‚The Florida Project‘ (2017) – Neorealismus fährt nach Disney World

Die Armen Amerikas werden im amerikanischen Film nicht eben zahlreich oder besonders liebevoll repräsentiert. Das war nicht immer so. In den 20er und 30er Jahren gab es eine ganze Reihe an Filmen über ‚Die kleinen Strolche‘, eine Gruppe von Kindern, die explizit aus der New Yorker Unterschicht stammten. Und dann war da natürlich noch Chaplin, dessen Tramp so eine Art Avatar für von der modernen Gesellschaft Zurückgelassene, nicht nur in den USA sondern überall, war. Regisseur Sean Baker knüpft mit seinem Independentfilm ein wenig an diese Tradition an. In ‚The Florida Project‘ kommen wir dem eskapistischen Traumziel des amerikanischen Kapitalismus, Disney World, so nahe wie es nur geht und sind gleichzeitig unendlich weit davon entfernt.

Denn ganz in der Nähe des Vergnügungsparks gibt es eine Reihe von Motels mit Namen wie „Future Land“ oder „Arabian Nights“. Deren ursprüngliche Geschäftsidee war es, dass unaufmerksame Touristen ihre Übernachtungen dort und nicht in einem offiziellen Disney Hotel buchen. Doch viele dieser Motels sind zu Auffangstationen für die Ärmsten der Armen geworden. Für die Menschen die nun hier leben, kann eine verpasste Miete den Rauswurf und damit den Verlust der letzten sozialen Sicherheit und Abrutschen in die Obdachlosigkeit bedeuten. Im „Magic Castle“ leben die junge Halley (Bria Vinnaite) und ihre sechsjährige Tochter Moonee (Brooklyn Prince). Halley gelingt es nicht eine geregelte Arbeit zu finden, so verkauft sie billiges Parfüm zu überteuerten Preisen an Touristen in besseren Hotels, um die Miete zusammenzubekommen. Moonee zieht die meiste Zeit mit ihren Freunden Jancey (Valeria Cotto) und Scooty (Christopher Rivera) durch die Gegend, wo sie allerlei Chaos anrichten. Das ist selten zur Freude von Scotty (Willem Dafoe), dem Hausmeister und der Seele des Magic Castle. Der Film zeigt lose die Ereignisse eines Sommers.

Das Wichtigste zuerst, der Film ergeht sich nicht in jenem beinahe voyeuristischen Miserabilismus, der Filmen um soziale Außenseiter häufig anhängt. Moonee und ihre Freunde sind zunächst einmal Kinder, die sich ihre kindliche Welt auch ohne finanzielle Mittel schaffen. Ein Großteil des Films ist dabei durchaus komisch. Die Szene etwa, die verkürzt auch im Trailer zu sehen ist, in der Bobby Moonee und Scooty beim Eisessen in der Lobby anstarrt und nur auf ein Kleckern auf den Fußboden wartet, ist zum Beispiel urkomisch. Allerdings verklärt der Film Armut auch nicht zu einer Art magischem Wunderland, wie mir das etwa bei ‚Beasts of the Southern Wild‘ (den ich filmisch sehr mochte) sauer aufgestoßen ist. Wenn ich einen Vergleich ziehen sollte, der nicht bis in die 20er oder 30er Jahre zurückgreift, dann würde ich ihn wohl am ehesten mit der Arbeit von Andrea Arnold vergleichen, an deren ‚Fishtank‘ ich mehr als einmal denken musste.

Das Kindliche steht ohnehin im Zentrum des Films, wenn er von Moonees Sommer-Erlebnissen mit beinahe atemloser Energie erzählt. Auch Halley ist nie wirklich erwachsen geworden und behandelt ihre Tochter mehr wie eine kleine Schwester. Es fällt ihr schwer Verantwortung für ihr eigenes oder Moonees Handeln zu übernehmen. Diese Verantwortung fällt, wie die meiste im Film, direkt an Bobby. Der lebt für das Motel und seine Gemeinschaft, die er vor Gefahren von außen, aber auch vor sich selbst schützt. In einer Szene, nachdem er einen Stromausfall behoben hat, ruft ihm ein Bewohner sarkastisch seine Liebe zu, Bobby dreht sich um zum Motel an sich und ruft „I love you too!“, doch bei ihm kommt es von Herzen. Das Motel und die Leben seiner Bewohner werden ohnehin zu einem reichhaltigen Hintergrund für das Handeln der Hauptpersonen, wie ich das so selten, vielleicht noch bei ‚Das Fenster zum Hof‘, gesehen habe. Der Film ist großartig im Beobachten und belohnt ein genaues Beobachten auch beim Zuschauer. Seine Charaktere können in kleinsten Gesten sehr viel sagen.

