Ganz gleich, was man vom Ergebnis halten mag, eines gilt es festzuhalten: diese polnisch-britische Koproduktion ist eine Wahnsinnstat. Die Entstehung des Projektes der Koregisseure und Ehepartner Dorota Kubiela und Hugh Welchman stellt sich, soweit ich es verstanden habe, folgendermaßen dar: Schauspieler spielten die Szenen vor einem Greenscreen. Per Computer wurden sodann Gemälde Vincent van Goghs als Hintergründe eingespielt. Das Ergebnis wurde, Frame für Frame, auf Leinwände projiziert und übermalt Für jeden Frame entstand so ein Ölgemälde im Stile van Goghs. Etwa 150 Maler (ausgewählt aus über 5000 Bewerbern) schufen über 65.000 Einzelbilder. Es entstand so der erste Spielfilm mit ölgemalten Animationsframes. Oder wie Hugh Welchman es ausdrückt: „wir haben wohl die langsamste Form des Filmemachens in 120 Jahren der Kunst gefunden.“ Die Produktion dauerte tatsächlich insgesamt sieben Jahre. Es ist klar dass die Form hier den Inhalt bestimmen würde, doch ist es ein reines Gimmick, oder gelingt es dem Film van Goghs Werk lebendig werden zu lassen? Schauen wir auf die Handlung.
Am Abend des 27. Juli 1890 ging Vincent van Gogh auf ein Feld nahe dem Dörfchen Auvers und schoss sich in die Brust. Er schleppte sich zurück zu dem Gasthaus, in dem er die letzten 2 Monate gelebt hatte und starb 30 Stunden später in Anwesenheit seines Bruders Theo. Die Handlung des Films setzt ein Jahr später ein. Joseph Roulin (Chris O’Dowd), der Postmeister von Arles, bittet seinen unwilligen Sohn Armand (Douglas Booth) einen liegengebliebenen Brief Vincents, aus dessen Zeit in Arles, an den Bruder Theo in Paris zu überbringen. Dort angekommen muss Armand erfahren, dass Theo kaum ein halbes Jahr nach Vincent verstorben ist. Der Farbenhändler Père Tanguy (John Sessions) rät ihm den Brief zu Dr. Gachet (Jerome Flynn) in Auvers zu bringen, der Vincent in den letzten Monaten, aufgrund seiner immer wiederkehrenden, seltsamen Krankheitsschübe behandelt hat. In Auvers angekommen verwickelt sich der anfangs desinteressierte, inzwischen beinahe besessene Armand immer tiefer in Ermittlungen um Vincents letzte Tage und die merkwürdigen Umstände seines Todes.
Der Film erzählt nichts unbedingt Neues über Vincent van Gogh, er erinnert aber an etwas, dass uns heute in der Zeit, wo van Gogh wohl einer der bekanntesten Maler überhaupt ist, dessen Bilder sich nicht nur als Drucke in zahllosen Wohnzimmern finden lassen (ich brauche nur den Kopf zu drehen, um seine „15 Sonnenblumen“ von 1888 zu sehen), sondern auch allerlei Gebrauchsgegenstände vom Kalender bis zur Kaffeetasse zieren, kaum vorstellbar ist. Als Vincent van Gogh starb, musste er sich als „Versager“ sehen. In seiner kurzen Kunstkarriere war er zwar sehr produktiv, doch gelang es ihm kaum einmal ein Bild zu verkaufen. Zeitlebens war er auf das Geld seines Bruders Theo angewiesen. Denn ihm selbst wollte keine Karriere gelingen. Sein größtes Problem, das ihn am meisten quälte, war seine Unfähigkeit Kontakte zu Menschen zu knüpfen und zu halten und die damit einhergehende Einsamkeit. Nur durch seine Bilder schien er sich so ausdrücken zu können, wie er wirklich wollte. Sie sind nie abstrakt, doch mit flackerndem Pinselstrich und satten Farben eindeutig Vincents ganz eigene Sicht auf die Welt.
