wenn ein Film z.B. hingeht und zeigt wie jemand erschossen wird und dann die Täter aus Spaß das Opfer noch überfahren, dann ist dies eine Art von Gewalt, die einfach nur auf die Gewalt abzielt ohne Sinn und Verstand. Und nein, hier meine ich nicht überdrehte Filme wie Crank, die noch einmal eine andere Ebene bedienen, denn hier wird ja vieles bereits so überspitzt dargestellt, dass auch wieder klar ist, dass es nicht komplett ernst gemeint ist. Hier wird Realfilmgewalt auf eine comichafte Ebene gehoben, wo es z.B. ja auch okay ist, dass der Coyote ständig vom Road Runner eins übergezogen bekommt.

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    • Danke für Deinen ausführlichen Kommentar! Du hast schon recht, Gewalt allein ist sicher nichts, was mich in einen Film locken kann. Allerdings würde ich lügen, wenn ich sage, dass mir ein Film wie ‚The Raid‘ nicht gefällt. Der 10 Minuten dafür aufwendet um einen minimalen Kontext zu schaffen und dann 90 Minuten lang Geballer, gehäcksel und Gekloppe bietet. Hier ist es dann aber auch wieder die Choreographie, die den Film sehenswert macht. Tarantinos Vergleich zum Tanzfilm war da schon ganz treffend. Und ja, Gewalt kann etwas sein, was bei mir dafür sorgt, dass ich einen Film nicht sehen möchte. Mit diesem ganzen Foltermist der zweiten Hälfte der 2000er konnte ich überhaupt nichts anfangen (den ersten Saw nehme ich hier mal aus).
      An Dick und Doof oder Looney Tunes hatte ich auch noch gedacht aber ich glaube der Text war auch so schon lang genug. 😉

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      • Weil du letztere ins Feld führst, passt mein zunächst unterdrückter Gedanke ja jetzt doch noch 🙂
        Die Frage nach der pädagogischen Verantwortung im Umgang mit Gewalt in Filmen oder Serien ist ja bekanntlich so alt wie… nun ja… du. Wenn nicht sogar NOCH älter.
        Ich bin der Meinung, dass ein „normal“ entwickeltes Kind sehr wohl in der Lage ist zwischen der realen Welt und „Tom und Jerry“ zu unterscheiden. Zwischen der realen Welt und „Jurassic Park“ nicht unbedingt. Und zwischen der realen Welt und „The Raid“ auf gar keinen Fall. Jede Gewalt aber aus FIlm und Fernsehen (auch für Kinder) zu verbannen halte ich aber für falsch.

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      • „The Raid“ stellt die Gewalt aber auch wieder in einen anderen Kontext und ist hat nicht auf diese Torture Porn Geschichte aus. Es kommt ja auch nicht von ungefähr, dass man von Martial Arts oder in deutsch von Kampfkunst spricht.

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        • Ja klar, er setzt einen sehr basischen „Räuber und Gendarm“ Kontext, der letztlich nur dazu dient die Choreographie, die Kampfkunst zu präsentieren. Und genau das funktioniert. Raid 2 arbeitet mit einer deutlich komplexeren Geschichte, was den Film mMn aber nicht besser macht.

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  2. Pingback: Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (10-04-17)

  3. Ich weiß zwar nicht was „klönen“ bedeuten soll, aber ich werde jetzt einfach mal meinen Senf zum Gelesenen abgeben. Ich glaube irgendwo in deinem gleichermaßen interessanten wie langen Artikel ist der wichtigste Satz bei der ganzen Diskussion versteckt. „Die Fähigkeit zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können.“ Na gut, das alleine ist jetzt kein vollständiger Satz. Aber das ist es worauf es ankommt. Ich persönlich kann „Torture Porn“ oder Exploitationfilme nichts abgewinnen, da hier hier Gewalt einfach nur ihrerselbst wegen dargestellt wird. Auch wenn mein Magen das ganz gut verträgt, muss ich das nicht unbedingt sehen. Insofern distanziere ich mich auch etwas von Cravens These. Auch wenn er das natürlich anders gemeint hat.

