Hallo zusammen. Dies könnte der erste Teil einer neuen (sehr losen) Reihe über Filme, die aus dem einen oder anderen Grund verboten wurden, werden. Dabei muss der Film oder das Verbot natürlich ein wenig über das Alltägliche hinausgehen. Und auf den heutigen Film trifft beides zu. Es war der erste Spielfilm mit einer Länge von über einer Stunde, wurde in Teilen seiner Heimat verboten, inspirierte zu Gesetzen, die ein Genre abtöteten, noch bevor es wirklich entstehen konnte und war zumindest Teil der Begründung für Jahrzehnte drakonischer Vorgaben, was den Inhalt von Filmen angeht. Wir sprechen heute über den australischen Film ‚The Story of the Kelly Gang‘ von 1906.
Bevor wir zum Film selbst kommen müssen ein paar (oder mehr) Worte zur Situation im ländlichen Australien in der 2ten Hälfte des 19ten Jahrhunderts, zu Bushrangern und zu Ned Kelly selbst gesagt werden. Die Geschichte Australiens als reine Strafkolonie endete weitgehend in den 1850er Jahren. Doch, womöglich als Überbleibsel der Strafkoloniezeit, neigte die Polizei, gerade in abgelegenen Gebieten, zu Brutalität und Korruption. Weiterhin brach in den 50er und 60er Jahren ein Goldrausch-Fieber aus. Viele junge Männer zogen sich aus der Gesellschaft in den Busch zurück und wurden „Bushranger“. Oftmals brutale Straßenräuber, die in mehr oder weniger großen Banden organisiert waren und dank zahlreicher Goldtransporte lukrative Beute machten. Sie genossen oftmals große Sympathie in der armen Bevölkerung, als Symbole des Widerstands gegen ein unfaires Establishment.
Edward „Ned“ Kelly wurde 1854 in Victoria, nördlich von Melbourne geboren. Mit 11 Jahren rettete er unter Einsatz seines Lebens ein anderes Kind vor dem Ertrinken und wurde dafür mit einer Schärpe ausgezeichnet, die er bis zu seinem letzten Gefecht tragen würde. Mit 15 Jahren wurde er wegen des Überfalls auf einen Schweinezüchter und Pferdediebstahl erst zu 6 Monaten und dann 3 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 3 Wochen nach seiner Freilassung war er schon wieder zusammen mit seinem Bruder Dan in dubiose Viehgeschäfte verwickelt. Als ein Polizist Neds Mutter 1878 nach seinem Aufenthaltsort befragte und dabei handgreiflich wurde, stürmte Ned aus dem Nebenzimmer und es kam zu einem Handgemenge, bevor er floh. Der Polizist warf ihm versuchten Mord vor und Ned tauchte endgültig im Busch unter. Eine Gruppe Polizisten, die ihn und seine Komplizen (darunter sein Bruder Dan) verfolgten, wurden von der Bande brutal ermordet. Es folgten zwei Banküberfälle. Das Geld aus diesen nutzte Kelly für die Anfertigung gusseiserner Rüstungen für sich und seine Gang, die ihr Markenzeichen werden sollten. Eine Gruppe Soldaten auf ihrer Spur wurde ebenfalls beinahe vollständig von ihnen getötet.
Unter Mithilfe zahlreicher Sympathisanten konnte Kelly den Behörden für 2 Jahre immer wieder entkommen. Ein wichtiger Moment in seiner Geschichte war, als er in der Polizeistation von Jerilderie die Besatzung als Geiseln nahm, für sich und seine Bande Zimmer im Hotel der Stadt erpresste und sich den Geldvorrat der örtlichen Bank aushändigen ließ. Wie bei allen Banküberfällen, verbrannte Kelly auch hier die Schuldenbücher der Bank, einer der Gründe für seine Beliebtheit. Doch in Jerilderie ging er weiter. Er ließ einen Brief zurück, der von einer mythischen Tradition irischer Rebellion sprach und alle Iren zum Widerstand gegen ungerechte britische Gesetze aufrief. Nicht nur in Australien, sondern überall. Es folgten quasi-marxistische Forderungen nach Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit. Es gibt keine Hinweise, dass Kelly jemals tatsächlich an solch hehren Zielen interessiert war, doch arbeitete er an seinem eigenen Mythos. In Wirklichkeit verzichtete er weitgehend auf den „gibt den Armen“ Teil des Robin Hood Daseins. Doch achtete er peinlich darauf, dass seine Männer den Armen nichts wegnahmen, oder sie gar zu Schaden kämen. Außer wenn sie ihn verrieten, das war ein Todesurteil für jeden. So sicherte er sich beinahe überall, insbesondere aber unter den irischstämmigen Australiern, zu denen die Kelly Family (Verzeihung) auch gehörte, treue Unterstützer.