Und ‚Loving Vincent‘ ist bemüht diese Sicht zu transportieren. Wo andere Filme über van Gogh gerne den „verrückten“, „wilden“, „getriebenen“ Künstler in den Mittelpunkt stellen, ist ‚Loving Vincent‘ daran weniger interessiert. Dem berühmten Zerwürfnis mit Paul Gauguin und der anschließenden Selbstverstümmelung seines Ohres widmet er kaum eine Minute. Am Anfang steht eine Aussage Vincents, dass er nur durch sein Werk wirklich sprechen könne. Und diese Aussage nimmt der Film völlig wörtlich.
Damit sind wir wieder bei der Form, die den Inhalt hier maßgeblich beeinflusst. Und das ist gut, denn wenn ich ehrlich bin ist der Inhalt nichts Besonderes. Die „kriminalistische“ Handlung ist relativ formelhaft. Es ergibt sich durch die sich widersprechenden Aussagen der Zeugen zwar ein interessantes, wie bei ‚Rashomon‘ widersprüchliches Bild der letzten Tage van Goghs, doch Armands Ermittlungen laufen immer gleich ab. Er fragt einen Charakter nach Vincent, der erzählt bereitwillig, es gibt eine Rückblende (die erinnern an eine Mischung aus alten Fotografien und realistischen Kohlezeichnungen) und am Ende einen Hinweis auf den nächsten Charakter, mit dem Armand sprechen könnte. Dort geht es dann von vorne los. Aber das sind Probleme, die mir erst im Nachhinein aufgefallen sind. Denn während des Films war ich völlig gebannt. In den ersten Minuten war es verstörend, van Goghs ohnehin dynamische Bilder animiert zu sehen, doch als ich mich daran gewöhnt hatte, bin ich geradezu darin versunken. Der Film sieht anders aus als alle animierten Filme, die man sonst zu sehen bekommt, die brillanten Farben und das quasi-Taktile der Ölbilder gibt ihm eine ganz eigene handwerkliche Qualität. Die Bilder „rauschen“ oftmals, wegen der unterschiedlichen Künstler, doch passt dies wunderbar zu van Goghs Stil, den ich oben ja bereits als „flackernd“ bezeichnet habe. Für Raumaufteilung und Licht- und Farbdramaturgie hatten die Macher ohnehin eine der besten Vorlagen.
Die Charaktere sind zum größten Teil historische Personen und ihr Aussehen entspricht den Portraits, die van Gogh von ihnen angefertigt hat. Das gilt etwa für Vater und Sohn Roulin, Doktor Gachet und dessen Tochter Marguerite (Saoirse Ronan). Andere sind von Gemälden van Goghs inspiriert. „Der Bootsmann“ etwa, der sich hier als sehr gesprächig erweist. Das gelingt meist sehr gut, allerdings habe ich etwa mit der Idee, aus der verzweifelten Figur aus „An der Schwelle zur Ewigkeit“ einen kauzigen, scherzenden Sonderling zu machen meine Probleme. Im Großen und Ganzen funktioniert es allerdings gut, auch wenn sich der Stil der Darstellung der Figuren, durch den Wechsel in ein anderes Gemälde ändert.
Mich hat der Film sehr fasziniert, was vor allem von der Form herrührt. Ich kann andererseits aber auch jeden verstehen, der diesen Umgang mit den Bildern van Goghs krass oder sogar geschmacklos findet. Sollte das bei Euch der Fall sein, könnt Ihr Euch den Film vermutlich schenken, der reine Inhalt wird ihn nicht retten. Alle anderen bekommen allerdings einen sehr schönen Kunstfilm zu sehen, der sich bemüht möglichst vielen Menschen van Gogh näher zu bringen. Und wie ich dürft Ihr Euch hinterher ärgern, den Film nicht im Kino gesehen zu haben.
PS: ein Hinweis zum Trailer: der ist zwar nicht schlecht, allerdings scheint sich Youtubes Kompressionsverfahren mit dem Stil der Bilder zu beißen. So wirkt er deutlich „schwammiger“ als der eigentliche Film.
