Reisetagebuch: ‚Ausser Atem‘ – OT: ‚À bout de souffle‘ (1960)

Reiseziel #20 Schaue einen Film der europäischen „Neuen Welle“ der 1960er Jahre

Hallo zusammen, Zeit für eine neue Etappe der Filmreise Challenge. Diesmal bin ich mir nicht ganz sicher, wo oder wann ich eigentlich bin, ist alles so ungewohnt hier. Aha, da ist der Eiffelturm, ich bin wohl in Paris und… was ist das für eine Wolke? Sie kommt auf mich zu! Kann nichts sehen *hust* Lunge schmerzt *hust* ist das… Tränengas? Nein, schlimmer! Das ist Gauloises-Qualm. Und was sehen meine tränenden Augen da? Blasse, dürre Männer in schwarzen Rollkragenpullovern, die über Existentialismus philosophieren? Ich bin also im Paris des Jahres 1960 und die Nouvelle Vague beginnt sich heftigst aufzutürmen! (<- das war Episches Theater! (<- und das ein Verfremdungseffekt!!)) Jumpcut!

Der Kleinkriminelle Michel (Jean-Paul Belmondo) stiehlt einen Wagen und fährt damit Richtung Paris. Als er gestoppt wird, erschießt er einen Polizisten und ist fortan auf der Flucht. In Paris findet er Unterschlupf bei der amerikanischen Studentin Patricia (Jean Seberg), mit der er vor ein paar Monaten zusammen war und in die er immer noch verliebt ist. Während er versucht Geld für die Flucht nach Italien aufzutreiben, zieht die Polizei ihr Netz immer enger und bald ist es an Patricia eine Entscheidung zu treffen.

Jean Luc Godard war Filmkritiker bei der renommierten „Cahiers du cinema“, bevor er selbst Filme machte. Und mit seinem Erstling ‚Ausser Atem‘ wollte er alle Regeln brechen. Der gesamte Film sollte auf einer Handkamera, ohne besondere Beleuchtung gedreht werden. Dafür klebte er per Hand lichtempfindlichere Fotofilmstreifen zu langen Filmrollen zusammen. Es wurde ohne Drehgenehmigung in der Öffentlichkeit gefilmt und so kann man gelegentlich einen verwirrten Passanten in die Kamera schauen sehen. Der Film entstand chronologisch und Godard schrieb täglich was gedreht werden sollte (wobei Truffaut im Trailer – und nur da – einen Credit für das grundlegende Szenario bekommt), gab es den Schauspielern und drehte dann bis ihm nichts mehr einfiel für den Tag. Das konnte auch schon mal nach 2 Stunden sein. Sein Produzent war angeblich derart aufgebracht über dieses laxe, ungeplante Herangehen, dass die beiden in eine körperliche Auseinandersetzung gerieten. Am Ende war der Film knapp 3 Stunden lang und musste deutlich gekürzt werden. Goddard weigerte sich aber Szenen komplett zu entfernen und arbeitete stattdessen mit extremen Jumpcuts. Das war möglich weil Dialog und Geräusche ohnehin nachträglich eingefügt werden mussten, da direkte Tonaufnahmen nicht machbar waren. Bevor der Film in Frankreich in die Kinos kam wurden Gerüchte laut, der Film sei extrem amateurhaft und ein dümmlicher Kritiker habe sich beim Versuch selbst einen Film zu machen völlig überhoben. Die wurden vermutlich von Godard selbst gestreut, der aus seiner PR Zeit bei FOX um den Wert einer ordentlichen Kontroverse wusste. Ob es nun am Star Jean Seberg lag, an Mundpropaganda über den neuen Star Belmondo oder an (echten oder herbeigeführten) Kontroversen, der Film wurde ein voller Erfolg und zu einem der stilbildenden Filme der französischen Neuen Welle. Und sein Produzent versöhnte sich auch mit Godard, nachdem der Film allein in Frankreich das 50fache seines Budgets einspielte.