    Ich habe mich selbst schon oft gefragt, wann eine gewalthaltige Szene angemessen auf mich wirkt und wann man eher genervt die Augen rollt oder den Kopf schüttelt. Doch bis jetzt habe ich noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden. Die Szene in der Michael Madsen in „Reservoir Dogs“ dem Polizisten das Ohr abschneidet fand ich zum Beispiel genial. Oder auch die Kichenszene in „Kingsman“, in der der sonst so elegante Colin Firth ein Massaker seinesgleichen anrichtet ist mir sehr positiv in Erinnerung geblieben.

    Für viele ist „Saw“ (und die darauf folgende Reihe) eines der Beispiele, das immer wieder genannt wird wenn es darum geht Filme zu nennen, in denen übermäßig viel Gewalt gezeigt wird. Ich finde dass zumindest im ersten Teil die Gewalt hier ein Teil des Films ist, der wichtig ist aber nicht das alleinige Merkmal darstellt.

    Passend zu Ostern würde mir noch Mel Gibsons „The Passion of the Christ“ einfallen. Als nicht sonderlich religiöser Mensch frage ich mir hier hingegen schon, ob es wirklich einen Film braucht um zeigen, dass Jesus letzte Stunden nicht gerade angenehm waren.

    Ganz im Sinne Cravens finde ich Gewalt dann auch in Kriegsfilmen leider wichtig. Ich mag das Genre nicht sonderlich. Aber wenn man schon Filme darüber dreht, dann doch bitte so, dass der Zuschauer miterlebt (oder besser einen Einblick bekommt) wie schlimm die Gefechte für alle Beteiligten sind. Kriegsfilme, in denen Amis ihre Gegner abknallen wie Tontauben, halte ich hingegen für unangemessen und sinnlos.

    Übrigens habe ich für mich festgestellt, dass ich viel empfindlicher auf Vergewaltigungsszenen reagiere, als beispielsweise auf Folter oder Mord.

    Interessanter Artikel. Gerne mehr! 🙂

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    • Wow, vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Klönen ist norddeutsch und quasi bedeutungsgleich mit Schnacken. Ich wollte es Filmschnack nennen, habe dann gesehen, dass es mehrere Formate gibt die schon so heißen. Dann wollte ich es ganz hamburgisch Filmsnack nennen, dann hätte ich aber jedem erklären müssen, dass es nicht um Popcorn geht. Also klönen wir jetzt über Filme. 😉

      Du triffst da genau einen wichtigen Punkt: es ist wahnsinnig schwer zu sagen, bis wohin eine Gewaltszene noch funktioniert und wann es zum Augenrollen oder gar zum aktiven Abschalten abgleitet. In Bone Tomahawk war eine Szene, die ich absolut furchtbar, grausam und schwer erträglich fand. Für mich funktionierte sie, im Kontext des Films, allerdings ganz hervorragend – auch wenn ich kurz wegsehen musste. Wäre die allerdings in einem schwächeren, exploitativeren Film gewesen hätte sie mich vermutlich sogar ernsthaft sauer gemacht. Bei den Folterfilmen bin ich ganz bei Dir, ebnfalls was den ersten Saw angeht. Horror hat zwar sicherlich eigene „Regeln“ und muss vielleicht mit seiner Gewalt sogar immer etwas überziehen, um einen Effekt zu erzielen. Wobei das perfekte Gegenbeispiel der originale ‚Texas Chainsaw Massacre‘ ist, aus dem man mit dem Gefühl herauskommt absolute, degenerierte Grausamkeit gesehen zu haben und ein Bad nehemen zu müssen nur um die Seele wieder sauber zu kriegen, wenn man ihn dann wieder schaut allerdings merkt, dass das meiste von der absolut bedrückenden Atmosphäre kommt und im Kopf entsteht. Ist also auch nicht ganz einfach einzuordnen.
      Kriegsfilme sind auch ihr eigenes Ding. Truffaut hat ja glaube ich gesagt ein eichter Antikriegsfilm sei unmöglich, weil Film, aufgrund seiner Energie ein Gefecht immer ein bisschen nach Abenteuer aussehen ließe. Ich weiß nicht, ob ich ihm da voll zustimme, ich würde allerdings, wenn ich einen Antikriegsfilm drehen wollte einen zivilen Protagonisten benutzen. Jemand der keinerlei Kontrolle über das hat, was um ihn herum geschieht. Das könnte allerdings recht schwer anschaubar werden.

