Vor gut 20 Jahren gab es mehr oder weniger eindeutige Regeln, was ein Stoff für das Kino und was ein Stoff fürs Fernsehen ist. Ein Mann fährt Auto und telefoniert dabei, wäre vermutlich im Bereich Fernsehen gelandet. Autor und Regisseur Steven Knight (übrigens Miterfinder von „Wer wird Millionär“, kennt sich also definitiv mit Fernsehen aus) beweist mit ‚No Turning Back‘ (OT: ‚Locke‘), dass man diesem Material aber durchaus cinematische Aspekte abgewinnen kann.
Ivan Locke (Tom Hardy) ist Vorarbeiter auf einer Großbaustelle in Birmingham. Er gilt als verlässlich, vielleicht sogar überkorrekt. Am nächsten Morgen soll ein gigantisches Fundament gegossen werden. Am Abend wollte er eigentlich mit seiner Familie ein Fußballspiel schauen. Doch dann ruft ihn die Frau an, mit der er vor einigen Monaten auf einer Dienstreise fremdgegangen ist. Ihr gemeinsames Kind wird diese Nacht zur Welt kommen – 2 Monate zu früh und sie hat Angst. Ivan tut das in seinen Augen einzig Richtige. Er fährt zu ihr nach London.
Der Film zeigt quasi in Echtzeit die 1 ½ Stunden Fahrt von Birmingham nach London und wie Lockes geordnetes Leben währenddessen am Telefon implodiert. Seine Frau will ihn nie wieder sehen, er wird entlassen, sein Ersatz ist ein planloser Trinker, der die morgige Aktion kaum bewerkstelligen kann. Locke ist in seinem immer klaustrophobischer werdenden Wagen gefangen, kann den Hiobsbotschaften aus der Freisprechanlage nicht entgehen so schnell er auch fährt. Gelegentlich scheinen die Bilder ein wenig offensichtlich, wenn der korrekte Locke von stabilen Fundamenten spricht, während seine Entscheidungen dafür gesorgt haben, dass er nun durch eine finstere Leere einzig unterbrochen von fragmentierten Lichtern rast. Das hat für mich allerdings sehr gut funktioniert. Die einzigen Momente, in denen der Film mich zu verlieren drohte, waren die in denen Locke mit seinem toten Vater im Rückspiegel einseitige Zwiesprache hielt. Das schien mir wie ein ebenso verzweifelter, wie überflüssiger Versuch Lockes Charakter noch eindeutiger zu machen, zu unterstreichen, wie sehr in sein eigener Fehltritt Monate zuvor erschüttert hat, ohne aber seinen moralischen Kompass zu beeinträchtigen. Das sind jedoch nur zwei oder drei kurze Szenen im Film, die absolut nichts daran ändern, dass mich der Film sehr berührt hat.
Was man Knight vermutlich wirklich hoch anrechnen muss, ist dass er es vollständig dem Zuschauer überlässt Lockes Verhalten zu bewerten. Man könnte sicherlich argumentieren, dass dadurch, dass Locke der einzige Charakter ist, den wir im Film zu sehen bekommen, alle anderen nur Stimmen am Telefon sind, seine Argumentation automatisch die Stärkere sei, allerdings ist er letztlich eine Charakter, der vor allem mit sich selbst Zwiestreit ist.
Hardy legt seinen Locke weit zurückgenommener als viele seiner anderen Rollen an. Gelegentlich scheint er fast robotisch seinen moralischen Imperativen zu folgen, wird aber immer wieder von seiner eigenen menschlichen Fehlbarkeit unterwandert. Ihm gelingt jedenfalls, was ihm gelingen muss, den Zuschauer für knapp 90 Minuten gefangen zu nehmen mit einer annähernd hypnotischen One-Man-Show.
Der einzige, mit ‚No Turning Back‘ vergleichbare Film, den ich hier besprochen habe, wäre wohl Jafar Panahis ‚Taxi Teheran‘. In der direkten Gegenüberstellung zeigen sich aber mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten. Während die Beschränkung des Handlungsortes bei Panahi aus ganz reellen Gründen der Sicherheit geschah, ist es bei Knight eine gewollte dramatische Reduktion, ein Experiment (oder, wenn man böse sein will, ein Gimmick). Während bei Panahi jederzeit das Leben ins Taxi wehen konnte, scheint es bei Knight über die Zeit immer mehr zu entweichen. Oder kurz: bei Panahi scheint die Sonne, bei Knight ist es Nacht.
‚No Turning Back‘ ist sicherlich kein Film für jeden. Die einen werden sich entsetzlich langweilen, einem Mann 90 Minuten lang beim Telefonieren zuzusehen, die anderen (und zu denen zähle ich mich) sehen eine tiefe Charakterstudie, eine Meditation, was Maskulinität in der heutigen Welt bedeutet oder bedeuten kann. Ein sehr guter Film, mit einem sehr guten Hardy*. Ein gelungenes Experiment.
* Frage: ist Tom Hardy der Schauspieler, der am häufigsten mit sich selbst spricht? Hier in den Szenen mit seinem Vater, in ‚Legend‘ sowieso und derzeit wohl auch in ‚Venom‘…
Ich fand den Film tatsächlich auch sehr packend und auf spezielle Art und Weise mitreißend. Aber eben auch anstrengend und bestimmt nichts, was ich öfter sehen muss. Dennoch muss man dem Regisseur und auch seinem Hauptdarsteller Respekt dafür zollen.
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„‚No Turning Back‘ ist sicherlich kein Film für jeden.“
Welchen Film würdest du denn als Film für jeden klassifizieren?
Davon abgesehen ist Locke ein Musterbeispiel für ein auf eine Person reduziertes Kammerspiel. Andere Beispiele, die ich sehr genossen habe, waren Buried, 127 Hours und Nicht Auflegen (wobei Buried Locke am ähnlichsten ist; bei den anderen beiden sieht man tatsächlich mehrere Personen)
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„Welchen Film würdest du denn als Film für jeden klassifizieren?“
Jetzt hinterfrag doch nicht meine Klischees… 🙂
Die Antwort ist aber natürlich „Zurück in die Zukunft“.
127 Hours ist ein sehr guter Vergleich! Mir fielen nur unpassende ein, wie Cast Away oder Moon…
Buried muss ich tatsächlich noch schauen.
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Ist auf jeden Fall eine sehr gute Antwort 🙂
Also wenn dir Locke gefallen hat, dann sollte es Buried auch. Fand den nochmal eine Spur unterhaltsamer.
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