‚The Killing Of A Sacred Deer‘ (2017)

Ob der heutige Film einen Platz im Horrorprogramm des Oktobers verdient, darüber könnte man vermutlich streiten. Denn ein Genrefilm ist der letzte Film von Yorgos Lanthimos (‚Dogtooth‘, ‚The Lobster‘) sicherlich nicht. Dennoch vermittelt der Film eine derartige Alptraumatmosphäre, dass diese Einordnung sicherlich auch nicht ganz falsch ist. Aber Lanthimos scheint ohnehin in allen seinen Filmen heftig an den unangenehmeren Seiten des Menschlichen zu kratzen, so dass die Grenze zum Horror hier allgemein fließend ist. Genug der Vorrede, kommen wir zum Film.

Der erfolgreiche Herzchirurg Steven Murphy (Colin Farrell) scheint ein zutiefst glückliches Familienleben mit seiner Frau, der Augenärztin Anna (Nicole Kidman), Sohn Bob (Sunny Suljic) und Teenager-Tochter Kim (Raffey Cassidy) zu führen. Allerdings trifft er sich auch heimlich mit dem Teenager Martin (Barry Keoghan) in einem Diner, macht ihm teure Geschenke und stellt ihn letztlich sogar der Familie vor. Warum? Steven ist verantwortlich für den Tod von Martins Vater auf dem Operationstisch und fühlt sich schuldig. Martin seinerseits versucht ihn mit seiner Mutter (Alicia Silverstone) zu verkuppeln. Als das jedoch misslingt belegt Martin Steves Familie mit einem Fluch: Frau und Kinder würden an einer unheilbaren Krankheit zugrunde gehen, es sei denn Steve tötet ein Familienmitglied als Sühne für Martins Vater. Als die Beine von Sohn Bob eines Morgens den Dienst versagen, scheint sich der Fluch zu erfüllen.

Der Titel des Films ist eine direkte Anspielung auf die griechische Sage um Iphigenia. Kurz zusammengefasst: während er wartet, dass sich die Schiffe der übrigen griechischen Fürsten für den Krieg gegen Troja sammeln, geht Heerführer Agamemnon auf die Jagd. Dabei erlegt er eine Hirschkuh, die der Artemis heilig war. Zur Strafe schlägt die Göttin die Griechen mit Windstille. Ein Orakel rät Agamemnon seine Tochter Iphigenia als Sühne der Göttin zu opfern. Der ist einverstanden, seine Frau Klytemnaistra hingegen ist schockiert und sichert sich die Hilfe des Heroen Achilles, um ihre Tochter zu retten. Doch als man Iphigenia die Sache erklärt, ist sie bereit für die Sache der Griechen zu sterben. Im letzten Moment enthebt Artemis die Unschuldige. Entweder als Sternbild an den Himmel, oder zur Insel Tauris, wie wir vermutlich alle aus dem Stück von Goethe wissen.

Mit einer ähnlich unausweichlichen Strafe wird im Film Steven konfrontiert. Allerdings ist er kein altertümlicher Griechenkönig, auch wenn er mit seinem beeindruckenden Vollbart eine gute Figur als solcher abgegeben würde, sondern ein Arzt. Und nun werden dieser Mann und seine Frau, beide Geschöpfe der Ratio möchte man meinen, mit einem Problem konfrontiert, dass mit logischer Herangehensweise nicht zu lösen ist. Einer Krankheit, die nicht zu heilen ist und die nach einer unmöglich scheinenden Entscheidung verlangt. Natürlich wird diese aufgeklärte Oberfläche im Lauf der Handlung brechen und ein anderes Herz freilegen als das, welches uns der Film in seinen ersten Sekunden von medizinischem Gerät umstellt zeigt. Eines das man nicht mit Chirurgie retten kann. Ein metaphorisches Herz, eines, das man brechen kann.