      Passion of the Christ ist…. merkwürdig. Man mag von ihm halten, was man will aber Mel Gibson kann hochenergetisch erzählen. Seine Filme bewegen sich immer so schnell vorwärts, dass keine Langeweile aufkommen kann. Dann dreht er sein Herzensprojekt und es ist… der Heiland in Marinara Soße 2 Stunden lang. Das Problem ist hier wirklich nicht die Gewalt, sondern ein gigantisches „Wozu?“

      Und ja, Vergewaltigungsszenen sind sehr schwer erträglich. Ich hoffe ich bekomme nochmal Gelegenheit mich bei Gaspar Noe für *diese* 15 Minuten(!) von ‚Irreversibel‘ zu „bedanken“. Das ist mal ein Film, den ich ernsthaft übel nehme.

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  4. Super Artikel! Ich finde, Gewalt als Kunstform, wie zum Beispiel in Kill Bill hat durchaus seine Berechtigung, das das Kino eben kein Ort der Realität ist. Allerdings muss sich gerade Quentin Tarantino diese Vorwürfe gefallen lassen, denn nicht immer ist Gewalt bei ihm zweckmäßig. Dazu kommt, dass die filmische Aufbereitung von Gut und Böse immer noch mehr Aufklärung schafft, als es in anderen Medien vielleicht der Fall ist. Schusswaffen sind lediglich ein Mittel/ Objekt diese klar darzustellen. Ob es sie immer braucht? Es erinnert mich an die Debatte zum Rauchen in Kinofilmen. Braucht man auch nicht, aber es dient sehr wohl der Atmosphäre und in Filmen sollte ganz generell Zensur vermieden werden. Zuschauern oder Betrachtern das eigene Denken abzunehmen kann nicht der Weg sein.

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    • Dankeschön und danke für den Kommentar! Genau diese Symbolik von Schusswaffen meinte ich in meinem Artikel. Wenn unser Protagonist, bevor er zu einem Treffen geht den Ballermann einpackt wissen wir „da steht viel auf dem Spiel“. Eine sinnvolle Abkürzung für den Filmemacher.
      Und Tarantino verdient durchaus einiges von der Kritik gegen ihn, wobei bei ihm ohnehin alles so ironisch gebrochen oder reine Hommage ist, das die Gewalt einen Gutteil ihrer Wirkung verliert. Wie gesagt, auch Craven wurde seinem eigen Anspruch (mMn) überhaupt nicht gerecht. Ich fand es nur zwei interesante, gegenläufige Thesen von tatsächlich Filmschaffenden, statt reinen Theoretikern.

      Und immer braucht es Schusswaffen auf gar keinen Fall! Bei einer Darstellung von z.B. häuslicher Gewalt könnte es unsinnig und überzogen wirken eine Schusswaffe einzuführen und könnte sogar aus der Szene reissen (außer, wenn sich das Opfer zur Gegenwehr entschließt, da würde sie wieder als Symbol funktionieren).

      Über den „schönen“, deutschen Index der BPjM und dessen Verhältnis zu „eine Zensur findet nicht statt“ würde ich auch gerne nochmal mehr schreiben…

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      • Zensur: Sicherlich spannend, aber bestimmt auch schwierig, nicht trocken aufzuarbeiten.
        Zur Schusswaffe bei häuslichen Gewaltszenen bin ich zwiegespalten. Sie kann der Dramaturgie einiges hinzufügen, indem sie zum Beispiel nur da liegt. Bei Der Gott des Gemetzels zum Beispiel habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass eine eingeblendet wird. Aber Polanski weiß es besser und war auch nicht darauf angewiesen. Somit ist eine Waffe vielleicht auch ein Armutszeugnis, weil man es nicht besser kann.

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  5. Schöner Artikel zu einem spannenden Thema. Ich finde es immer schwierig, bei dieser Diskussion möglichst objektiv zu bleiben. Denn während man natürlich dazu neigt, gewaltverherrlichende Filme abzulehnen, findet man sich anschließend schnell in Erklärungsnöten, warum die eigenen Lieblingsfilme gerade nicht in diese Kategorie fallen.

    Doch was bedeutet eigentlich Gewaltverherrlichung? Grundsätzlich meiner Meinung nach vor allem, dass die Zurschaustellung von Gewalt beim Zuschauer positive Emotionen auslösen soll. Horrorfilme fallen häufig gerade nicht in dieses Lager. Denn auch wenn sie zu expliziter Gewaltdarstellung neigen, gehört es zu den Regeln des Genres, die Opferperspektive einzunehmen. Gewalt wird so zu etwas, vor dem man Angst hat, zumindest bis zu dem Punkt, an dem das Opfer sich zur Wehr setzt.