1880 zogen sich die Schlingen der Behörden aber doch zu. Eine große Polizeitruppe umstellte das Dorf Glenrowan, wo sich die Bande aufhielt. Die Kelly Gang nahm die Bevölkerung als Geiseln und verbarrikadierte sich im Hotel. Zum Abend hin versuchten sie in ihren Rüstungen einen Ausbruch aus dem inzwischen fest umstellten Gebäude. Allerdings schützten die Rüstungen die Beine nur unvollständig, was die Polizisten inzwischen auch wussten. Der Großteil der Bande wurde zurück ins Hotel getrieben, Kelly versuchte schwer verletzt in der Dunkelheit zu entkommen. Im Hotel brach Feuer aus, vermutlich Brandstiftung durch die Polizei, und die Bande ließ ihre Geiseln frei. Bei der folgenden Schießerei mit der Polizei kamen sie alle ums Leben. Kelly wurde lebendig gestellt und festgenommen.
Im Oktober 1880 wurde er vor Gericht gestellt. Einen Anwalt konnte er sich nicht leisten, ein Pflichtverteidiger wurde ihm verwehrt. Die „Gerichtsverhandlung“ dauerte gut 20 Minuten und endete mit einem Todesurteil durch Hängen. Kelly hielt eine Rede über die Ungerechtigkeit des Staates (die seine Verhandlung gerade eindrucksvoll bewies) und lieferte sich lautstarke Wortgefechte mit dem Richter Barry. Als er aus dem Saal geführt wurde versprach er Barry, sie würden sich schon bald wiedersehen. Am 11. November 1880 wurde das Urteil, trotz eines Gnadengesuchs mit zehntausenden Unterschriften, vollstreckt. Kellys letzte Worte sollen „Such is life“ gewesen sein. Er wurde 25 Jahre alt. 12 Tage später starb Richter Barry eines natürlichen Todes.
Schon in dieser kondensierten Form lässt sich hoffentlich erkennen, warum Kellys Leben zum Mythos und er gar zum australischen Nationalhelden wurde. Dazu galt er noch als der letzte echte Bushranger. Bald gab es erfolgreiche Theaterstücke und Bücher über sein Leben. Und gut 25 Jahre nach seinem Tod machten sich zwei bereits etablierte Partnerschaften daran mit ‚The Story of the Kelly Gang‘ einen Film über sein Leben zu drehen. Theaterregisseure John und Nevin Tait würden den kreativen Teil übernehmen, während die Filmproduzenten William Gibson und Millard Johnson das Budget, 1000 australische Dollar, beisteuern würden. Für die Taits war klar, dass Kellys Leben nicht in einem 10 Minuten Film Platz finden würde. Und so filmten sie 6 Sequenzen, die zusammen eine Laufzeit von über einer Stunde hätten. Sie waren sich anfangs offenbar gar nicht bewusst, dass sie damit den längsten Spielfilm dieser Zeit schaffen würden. Später warb der Film aber mit dieser Tatsache.
