‚Anomalisa‘ (2016) – „Sometimes there’s no lesson. That’s a lesson in itself.“

Ich sage es an dieser Stelle ja häufiger, aber meiner Meinung nach durchleben wir derzeit ein goldenes Zeitalter der Animation. Seien es Filme für Kinder, für Familien oder solche, die sich direkt an Erwachsene richten, wie ‚Anomalisa‘. Das Stop-Motion Werk beruht auf einem Theaterstück, das Charlie Kaufmann (‚Adaptation‘, ‚Being John Malkovich‘) 2005 geschrieben und mit drei Schauspielern auf die Bühne gebracht hat. Die Filmumsetzung geschah mit Hilfe des Stop-Motion Regisseurs Duke Johnson, der unter anderem für die Stop-Motion Weihnachtsfolge der Serie ‚Community‘ verantwortlich zeichnet. Ein Gutteil des Films wurde via Crowdfunding, die Figuren stammen aus einem 3D Drucker, was ihnen einen sehr ungewohnten Look verleiht. Kommen wir zur Handlung:

Im Film spricht David Thewlis den Autor Michael Stone, der ein Buch über Motivationstraining im Kundenservice geschrieben hat. Daher wurde er eingeladen bei einer Kundenservicekonferenz in Cincinnati eine Rede zu halten. Der Film beschreibt zum größten Teil den Vorabend der Konferenz in Michaels Hotel. Michael leidet an einer Wahrnehmungsstörung: alle anderen Menschen, selbst seine Frau und sein Sohn, haben dasselbe Gesicht und dieselbe Stimme (alle Puppen stammen aus derselben Form und werden von Tom Noonan gesprochen, der auch alle Lieder im Radio etc. singt). Umso aufgeregter reagiert er, als er auf dem Flur vor seinem Zimmer eine andere, weibliche Stimme hört. Diese gehört Lisa Hesselman (Jennifer Jason Leigh), einer Kundendienstmitarbeiterin, die extra für seine Rede angereist ist. Michael ist begeistert auf einen anderen „echten“ Menschen („eine Anomalie“) zu treffen und Lisa ist hin und weg den Autor getroffen zu haben, dessen Buch sie sehr beeindruckt hat.

Kaufman ist so etwas wie der Psychoanalytiker des Kinos. Seine Charaktere sind stets wahrhaftig und komplex, aber niemals haben sie die Kontrolle über ihre Situation. Ihre Erinnerungen können gelöscht werden (‚Eternal Sunshine of The Spotless Mind‘), sie sind nur ein Kostüm für zahlende Kunden (‚Being John Malkovich‘), ihr Profil ist wichtiger als ihre Persönlichkeit (‚Confessions of a Dangerous Mind‘) oder sie sind Kaufman selbst und werden von ihrem Zwillingsbruder ausgenutzt (‚Adaptation‘). Am auffälligsten wurde es vielleicht in dem Film, bei dem er selbst Regie geführt hat, ‚Synecdoche, New York‘, in dem sie alle Darsteller im Stück eines anderen sind. Ob Michaels Wahrnehmung seiner Mitmenschen als völlig austauschbare Figuren einen ganz gewöhnlichen Narzissmus darstellt oder ein tiefergehendes Problem, dass lässt Kaufmann weitgehend offen (wobei der Name des Hotels ein Hinweis sein könnte). Michael ist kalt und distanziert und er weiß, dass er kalt und distanziert ist. Wie bei allen Kaufman-Charakteren geht eine jede Aussage direkt mit der Frage „warum habe ich das gesagt?“ einher.

Mit dem Auftauchen von Lisa ergibt sich für diesen merkwürdigen, tragischen, introvertierten Charakter, für den das Bestellen eines Essens auf sein Zimmer eine minutenlange Mühe darstellt, eine Chance ein romantischer Held zu werden. Denn nicht nur sieht er Lisa als einen distinkten Menschen, Lisa sieht ihn nicht als merkwürdig, tragisch und introvertiert, sondern bewundert ihn, aufgrund seines Buches. Kaufman be- oder verurteilt seine Charaktere nicht. Von daher bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob der Umgang der Beiden durchweg romantisch ist, oder ob Michaels Werben nicht ein eher raubtierhaftes Verhalten eines deutlich älteren Mannes darstellt. Spät im Film, als Michael seine Rede hält und vor einem Auditorium voll exakt gleicher Menschen steht, erinnert er sie daran, dass jeder Kunde ein Individuum sei. Diesen Moment hätte vermutlich jeder andere ironisch inszeniert, bei Kaufman wirkt er beinahe tragisch, eben weil wir den ganzen Film aus Michaels völlig subjektiver Sicht erleben.

Von allen Animationsfilmen, die ich je gesehen habe, dürfte das hier wohl der alltäglichste sein. „Mann trifft Frau in der Hotelbar und man geht gemeinsam aufs Zimmer“ ist vermutlich weltweit etwa 20 mal passiert, während Ihr den Text hier gelesen habt. Womöglich sogar in Cincinnati. Die Puppen sind erstaunlich menschlich. Nicht nur von ihrem Ausdruck her, sondern von ihrem Bau. Sie haben Wohlstandsbäuchlein und Narben. Die Harre stehen ab und sie finden ihre Hosen nicht. Das einzige was sie vom Menschen unterscheidet ist eine Linie an den Augen. Die stammt daher, dass Unterteil und Oberteil des Gesichts unabhängig voneinander ausgetauscht werden können. Allerdings lässt es sie aussehen als würden sie eine Maske tragen. Etwas das Michael im Film sogar bemerkt und beginnt seine Gesichtshälften auseinanderzuziehen.

Womöglich aber brauchte Kaufman den Umweg über die Puppen, um dem Kern näher zu kommen. Denn wo ich ‚Synecdoche, New York‘ als schwer zugängliche Nabelschau  empfunden habe, ist ‚Anomalisa‘ ein weit zugänglicher Film. Obwohl von Puppen bevölkert zeigt er keine Realität in die wir uns eingewöhnen müssten, sondern die in der wir bereits leben. Und vielleicht ist es sogar der Kaufman-Film, der der Beantwortung der zentralen Frage aller seiner Filme am nächsten kommt: können wir einen anderen Menschen lieben, wenn wir uns nicht selbst lieben.

David Thewlis ist sehr gut als Michael. Er spricht ihn abwechselnd hilflos seufzend und wütend grummelnd. Der Situation ergeben und verzweifelnd oder fest entschlossen zu Romantik und Flucht. Jennifer Jason Leigh liefert das exakte Gegenstück zu ihrer, im selben Jahr gespielten, Daisy Domergue aus ‚Hateful Eight‘ ab. Still und zurückgenommen, aber dennoch bezaubernd. Ein wenig unter geht bei Besprechungen meist die Leistung von Tom Noonan. Dabei dürfte der insgesamt am meisten zu tun haben, als alle Nebenfiguren. Es gelingt ihm diese distinkt zu machen, ohne dass er sie wirklich erkennbar anders spricht. Der Effekt ist oft genug ebenso lustig wie verstörend und sicherlich zentral für das Gelingen des Films.

Im Fazit ist ‚Anomalisa‘ nicht nur für den Animationsfilm, sondern auch für Kaufmans Werk ein erstaunlich alltäglicher Film, der genau deswegen und wegen des geschickten Einsatzes der Puppen nur umso menschlicher wirkt und dabei berührend und lustig zugleich ist.

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