    Positiv konnotierte Gewalt findet sich also eher im Action-Genre. Wie du richtig anmerkst, ist es vor allem die Folgenlosigkeit, die Filmgewalt so attraktiv macht. In FSK12-Comic-Verfilmungen führt die Gewalteinwirkung nicht einmal zu sichtbaren Verletzungen, geschweige denn zu Leid bei Opfern und Angehörigen. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man also argumentieren, dass die FSK genau falsch herum bewertet. Gerade diese Filme können für junge Zuschauer desorientierend wirken. Groß ist dann der Schrecken, wenn eine Gewaltanwendung in der Wirklichkeit ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht.

    Doch warum machen die Filmemacher das nun eigentlich und warum sehen wir es uns an? Das Mainstream-Kino hat viel mir Befriedigung von Bedürfnissen zu tun. Besonders von solchen, die in der Wirklichkeit beim Publikum unbefriedigt bleiben. Gewaltausübung bedeutet Macht. Wenn Django stellvertretend für die Zuschauer zig Bösewichte mit seinem MG niedermäht, verwirklicht er den Traum des Publikums von beinahe unendlicher Machtausübung. Die Darstellung, welche Folgen solch ein Vorgehen in Wirklichkeit hätte, hat in diesem Tagtraum keinen Platz.

    Doch worauf will ich eigentlich hinaus? 🙂 Ja, Waffengewalt gehört zum Kino genauso wie Liebesgeschichten und der Aufbruch in fremde Welten. Vernünftig ist das eigentlich nicht. Aber genau so wie der Besuch bei McDonald’s oder das vierte Bier am Samstagabend kann eben nicht alles, was wir so tun, immer nur vernünftig sein.

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    • Das, was Du da bei den Comic Verfilmungen erwähnst ist, glaube ich, auch noch ein sehr wichtiger Punkt. in jedem 2ten Superheldenfilm wird halb New York (oder eine Stadt, die wie New York wirken soll) zerstört. Da fallen Wolkenkratzer um wie Dominos. Nicht nur, das hier das alte Stalin Zitat (1 Toter ist eine Tragödie, 1 Million Tote eine Statistik) greift, es kommt auch aus realer Erfahrung zu einem Entfremdungseffekt. Wir alle haben ja 2001 gesehen, wie sehr „nur“ die Zerstörung des World Trade Centers die ganze Welt verändert hat. Die ganze Gesellschaft des Marvel-Universums wäre eine andere, vermutlich ziemlich gruselige.

      Deshalb funktioniert Deadpool auch für mich, trotz „lustiger“ Gewaltdarstellung besser, als viele die sich ernster nehmen. Der Bösewicht hat ihn, speziell ihn und andere die er mochte verletzt. Das ist eine viel direktere und, obwohl weniger Epik auf der Leinwand geschieht, cinematischere Motivation. Logan hab ich (noch) nicht gesehn, soll das dann aber ja zur Perfektion führen.

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  6. Spannender Beitrag, gerne mehr davon!

    Ich störe mich nicht grundsätzlich an Gewalt in Filmen, auch wenn sie oft verherrlicht wird. Ich meine, Gewalt im Film richtig einordnen zu können und schaue mir keine Filme an, die mir zu brutal wären. Gerade Torturefilme finde ich schwer zu ertragen und schaue sie mir entsprechend nicht an. Im Kriegsfilm ist die Gewalt natürlich auch kein Zuckerschlecken, gehört aber zu der abschreckenden Erfahrung dazu und macht immer wieder deutlich, wie verrückt Kriege doch sind. Wann lernen wir das endlich?

    Als Medienwissenschaftler beschäftige ich mich immer wieder mit dem Thema Medienwirkung, möchte hier nicht zu sehr ausholen, aber kurz erwähnen, wie komplex das Thema ist.