Kameramann Alexis Zabe kleidet diese Erzählung in passende Bilder. Die Farben des Films scheinen geradezu zu leuchten. Das satte Lila des Magic Castle, das Orange eines Einkaufszentrums, der weite, blaue Himmel und das satte Grün der Umgebung fasst er in wunderschöne Bilder. Die Hubschrauber und Luxuskarossen, die sich unablässig nach Disney World begeben, bleiben dabei immer ein so ferner Hintergrund, dass sie fast von einer anderen Welt stammen könnten. Es ist toll daran erinnert zu werden, dass man auch für unter 2 Millionen Dollar einen sehr cinematischen Film schaffen kann, wenn man nur mit dem was man hat klug arbeitet.

Ich war mir sicher, dass Brooklyn Prince, die 6jährige Darstellerin der Moonee hier ihren ersten Auftritt hatte. Ich habe mich geirrt, ihre Karriere begann schon mit 2 Jahren in Werbespots. Dann kann ich nur sagen, dass sie weit weg ist von typischen Hollywood Kinderdarstellern, die schon mit dem Schauspielvertrag in der Hand geboren scheinen und dank umfangreichem Training zu keiner natürlichen Reaktion mehr fähig sind. Man hat das Gefühl, die Kamera wäre ihr völlig egal. Wenn sie ein Eis isst, dann ist dieses Eis der Mittelpunkt ihrer Welt, wenn sie Scooty zeigen will, wie sie mit ihrer Achselhöhle furzen kann, dann zählt nur das. Es ist eine der besten, wahrhaftigsten Kinderdarstellungen, die ich je gesehen habe. Sie ist so gut, dass man ihr im späteren Film selbst Sätze problemlos abnimmt, die aus dem Mund anderer Kinderdarsteller wohl recht altklug und gewollt geklungen hätten („You know why this is my favorite tree? ‚Cause it has fallen down, but it’s still growing!“). Für ihre Filmmutter, Bria Vinnaite, ist es tatsächlich ihre erste Rolle und ihre Halley gelingt ähnlich glaubhaft wie Moonee. Hinter ihrer fröhlichen Energie sitzt eine tiefe Frustration, ein Zorn darüber, nie wirklich eine Chance im Leben gehabt zu haben. Wir erfahren nicht eben viel über Halley, doch Vinnaite liefert eine faszinierende Darstellung ab. Insbesondere eine Szene, in der sie kaum ihre Wut kontrollieren kann, weil Bobby ihre Mietzahlung zählt, anstatt sie einfach zu akzeptieren, ist bezeichnend. Und damit sind wir beim einzig „großen Namen“ des Films, Willem Dafoe, der sich seine Oscar-Nominierung redlich verdient hat. Völlig gegen seinen üblichen Typus besetzt ist Bobby ein liebenswerter, großzügiger Charakter, der wenn es sein muss auch zu einiger Härte fähig ist. Er ist der komische Widerpart für Moonees Streiche, aber auch ein unverzichtbarer Kern der brüchigen Gesellschaft.

Ich hoffe es ist klar geworden, dass ich den Film sehr mochte. Einer der besten, wenn nicht der beste Film, den ich bislang dieses Jahr gesehen habe. Habe ich auch etwas zu meckern? Ja, durchaus. Leider funktioniert gerade das Ende für mich nicht. Oder sagen wir eher, die letzten 30 Sekunden. Über die will ich hier natürlich nicht zu viel sagen, nur so viel, was bis dahin ein reiner Hintergrund war, tritt in einer Weise in den Vordergrund, die zumindest ich narrativ nicht begreife. Lassen wir es dabei. Der Rest des Films ist aber so gut, dass ihm das Ende keinen Abbruch tut. Er bleibt also eine dicke Empfehlung.

19 Gedanken zu “‚The Florida Project‘ (2017) – Neorealismus fährt nach Disney World

  1. War auch recht angetan, allerdings konnte er mich nicht so sehr überzeugen wie du. Das Ende fand ich ebenfalls seltsam.. Fand es aber interessant, dass die Kamera in den meisten Szenen, in denen es um die Kinder geht, auf deren Augenhöhe ist.
    Was mich aber komplett verwirrt hat, waren die Hubschrauber. Nach dem dritten Flug dachte ich mir, das muss doch nochmal irgendwann wichtig werden 😅

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    • Ja, mit der Kamerahöhe spielt er ohnehin viel rum ist mir besonders in der Szene augefallen

      Spoiler, Spoiler, Spoiler!!

      in der Halley ihre Freundin vor den Augen dren Sohnes verprügelt. Wir sehen das Geschehen über die Schulter des Jungen aber trotzdem gefühlt aus großer Höhe.