Für mich war der Film wie ein erwachsen gewordener Anime. Ein wirkliches Juwel, umringt von so viel Superhelden Trash und immergleichen Actionfilmen :). Guter Review!
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Auf mich haben vor allem die Farben viel intensiver gewirkt, als in einem normalem Film. Man konnte wirklich darin versinken. Van Gogh ist meiner Meinung nach leider ein sehr gutes Beispiel wie nah Genie und Wahnsinn manchmal beieinander liegen können.
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Ja, die Farben hätte man vermutlich in jedem anderen Film, der sich nicht auf diese Vorlage berufen kann, etwas heruntergeregelt. Schön dass die intensiven blau- und gelbtöne hier erhalten geblieben sind!
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Oder wie Hugh Welchman es ausdrückt: „wir haben wohl die langsamste Form des Filmemachens in 120 Jahren der Kunst gefunden.“
Ach, der kennt wohl José Antonio Sistiaga noch nicht Der arbeitet immer noch an seinem 1992 begonnenem HAN.
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Dazu fällt mir noch ein Artikel ein, den ich zu dem langsamsten Musikstück der Welt gelesen habe.
„In Halberstadt (Sachsen-Anhalt) läuft das langsamste Musikstück der Welt: „As slow as possible“ ist das Stück von John Cage überschrieben, jeder neue Akkord wird als Event gefeiert. Nun steht wieder ein Klangwechsel an.“ / „In Halberstadt in Sachsen-Anhalt läuft eine Aufführung des Orgelwerkes aber schon seit 19 Jahren. Und sie soll noch sehr viel länger dauern: insgesamt 639 Jahre nämlich, also bis zum Jahr 2640. Eine automatische Orgel macht es möglich.“ – wenn die Orgel oder das Kloster bis dahin noch stehen.
https://www.halberstadt.de/de/stadtfuehrung-buchen/das-langsamste-musikstueck-der-welt-639-jahre-fuehrung-zum-john-cage-orgel-kunst-projekt-im-burchardikloster.html
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Gestern zum ersten mal gesehen und ich bin begeistert! Der Film ist echt grandios.
„Der Film erzählt nichts unbedingt Neues über Vincent van Gogh“
Das ist ganz sicher richtig. Ich wusste nur so gut wie gar nichts über ihn. Eigentlich nur, dass das der Typ ist, der sich das Ohr abgeschnitten hat und die Sonnenblumen gemalt hat. 😉
Von daher was das meiste für mich so allgemeinbildungsmäßig schon interessant.
„Die „kriminalistische“ Handlung ist relativ formelhaft. Es ergibt sich durch die sich widersprechenden Aussagen der Zeugen zwar ein interessantes, wie bei ‚Rashomon‘ widersprüchliches Bild der letzten Tage van Goghs, doch Armands Ermittlungen laufen immer gleich ab.“
Stimme ich im Grunde schon zu. Im Kontext klingt das in deinem Text für mich deutlich negativer als ich das erlebt habe. Hast du das so gemeint oder kam es bei mir nur so an?
Wie auch immer ich fand den Film extrem faszinierend und auch ein bisschen überwältigend was die Bilder angeht. Wie gesagt, ich bin begeistert.
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Das mit der formelhaft ablaufenden Ermittlung ist sicher ein richtiger Kritikpunkt, aber wie ich (glaube ich) auch im Text geschrieben habe, störte mich das erst, als ich fürs Schreiben drüber nachgedacht habe, beim Ansehen war ich zu fasziniert. Und jetzt mit noch etwas mehr Abstand stört es mich auch nicht mehr wirklich.
Es ist ein ziemlich einzigartiger Film und ich bereue immer noch den nicht im Kino geshen zu haben.
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Ja ich auch.
Und keine Sorge, deine Begeisterung kam schon deutlich raus. War mir nur bei dem einen Punkt unsicher wie schwer du das wertest
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