    Waffen sind nicht nur aus Filmen kaum wegzudenken, sondern auch in interaktiver Unterhaltung erschreckend häufig präsent.
    Die gute alte Frage, inwieweit uns Gewalt in Medien beeinflusst, wird besonders intensiv diskutiert, wenn ein neuer Grad an Gewalt erreicht wird oder ein Medium noch relativ jung ist und erstmal unter Generalverdacht steht. Jüngstes Medium sind Computerspiele und insbesondere im Kontext von Virtual Reality wird uns diese Diskussion sicher noch häufig begegnen. Ab wann wird Gewalt in Film und Spiel problematisch? Ist das Verharmlosen von Gewalt nicht auch problematisch? Und was ist mit dem sogenannten Katharsiseffekt, demzufolge wir Konsumenten Gewaltbereitschaft durch das Konsumieren verringern? Wie so oft, sind diese Fragen nicht allgemeingültig zu beantworten: der Einfluss von Mediengewalt auf den Konsumenten hängt maßgeblich vom Rezipienten, dessen Umfeld und dem Medieninhalt ab. Entscheidend ist also nicht nur, ob Gewalt konsumiert wird, sondern, wie Gewalt dargestellt wird, und wie sie wahrgenommen wird. Viele Faktoren beeinflussen also die Wirkung.

    Die Faszination, die von Gewalt ausgeht, ist nicht zu leugnen. Gewalt wird mit Macht assoziiert, nach der wir Menschen uns anscheinend immer wieder sehnen. Wird Gewalt darüberhinaus noch als gerechtfertigt dargestellt, fällt uns der Konsum umso leichter. Zum Beispiel, wenn eine Bedrohung zerschlagen werden soll, Superhelden die Welt retten, das Böse besiegt werden muss.

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    • Hallo Herr Spieleforscher! Erstmal entschuldige bitte die späte Antwort! Dein Kommentar (und nicht nur Deiner) war in meinem Spam Ordner gelandet, wo bisher tatsächlich nichts ausser Spam gelandet ist. Frag mich nicht warum!

      Zum Thema Kriegsfilm siehe auch meine Antwort an Ma-Go. Ich bin mir, wie Truffaut, nicht sicher, dass ein echter Antikriegsfilm, zumindest wenn er er aus Sicht eines Soldaten gezeigt wird, wirklich möglich ist. Die Dynamik des Films sorgt immer dafür, dass ein gewisses Abenteuergefühl bestehen bleibt. Ein Regiseur hat mal gesagt für einen echten Kriegsfilm müsste man gelegentlich mit einem Maschinengewehr ins Publikum schiessen. Rabiat aber wohl der Weg zu einem echten Anti-Kriegsfilm.

      Ich hatte gehofft, dass Du Computerspiele einbringst! Gerade im beliebten Genre des First Person Shooters ist die Schusswaffe ja der oftmals einzige Weg, um mit der Spielwelt zu kommunizieren. Was Du siehst muss (und kann nur) zerstört werden. Sie nimmt so einen noch viel zentraleren Punkt ein, als im Film. Aber Spiele drückten ja auch schon vor dem Computer Gewalt aus. Schach ist ein Kriegsspiel, im Mensch-ärgere-Dich-nicht ist das Schönste den anderen mit großer Geste rauszuschmeissen, Monopoly behandelt die kapitalistische Vernichtung des Gegners und Fußball ist aus nach und nach reglementierten Kloppereien zwischen Nachbardörfern entstanden. Gewalt gehört offenbar zum Spielerischen.

      Die Faszination der Gewalt ist, denke ich, nicht unserer Gesellschaft geschuldet. Jede Kultur der Geschichte besaß sie (in, zugegeben, unterschiedlichen Ausprägungen). Das wir heute die Möglichkeit haben dieses (anscheinend) menschliche Bedürfnis rein virtuell auszuleben ist doch eigentlich toll. Die Gefahr der Abstumpfung, sowie das Transportieren fragwürdiger Ideologien ist allerdings, in der Tat, nicht wegzuleugnen.

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  7. Pingback: Das Goldene Lesezeichen: April 2017 | Ma-Go Filmtipps

  8. Moinsen,

    nachdem ich auf Ma-Gos Seite ausdiskutiert habe, komme ich mal rüber zu dir. Vollstes Lob erstmal für deinen Beitrag! Wenn es meine Seite noch geben würde, dann würdest du mein goldenes Lesezeichen erhalten. Gut, ich habe auch nur deinen und Gewinnerbeitrag gelesen, aber das soll den Artikel hier in nicht schmälern.
    Aber genug der Lobhudelei. Kommen wir zum Thema: Gewalt im Film.