Lanthimos ist ein Meister des leicht „falschen“ Dialogs. Etwas, was er hier zur Herstellung der Atmosphäre nutzt. Alles was seine Charaktere sagen, scheint in gleichem Maße gestelzt wie übermäßig präzise. Niemand spricht wie seine Charaktere es tun, und doch tönt der Inhalt der Dialoge emotional wahrhaftig. Dadurch ergibt sich ein schwer zu beschreibendes bedrückendes Gefühl, wie in einem Alptraum. Dies wird noch unterstützt durch die merkwürdigen Perspektiven der Bilder von Kameramann Thimios Bakatakis. Die Gänge des Krankenhauses etwa scheinen eine unmögliche Länge zu bekommen, während die Charaktere in anderen Szenen beinahe von der Geometrie der Räume erdrückt zu werden scheinen, was die Lähmung, die die Familie nach und nach befällt noch unterstreicht. Beinahe jedes Bild drückt einen Verlust von Freiheit aus. Dabei hält die Kamera oft einen großen Abstand zu den handelnden Personen, was, zusammen mit der geringen Zahl an Nebencharakteren, an eine Theateraufführung denken lässt. Wie ein Stück von Euripides, jedoch nicht mit antiken Heroen, sondern mit normalen Menschen, die an ihrem Schmerz zu verzweifeln drohen.

Die dadurch geschaffene Distanz und der gezielte Einsatz klassischer Musik, sorgen dafür, dass der Film gelegentlich an Stanley Kubrick erinnert, wobei Lanthimos eine ganz eigene filmische Stimme besitzt. Immer wieder kommt auch sein merkwürdiger Humor zum Durchscheinen. Etwa ganz am Anfang, wenn wir eine Operation am offenen Herzen sehen, unterlegt mit sakraler Musik, wodurch sie beinahe wie eine rituelle Handlung wirkt. In der nächsten Szene unterhalten sich Steven und sein Anästhesist darüber, bis zu welcher Tiefe ihre Uhren wasserdicht sind. Bedeutungsüberladung und banal Alltägliches direkt nebeneinander werden dadurch komisch. Doch im Großen und Ganzen herrscht eine schwere Bedrückung vor, die zumindest mich beinahe mehr belastet hat, als viele Horrorfilme.

Ich habe schon bei ‚The Lobster‘ gesagt, ich bin froh, dass Colin Farrell in Lanthimos endlich einen Filmemacher gefunden hat, der sein fragloses Potential hervorragend zu nutzen weiß. Als vorgeblicher Perfektionist, der sich und anderen immer mehr Fehler eingestehen muss, der an der Situation zu verzweifeln droht, ist er hier jedenfalls wieder hervorragend. Die im letzten Jahrzehnt häufig kritisierte Nicole Kidman hat, in meinen Augen, in den letzten Jahren ein erstaunliches Comeback abgeliefert und beweist mit Filmen wie diesem hier auf der einen und einem ‚Paddington‘ auf der anderen ihre erhebliche Bandbreite. Aber der ebenso heimliche, wie bedrohliche Star dieses Films ist aber wohl Barry Keoghan. Sein Martin trägt mit derselben Gefühllosigkeit seine Liebe für Limonade vor, erzählt wie er mit dem Rauchen begonnen hat und eröffnet Steven, dass seine Familie sterben wird, wenn er nicht jemanden töte. Er wirkt wie jemand, der den unerträglichen Schmerz über den Tod des geliebten Vaters in sich hineingefressen hat, nun aber nicht daran zu platzen droht, sondern ihn in kühlem, überlegten Hass in die Welt ausstrahlt. Trotz der Parallele zur Sage ist Martin hier sicher kein griechischer Gott. Er erinnert mich vielmehr an eine sedierte (das meine ich nicht negativ!) Version von Heath Ledgers Joker aus ‚The Dark Knight‘.

Wer ‚Dogtooth‘ und ‚The Lobster‘ gesehen hat und mochte, wird sich ohnehin jeden neuen Film von Yorgos Lanthimos anschauen, viel Vergleichbares gibt es schließlich nicht. Wer die hingegen nicht mochte, den wird auch das heilige Reh nicht überzeugen. Wer hingegen neu in das Werk des Griechen einsteigen möchte, hat hier einen guten Punkt. Denn dieser Film ist sicherlich sein Poliertester, ohne dabei seine Stärken abzuschmirgeln.

8 Gedanken zu “‚The Killing Of A Sacred Deer‘ (2017)

  1. Bei mir war es tatsächlich der erste Film dieses griechischen Newcomers, den ich gesehen hab und danach hab ich mir gleich mal The Lobster für die heimische Sammlung gekauft😁! Und was eine deiner anderen Aussagen angeht…mich hat der Film auf jeden Fall mehr mitgenommen als jeder Mainstream-Horror a la The Nun es je schaffen könnte! 😉

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