Über das Filmen selbst kann kaum etwas gesagt werden. Die Beteiligten machten später derart widersprüchliche Aussagen, dass selbst die Schauspieler nicht mehr sicher festgestellt werden können. Sicher ist: die Taits schrieben das Drehbuch gemeinsam, Regie führte Charles. Die Dreharbeiten dauerten 6 Monate. Die einzelnen Sequenzen sind:
- Die Polizei plant die Festnahme der Kellybrüder, der Angriff auf Mutter Kelly und das Handgemenge mit Ned
- Die Ermordung der verfolgenden Polizisten
- Ein Banküberfall
- Flucht vor der Polizei, Ermordung eines Verräters
- Die Einkesselung in Glenrowan
- Neds letztes Gefecht
Wie damals üblich zeigte der Film das Geschehen aus einer für das Publikum aus dem Theater gewohnten Perspektive, eine Totale aus mittlerer Entfernung. Ungewöhnlich war jedoch, dass zumindest frühe Versionen des Films nicht mit den für Stummfilme üblichen Zwischentiteln arbeiteten, sondern bei Vorstellungen mindestens ein Erzähler, oft aber auch mehrere Sprecher anwesend waren. Auch Geräusche, Platzpatronen bei Schießereien etwa, oder Kokosnussschalengeklapper für Hufgetrappel, fanden Anwendung. Erstaunlicher Weise beklagten sich zeitgenössische Rezensionen über diesen ungewohnten „Lärm“. Beim zahlenden Publikum muss es aber gut angekommen sein.
Der Film wurde ein großer Erfolg. Spielte in kurzer Zeit 25.000 Dollar ein. Doch obwohl die Macher gezielt auf manche, womöglich staatsfeindlich wirkende, Elemente der Geschichte verzichtet haben, etwa das Jerilderie Manifest oder die unfaire Gerichtsverhandlung (Kelly stirbt im Film bei der Schießerei mit der Polizei), fiel den Behörden die „Verherrlichung“ des Bushrangers durch den Film negativ auf. Im Mai 1907 überfielen dann 5 Jugendliche mit einer Pistole ein Fotostudio in der Stadt Ballarat, erbeuteten eine kleine Summe Geld und bedrohten anschließend jüngere Kinder mit der Waffe. Ob die Jugendlichen selbst den Zusammenhang mit dem Film herstellten oder Behörden und/oder Medien das erledigten weiß ich nicht, aber es wurde dem Film zur Last gelegt. Ein Anlass zum staatlichen Einschreiten war geschaffen. Der Film wurde zunächst in Regionen verboten in denen Kelly aktiv war und besonders verehrt wurde. Dieses Verbot wurde bald auf den ganzen Bundesstaat Victoria ausgeweitet. Die Macher tourten währenddessen mit ihrem Film bereits durch Neuseeland und Großbritannien, wo man zwar nicht unbedingt den Namen Ned Kelly kannte, aber „der längste Film der Welt“ doch ein interessiertes Publikum lockte.
In Australien rief der Erfolg des Films Nachahmer auf den Plan. Es gab immerhin noch Dutzende namhafte Bushranger, deren Leben sich verfilmen ließ. Ein veritables, uraustralisches Genre schien im Entstehen. Bis 1912 entstanden beinahe 100 Bushranger Filme. 1912 wurden Gesetze angepasst um gezielt die Produktion von Filmen, die staatliche Organe, wie etwa die Polizei, in negativem Licht darstellen zu unterbinden. 1920 wurde an einem neuen Film über die Kelly Gang gearbeitet. Die Regierung fürchtete ein Verbot könne, wie beim letzten Mal, zu einem Ausweichen des Filmverleihs auf den internationalen Markt führen. Daher wurde kurzerhand der Export von Filmen, die Australien international in ein negatives Licht rücken könnten verboten.
Kurz, die australische Regierung hatte ihre eigene Filmindustrie erfolgreich sabotiert. Obwohl den Machern des Auslösers all dieser Verbote kein Schaden entstanden ist. Als ein Großteil der Verbote in den 40er Jahren wieder aufgehoben wurde, war die Nachfrage nach Bushranger Filmen verschwunden. Auch wurden alsbald neue drakonische Regulationen erlassen, die die Darstellung von Sexualität oder Gewalt im Film mehr oder weniger verboten. Diese wurden erst Anfang der 70er Jahre wieder aufgehoben. Es folgte eine kreative Explosion, die uns Filme wie ‚Wake In Fright‘ (1971) oder natürlich die Mad Max Reihe bescherte. Wer sich für diese wilde Zeit interessiert, dem sei die unterhaltsame Doku ‚Not Quite Hollywood‘ von Mark Hartley (‚Electric Boogaloo‘) empfohlen.