Und wie wirkt der Film heute? Vollkommen aus seiner Zeit, aber gleichzeitig unglaublich modern. Er ist wenig interessiert am „seamless cinema“ Hollywoods, ganz im Gegenteil Godard will das wir die Nähte sehen. Wenn ein Charakter einen Monolog hält, werden seine Bewegungen wieder und wieder von Jumpcuts unterbrochen, sprunghaft gemacht, die Künstlichkeit betont, Distanz hergestellt. Gleichzeitig geht er aber mir seiner Handkamera mitten hinein ins sommerliche Paris des Jahres ’59 und gibt uns als Zuschauer das Gefühl mitten drin zu sein, nimmt jede Distanz heraus. Immer wieder übertönen Musik und Verkehrslärm Dialoge, völlig gewollt, denn beides wurde ja hinterher eingefügt. Der Film ist gleichzeitig Hommage und ironischer Kommentar an den Film Noir und den Hollywood B-Movie an sich. Michel kleidet sich wie ein Noir-Held und ist ebenso unentrinnbar in seinem Schicksal gefangen. Er ist sich dessen aber bewusst, ist der Charakter selbst einerseits doch ein großer Fan von Humphrey Bogart, dessen Bild er durch ein Kinofenster bewundert und unternimmt als er das Ende kommen sieht nichts mehr um ihm zu entgehen. Vor allem ist der Film aber eines: cool. Verfolgungsjagden, Schießereien, ein Smooth Jazz Soundtrack von Martial Solal und zwei zentrale Charaktere und eine Stadt, deren Charme man sich unmöglich entziehen kann.

Dabei sollten sie gar nicht sympathisch sein, zeigt uns Godard hier doch eigentlich zwei extreme Narzissten, die mehr aneinander vorbei als miteinander zu sprechen scheinen. Michel ist ein arroganter Kleinganove, der zu angeberischen Gesten neigt aber keine tiefen Überzeugungen hat. Patricia ist eine extrem freiheitsliebende, unabhängige aber auch von großer Bindungsangst geprägte Studentin. Aber Seberg und Belmondo sind derart charismatisch in ihren Darstellungen, dass es unmöglich ist nicht mit ihnen zu fühlen. Die beste Sequenz für mich war denn auch die längste „konventionelle“ des Films, ein langes Gespräch in Patricias Hotelzimmer, während der dritte Hauptdarsteller Paris durchs Fenster tönt. Das endet natürlich in einer Sexszene, aber da für Godard alle Regeln falsch sind, findet die komplett unsichtbar unter den Laken statt.

Godard kann und will den revolutionären Geist dieses Films nicht verbergen. Insbesondere metatextuell wird es, wenn Godard selbst in der Rolle des Mannes auftaucht, der die Polizei auf Michels Fährte bringt. Der Regisseur kontrolliert das Schicksal seiner Charaktere von außen, wie vom Inneren des Films. Gelegentlich wirkt er darum fast ein wenig wie ein filmkritischer Essay in Form eines Films. Allerdings vergisst er darüber nicht, wie manche spätere Filme des Regisseurs, eine Geschichte zu erzählen, dem Zuschauer etwas zu geben, dass er für 90 Minuten erleben kann.

Im Fazit bleibt ein, dank seiner revolutionären Erzähltechniken für die Zeit extrem flott erzählter, eleganter, cooler Film mit zwei extrem charismatischen Hauptdarstellern. Und natürlich eine absolute Notwendigkeit, wenn man die Nouvelle Vague verstehen möchte.

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10 Gedanken zu “Reisetagebuch: ‚Ausser Atem‘ – OT: ‚À bout de souffle‘ (1960)

  1. Den hättest du auch ganz heimlich für die Aufgabe „Einen Film, in dem es um das Essen/kochen geht“ nutzen können. Hätte bei „About the Souffle“ sicher keiner gemerkt… (Schenkelklopfer)

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  2. Du triffst das alles sehr gut. Auch bei mir hat sich die lange Konversation am meisten ins Gedächtnis gebrannt und die Massen an Zigaretten. Ich wollte auch schon des öfteren einen Text zur NV schreiben, da mir fast jeder Film gefällt den ich aus dieser Zeit bisher gesehen habe. Irgendwie hat aber immer der richtige Zeitpunkt gefehlt.
    Auch empfehlenswert: Pierrot le fou.
    LG TBC

    Gefällt 1 Person

    • Mein Wissen um die NV beschränkte sich bislang vor allem auf Francois Truffaut. Da kam die Filmreise Challenge gerade recht, um das ein wenig zu erweitern. Gerade von Godard will ich jetzt auch noch mehr sehen (wobei die wenigen seiner späteren Filme, die ich kenne mir nicht gefallen haben). Sprich, Pierrot kommt auf die Liste.

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  3. Pingback: Reisetagebuch: ‚The Dressmaker‘ (2015) – Kleider richten Unrecht | filmlichtung

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