    Kein leichtes Thema und mit einem Beitrag kann man gar nicht alles abdecken, was ich gerne dazu sagen würde. Am liebsten würde ich wie @spieleforscher gerne das Thema Gewalt in Spielen aufwerfen und der Frage nachgehen, was uns mehr beeinflusst, Gewalt selbst anzuwenden in Spielen oder Gewalt hilflos ausgeliefert zu sein wie in Filmen. Aber das nur als Randbemerkung, da ich auf dein aufgeworfenes Thema eingehen möchte.

    Ich finde, dass man am Beispiel Tarantino die Diskussion um Gewalt in Filmen gut skizzieren kann. Nehmen wir wie Ma-Go zunächst Reservoir Dogs (meinen Lieblings-Tarantino). Dort hatte Gewalt bereits einen ästhetischen Stellenwert und diente der Unterhaltung. Allerdings noch nicht so sehr wie bei nachfolgenden Filmen (Kill Bill, Inglourious Basterds) und mit einem Kniff, den du anhand von Craven ausführst: Gewalt tut weh. Mir als Zuschauer erstmal nicht, denn ich habe die rettende Distanz zur Szene. Und darum ist es umso wichtiger, den Protagonisten einen Schmerz aufzuerlegen, um dem Zuschauer die Gewalt durch die Figur erleben zu lassen. Bei der Ohrszene zeigt sich das noch nicht gänzlich, da die Kamera bald wegschwenkt („Watch your head“). Aber spätestens wenn sich Mr. Orange angeschossen auf dem Fußboden windet, kaum sprechen, geschweige denn sich bewegen kann, dann wird Gewalt im Kino Realität. Tarantino spielt mit den beiden Arten von Gewalt. Mal lustig unterhaltsam, mal nervenaufreiben schmerzhaft. So auch in Django Unchained, wenn hier ein Sklave von Hunden zerfleischt wird und man Christoph Waltz‘ Gesicht sehen, der sich kaum in der Rolle des knallharten Sklavenhändlers halten kann; und wenn dort eine baldige Leiche mehrere Meter durchs Zimmer fliegt, wenn sie von einem Schuss getroffen wird. Tarantino weiß, was er dem Zuschauer zumuten kann und weiß, wann er welche Art von Gewalt anwenden muss, um ein bestimmtes Gefühl beim Zuseher hervorzurufen.

    Grundsätzlich bin ich selbst bei Craven und auch Haneke, der es so gut wie keiner schafft, Gewalt für den Zuschauer erlebbar zu machen: Gewalt muss als das gezeigt werden, was sie ist: nicht konsumierbar. Wenn in Bennys Videos das Mädel minutenlang auf dem Boden winselt, dann will ich wegschauen, dann schmerzt mich das; wenn in Funny Games ein besonderer kniff angewendet wird (kein Spoiler, schaut ihn euch an), dann will ich die bösen Jungs am liebsten in die Mangel nehmen und spüre am eigenen Leib die Hilflosigkeit der attackierten Familie. Übrigens ist Funny Games an sich schon ein guter Film über das Thema Gewalt im Film, weil er sich explizit damit auseinandersetzt. Jedenfalls bin ich grundsätzlich bei dieser Meinung.
    Allerdings habe auch ich jemanden in mir (wie wohl viele andere hier auch), der Spaß an gut choreographierter Gewaltausübung hat. Wenn danach ein guter Spruch folgt („But you said you will kill me last.“ „I lied.“) Dann umso besser. Man muss aber unterscheiden, dass einem an dieser Stelle nicht die zugeführte Gewalt Spaß bereitet (hoffe ich bei mir zumindest), sondern die Ausführung an sich.

    Beides zusammen, coole Ausführung und mitleiderregende Zuführung sind innerhalb einer Szene für mich nicht möglich. Beides hat aber seinen Reiz. Ob das schlecht oder verwerflich ist? Hmm… wie Filmlichter bin ich mir meiner sicheren Herkunft bewusst. Ich weiß nicht, wie sich Gewalt auch mich auswirken würde, wenn ich selbst welche erlebt hätte. Wie die Vergewaltigungs-Szene in Irreversibel auf mich gewirkt hätte, wenn ich selbst auch nur ansatzweise eine solch hilflose Situation durchgemacht hätte.
    Übrigens auch ein gutes Beispiel zur Diskussion über das Thema. Dadurch, dass das Ende zuerst gezeigt wird, ordnen wir den Gewaltakt zu Filmbeginn anders ein als nach der Vergewaltigungsszene. Brilliante Idee möchte ich meinen.