      Die Hubschrauber habe ich einfach als Abstand stiftenden Hintergrund zum kapitalistischen Traumland Disney World interpretiert (ich könnte jetzt wieder aufs Ende zu sprechen kommen, aber lassen wir das…). Interessant die Reaktionen, die Kinder winken, Halley zeigt den Mittelfinger. Aber abseits jeder Interpreattion, wahrscheinlich war es einfach unmöglich da zu filmen, ohne das die Hubschrauber ins Bild kommen. Man musste sie also entweder einbauen, oder dauernd pausieren.

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  2. Ich mochte den Film auch sehr. Die kleine Monee ist so echt und natürlich, man könnte ab und an fast denken, es hier mit einem Dokumentarfilm zu tun zu haben. Was durch die visuelle Umsetzung nur noch unterstützt wird.

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    • Ja, wie geschrieben, gerade Hollywood Kinderdarsteller sind oftmals zu sehr Darsteller und zu wenig Kinder. Das war hier gar nicht der Fall.

      Brooklyn Prince macht auf der BluRay auch die Einführung in den Film. Da schlägt sie vor sich Eis zu holen. Wir haben uns dran gehalten, es war eine gute Idee! 😉

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  7. Hallöchen,

    ich habe den Film (auch auf Grund deiner Besprechung) nun auch endlich gesehen. Allerdings konnte ich im Gegensatz zu meinen Vorrednern und dir recht wenig mit „The Florida Project“ anfangen. Ich mochte den Kontrast zwischen der disneyschen Traumwelt und der bitteren Realität mit Willem Dafoe quasi als Bindeglied zwischen den beiden. Ich mochte auch die Farben und die schönen Bilder, die ebenfalls einen krassen Kontrast zu den alles andere als schönen (im klassischen Disney-Sinn) Figuren bildeten.

    Leider waren einige Szenen einfach nur viel zu lang und uninteressant und ich konnte zu oft nicht nachvollziehen warum die Figuren so handelt wie sie es tun. Die Kinderdarsteller fand ich (wie so häufig) anstrengend. Vor allem das Baum-Zitat, das du im Text erwähnst, ist mir da negativ in Erinnerung geblieben. Aber auch die erwachsenen Schauspieler wirkten auf mich irgendwie… nun ja… Schauspieler, die Anweisungen folgen und sagen was auf dem Papier steht.

    Prinzipiell bin ich auch der Meinung, dass ein Ende, noch genauer die letzten 30 Sekunden, nicht darüber entscheiden sollten, ob ein Film gut oder schlecht ist. Wenn man aber den Film wie ich eher weniger gut fand und förmlich das Ende herbei sehnte, ist eine Schlussszene wie hier natürlich umso frustrierender.

    P.S: Zu den Hubschraubern.
    Ich denke die sind einfach Teil des in der Überschrift angespochenen Neorealismus‘. Das Leben der Protagonsiten ist so trist, dass das Hinterherwinken quasi ein emotionales Highlight des Alltags ist. Nicht wichtig aber genauso da wie Achselfürze oder Eiscreme.

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    • Haha wow, deja vu! Beinahe dasselbe Gespräch hatte ich vor kurzem „in echt“!

      Es ist natürlich schade, dass meine Empfehlungen zu wenig schönen Filmerlebnissen führen, aber ich stehe hinter allem was ich gesagt habe.

      Ich glaube abgesehen von Dafoe waren alle Darsteller mehr oder weniger Laien und ich fand, dass der Film genau das Beste aus Laiendarstellern herausgeholt hat, eben dass es so gar nicht „gelernt“ klang. Und ja, die Kinder waren teilweise anstrengend, aber das ist wohl auch durchaus gewollt.

      Zu den Helis stimme ich Dir zu, sie funktionieren aber gleichzeitig als extremes gesellschaftliches/fianzielles anderes Ende zu den hier gezeigten Menschen.

      Mögen zukünftige Empfehlungen meinerseits zu besseren Ergebnissen führen! 😉

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      • „Es ist natürlich schade, dass meine Empfehlungen zu wenig schönen Filmerlebnissen führen, aber ich stehe hinter allem was ich gesagt habe.“

        Ich verzeihe dir 😀
        Genau genommen verstehe ich ja sogar, deine Ausführungen. Ich habe das alles nur ganz anders wahrgenommen. So ist das nun mal.

        „Mögen zukünftige Empfehlungen meinerseits zu besseren Ergebnissen führen! “
        Amen 😉

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