Ich bin mir sicher Ned Kelly hätte die Aufregung, die er all den australischen Behörden noch nach seinem Tod bereitet hat, großen Spaß gemacht. ‚The Story of the Kelly Gang‘ galt übrigens seit Mitte der 40er Jahre als verschollen. Hier und da tauchten kurze Streifen auf. 1978 tauchte ein längeres Stück Film bei einem Sammler auf. 1980 fanden Kinder mehrere Meter Filmmaterial auf einer Müllkippe. Und 2006 wurde das längste Stück bei einem Sammler in Großbritannien entdeckt. Gerade rechtzeitig für eine Restauration der vorhandenen Minuten zum 100. Geburtstag. Hier ist alles verfügbare Material:
Man beachte die merkwürdig passende Zerstörung des Silbernitratfilms am Ende bei Kellys Tod. Dieses restaurierte Material ist seit 2007 Teil des Weltdokumenterbes der UNESCO.
Ganz ehrlich einer der interessantesten Beiträge, die ich seit langem gelesen habe.
Ich frage mich, ob es die Kinolandschaft nachhaltig verändert hätte, wenn der australische Buschranger vor dem amerikanischen Western die (Kino)welt erobert hätte.
Ich freue mich jedenfalls schon auf weitere Beiträge dieser Art und werde mir den Film über die Kelly Famliy in den nächste Tagen anschauen.
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Mit „Film“ meine ich natürlich die Fragmente.
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Die Kelly Fragments. Also Joey und wer sonst noch so rumläuft. 😉
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Die dann doch lieber nicht. 😉
Kennst du eigentlich den 2003 er Film Ned Kelly mit Heath Ledger und Orlando Bloom?
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Der ist mir bei der Recherche aufgefallen. Sah jetzt nicht besonders mitreißend aus, aber Kellys Geschichte ist inrteressant genug, dass der Film eigentlich nicht ganz schiefgehen sollte.
Etwas merkwürdiger sieht die Verfilmung von 1970 mit Mick Jagger als Kelly aus…
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Nach dem Jagger-Kelly habe ich bewusst nicht gefragt. Der sah mir bei der Recherche nach deinem Artikel auch seltsam aus 😂
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Bleibt nur zu hoffen Ledger hat nen vernünftigen Bart im Film. Auf Fotos sieht Kelly aus wie eine gewaltige Masse Haare mit ’nem Gesicht irgendwo dahinter. 😉
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In den Fragmenten sah das ganz ordentlich aus.
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„Ganz ehrlich einer der interessantesten Beiträge, die ich seit langem gelesen habe.“
Das freut mich!
„Ich frage mich, ob es die Kinolandschaft nachhaltig verändert hätte, wenn der australische Buschranger vor dem amerikanischen Western die (Kino)welt erobert hätte.“
Japp. Das ist natürlich reine Spekulation, aber 1906 waren zumindest noch alle Türen offen. Und die Mischung aus Western und Gangsterfilm hätte in den 20ern und 30ern womöglich genau den Zeitgeschmack getroffen.
Oder es wäre ein kurzes Anschwellen von Interesse an Australien und ebenso schnelles Einschlafen desselben geworden, so ala Crocodile Dundee. Wer weiß.
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Interessante Idee. Bin gespannt, was für verbotenes Material du da noch so ausgräbst…
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Was für eine Story! Wunderbar nacherzählt von deiner Seite! Vor allem, dass der Richter nur 12 Tage nach Kelly starb, ist so verrückt und unglaubwürdig, dass es wahr sein muss ^^
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Ehrlich gesagt, das mit dem Richter ist der Teil, den ich am meisten bezweifle (war glaube ich nur in einer Quelle) aber letztlich zu gut um es auszulassen… 😉
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