    Dass es Vertreter wie Saw VII gibt, die das Konzept der „coolen“ Gewalt übertrieben ist leider auch klar. Hier geht es nicht mehr wie bei früheren Horrorfilmen darum, dass man mitfiebert, dass jemand oder zumindest wer überlegt, sondern nur noch darum, was die kreativste Art und Weise ist, dass jemand stirbt. Danke, Final Destination. Im Gegensatz zu Final Destination, der Spaß machen will und Tarantino, der weiß, wann er cool und wann er ernst sein möchte, geht dies Saw ab Teil 3 (Ausnahme: die Knochenmaschine) aber ab. Ebenso sei hier Kick-Ass 2 genannt, der genau daran scheitert, den Spagat zwischen Coolness und Realismus von Gewalt hinzubekommen. Solche Negativbeispiele sind sicherlich ein Grund, warum ich lieber Gewalt als das sehe, was sie ist: schmerzhaft. Dort kann man war auch viel falsch machen, aber das führt nicht dazu, dass die Folgen von (realer) Gewalt verharmlost werden. Denn Gewalt ist scheiße. In jeder Form. Und genau deswegen ist es umso besser, wenn sie im Kino ausgelebt wird.

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    • Erstmal natürlich vielen Dank für das Lob!
      Ja, Computerspiele sind sicherlich ebenfalls spannend, insbesondere, weil sie einem so häufig Gewalt als das einzige Mittel der Interaktion mit ihrer Welt anbieten. Mit anderen Worten, hey Spieleforscher, zwei Leser hättest Du schon! 😉
      Haneke ist ein wunderbares Beispiel. Wäre der mir rechtzeitig eingefallen, wäre er auf jeden Fall im Text gelandet. Der Kniff, der den Zuschauer auf ungewöhnliche Weise mit in das Geschehen einbezieht ist eine verdammt kluge Reflexion unserer Wahrnehmung von Filmgewalt (und Mann, hat die mich beim ersten mal sauer gemacht…). Die Diskrepanz zwischen verschiedenen Arten von Gewaltdarstellung sehe ich auch bei Tarantino und hier insbesondere bei Django. Hier wollte er einerseits die grausame Entmenschlichung der Sklaverei möglichst realistisch darstellen, während Djangos Rachefeldzug Gewalt überzogen und „cool“ darstellt. Das hat, zumindest bei mir, ein leichtes Schleudertrauma ausgelöst.
      Und klar, gerade in Martial Arts Filmen, wie Ong Bak oder so folgt die Gewalt rein ästhetischen Gesichtspunkten, das hat dann allerdings quasi tänzerischen Wert und ist, bei den meisten Rezipienten, sicherlich kein Abfeiern der Gewalt an sich, sondern der Art der Darstellung. 80er Actionfilme funktionieren heute vielleicht soagr besser als damals, da manche Stereotype, die damals noch echte rassistische oder sonstige Klischees darstellten aus heutiger Sicht so überzogen wirken, dass wir kaum anders können, als sie als Parodie wahrzunehemen. Die späteren Death Wish Filme z.B., wenn Bronson als Hoch-60er mit dem Maschinengewehr bei ethnischen Gangs aufräumt, damals musste er sich öffentlich dafür rechtfertigen, heute wirkt es schlicht komplett absurd und macht gerde deswegen mehr spaß.
      Und Final Destination II ist vermutlich der beste neuzeitliche Slapstick-Film, den ich kenne. Wenn wohl auch unabsichtlich. Ansonsten ist der Slapstick, jetzt wo Jackie Chan zu alt ist, ja weitgehend auf die Animation beschränkt.

      Und das Gewalt ins Kino gehört und am besten nur dahin, darauf können wir uns einigen.
      Manches von Dir erwähnte reisse ich übrigens in meinem nächsten Artikel dieser Reihe an, der wohl nächste Woche erscheint. /schamlose Eigenwerbung Ende

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      • Möchte nur auf noch auf wenige Dinge angehen und warte für den Rest lieber den nächsten Artikel ab.
        Beim „tänzerischen Wert“ frage ich mich, und da muss ich doch nochmal einen Vergleich zu Videospielen finden, ob das auch ohne Gewaltexzesse (sprich Tode) möglich wäre. Bei Egoshootern z.B. könnte man durchaus behaupten, dass die auf die Gewalt angewiesen seien und beim Gegenüber die Gefahr des Todes bei schlechter Spielweise auslösen müssten. Nintendo, finde ich, hat mit Splatoon das Gegenteil bewiesen.
        Ebenso gibt es Filme, die zeigen, dass auch hinter Gewaltausübung ein menschlicher Wert stecken kann, wie man z.B. am Ende von Warrior sehr gut sehen kann (allerdings funktionieren Sportfilme da auch etwas anders). Dein Beispiel Chackie Chan finde ich da sehr gut, denn da steht dieses tänzerische meilenweit im Vordergrund und so etwas kenne ich im heutigen Kino leider auch nicht mehr. Zudem hat die ausgeübte Gewalt bei ihm einen sichtbaren Einfluss auf die Akteure, was sie trotz Buster-Keaton-Style nicht vollkommen verharmlost.

        Das mit den 80er-Actionfilmen stimmt im Zeitalter der Ironie mehr denn je. Gut beobachtet. Mein Lieblingsbeispiel ist der oben von mir auch zitierte Phantom Kommando, den ich in meiner Kindheit (Altersbeschränkungen sind halt doch eher Reiz als Abschreckung) als knallharten Actionfilm mochte. Heutzutage ist es eine nicht enden wollende Gagparade.

        Bei Final Destination II möchte ich deinem „wohl“ nicht recht geben. Aus meiner Sicht ist der dermaßen überzogen, dass er fast schon als Parodie auf den ersten Teil durchgehen kann. Konnte auf die schnelle keine Aussage von den Machern dazu finden, aber ich empfinde das als gewollt lustig. Ebenso Teil 3 mit den Songs, die während der Tode eingespielt werden; insbesondere „Love Train“ & „Rollercoaster of Love“.
        Aber das ist so eine Geschichte, da kann man durchaus anderer Meinung sein, wie ich gesehen habe, als ein Kumpel Battleship als ironisch bezeichnet hat. Für mich war das Kriegspropaganda schlechthin. So unterscheiden sich die Wahrnehmungen.

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        • Okay, bei FD2 bestehe ich keinesfalls auf meiner Interpretation, kann mir ebenso gut vorstellen, dass der absolut lustig gewollt war. Für die 80er Actionfilme ist eines meiner Lieblingsbeispiele Tango & Cash, der sich aus heutiger Sicht wirklich schaut, wie eine bewusste Parodie der 80er Action. Nicht zuletzt weil kaum einer der gewollten Gags wirklich zündet.
          Battleship habe ich nicht gesehen aber die teilweise völlig unterschiedliche Interpreatation scheinbar simpler Blockbuster ist immer ziemlich spannend. Man nehme 300. Den kann man auf einer ganz simplen „He-Man“-Ebene erleben – völlig überzogene, muskelbepackte Gute gegen völlig überzogene, muskelbepackte aber entstellte Böse. Oder man schaut sich den historischen Kontext an, schaut auf die Entstehungszeit und die Ethnien der handelnden Charaktere und sieht übelste Propaganda. Oder man geht den dritten Weg und sieht den Film als bewusstes, cleveres Spiel mit eben jener Propaganda, da das Ende ja enthüllt, dass die ganze Handlung von einem Charakter im Film selbst erzählt wird, der einen Großteil der Geschehnisse gar nicht selbst erlebt hat, mit dem Ziel die Griechen zu einer neuen Schlacht anzuheizen.
          Welche Interpretation ist nun „richtig(er)“? Vom Text werden alle drei gestützt?

          Ich bin manchmal fast neugierig, wie Snyder oder Bay in 50 Jahren mit einigem Abstand, in der Rückschau gesehen werden…

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          • Da machst du ein Fass auf, für das es eine eigene Artikelreihe bedarf: Interpretation von Film. Ein so großes Fass, dass ich erstmal keinen Schluck daraus nehmen werde, sonst bleib ich nur daran hängen.

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          • Ist wahrscheinlich klüger, ja. Da reicht vermutlich keine Artikelreihe, da braucht es ein Philosophie-Studium. Nur um am Ende festzustellen, dass man jetzt nur noch mehr Fragen hat… 😉

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