‚A Ghost Story‘ (2017)

Nostalgie. Heute vor allem ein Marketingbuzzword, das etwa jene verklärte Version der 80er Jahre beschreibt, die uns Filme und Serien nur zu gern verkaufen wollen. Das Wort setzt sich zusammen aus den griechischen Begriffen für Heimkehr und Schmerz. In dieser Form wurde es zum ersten Mal in Zusammenhang mit schweizerischen Söldnern des späten 17ten Jahrhunderts erwähnt, denen man verbot die Hirtenlieder ihrer Heimat zu singen, weil sie dadurch ein extremes Heimweh entwickelten. Fast jeder wird es selbst schon einmal gespürt haben. Beim Betrachten von Fotos vielleicht, beim Blättern in alten Schulheften oder beim Betreten des Hauses der Kindheit. Auch unser Film beginnt mit einem Moment extremer Nostalgie und nimmt diesen als Absprungpunkt für eine Betrachtung über das Menschsein und was von uns bleibt.

Eine Frau (Rooney Mara) und ein Mann (Casey Affleck) leben in ihrem ersten Haus, nachdem sie geheiratet haben. Es ist schon älter und etwas heruntergekommen. Sie würde gern in die Stadt in eine moderne Wohnung ziehen, er würde gern in dem Haus bleiben. Eines Tages stirbt er in einem Autounfall vor dem Haus. Im Keller des Krankenhauses erhebt er sich samt dem Leichentuch und wandelt als unsichtbarer Geist durch die Gänge. Als sich in der Wand vor ihm ein großes Tor auftut, vermutlich zum Nachleben, nutzt er das nicht, sondern wandert schnurstracks zurück zu seinem Haus. Hier beobachtet er seine Frau bei der Trauerbewältigung, bei der Rückkehr zur Normalität und wie sie schließlich ohne ihn weiterlebt.

Zeit ist ein wesentliches Element des Films. Nicht nur weil Nostalgie ein Gefühl ist, das ohne eine gewisse Zeit nicht existieren kann. Der Film fängt auch das unterschiedliche Erleben von Zeit großartig ein. So zeigt uns Autor/Regisseur David Lowery in zwei minutenlangen, statischen Aufnahmen, wie Rooney Maras Charakter, kurz nach dem Tod ihres Mannes, quasi einen kompletten Kuchen direkt aus der Form isst, bevor sie zum Klo läuft und sich übergibt. Demgegenüber stehen stakkato-artige Szenen täglicher Routine, wie sie die Schuhe anzieht, die Schlüssel greift und zur Tür hinausläuft, die ganze Wochen in Sekunden beschreiben. Eindrucksvoll auch eine Szene die zwei Momente einander gegenüberstellt. Einen in dem er, ein Musiker, seiner Frau seinen neuen Song zum ersten Mal zu hören gibt und den Moment, wenn sie ihn nach seinem Tod zum ersten Mal hört.

Zeit ist auch insofern entscheidend, dass bereits nach der Hälfte der Laufzeit der Moment erfolgt, der ein logischer (und, zugegeben, der von mir erwartete) Endpunkt für die Geschichte gewesen wäre. Sie verlässt das Haus und sein Geist bleibt in einem manischen Versuch zurück an eine Botschaft von ihr zu kommen, die sie in die Ritze eines Türstocks geschoben hat. Ab hier wird der Film von einer persönlichen Trauergeschichte zu etwas Größerem. Er und damit wir als Zuschauer müssen feststellen, dass mit unserem Tod die Zeit auch nicht für eine Millisekunde aus dem Tritt kommt und wenden uns stattdessen der bangen Frage zu, was wohl von uns bleiben mag. Der spiritus loci, auf ewig an sein kleines Haus in Texas gebunden, wird zu einer Art Weltgeist, der extreme metaphysische Fragen zu stemmen hat. Dabei findet der Film einen eleganten Weg zwischen poetischer Hoffnung und existentiellem Nihilismus, zusammengefasst in einer der wortreichsten Szenen von einem angetrunkenen Hobbyphilosophen auf einer Party.

Ich habe einige Stimmen gelesen, die Lowery mit Terrence Malick vergleichen. Und tatsächlich ist der gedankliche Sprung zu ‚Tree of Life‘, in dem Malick die Geschichte einer texanischen Vorortfamilie mit der Geschichte der Menschheit, ja der Welt an sich verknüpft ein recht offensichtlicher. Lowerys Film ist allerdings geradliniger, er verzichtet auf gehauchte Voice Over (und auf megareiche Langweiler, die sich im Kreis drehen, was Vergleiche mit aktuelleren Malicks ohnehin hinfällig macht), ja für die meiste Zeit verzichtet er weitgehend auf Dialoge. Der Geist spricht ohnehin nicht und in der kurzen Zeit, in der er auf typisches Poltergeistern verfällt sind sämtliche Dialoge auf Spanisch, ohne Untertitel zu hören. Ein wenig fühlte ich mich auch an Wim Wenders ‚Der Himmel über Berlin erinnert‘ dort gibt Bruno Ganz‘ Damiel die Rolle des ewigen Beobachters auf, um sterblich zu werden, hier wird Afflecks Charakter zum ewigen Beobachter gemacht.

‚A Ghost Story‘ erzählt in Bildern. In einem 4:3 Format mit abgerundeten Ecken, wie ein Familienfilm in einer alten Kramkiste gefunden, oder ein Familienfoto, das an einer nicht oft beachteten Stelle im Gang hängt, dessen Fehlen aber dennoch schmerzhaft auffallen würde. Das Geisterkostüm, ist einerseits absichtlich so gestaltet, dass es aussieht wie das billigst mögliche Halloweenkostüm, das alte Bettlaken mit zwei Löchern drin, andererseits scheinen die Tücher eine Schwere zu haben, eine Last für den Geist zu sein, die nur langsame und damit würdevolle Bewegungen zuzulassen. Diese Langsamkeit, gemeinsam mit der Kamera drückt denn auch die Gemütsverfassung des Gespenstes eindrucksvoll aus.

Ich habe keine Ahnung, ob nun wirklich Casey Affleck unter den Laken steckte (bei Michael Fassbender in ‚Frank‘ konnte man immerhin noch seine Stimme hören), aber zumindest in der Zeit in der er und Rooney Mara zu sehen sind, sind sie toll. Sie haben eine derart gute Chemie miteinander, dass wir ihre Liebe trotz der wenigen Dialoge, die dann meist auch noch Dispute darüber, ob sie nun umziehen sollen oder nicht sind, geradezu spüren. Das mag auch damit zu tun haben, dass die Idee zu dem Film genau einer solchen Diskussion entsprang, die Lowery über einen möglichen Umzug mit seiner Frau geführt hatte (in wie weit der Film diese Diskussion beeinflusst hat entzieht sich aber meiner Kenntnis…).

Die Musik von Daniel Hart nutzt den Song, den im Film Afflecks Charakter geschrieben hat, als ein zentrales Element. Wie Hart in einem Making of beschreibt nutzt er extrem verlangsamte Passagen aus dem Song als atmosphärische Untermalung für viele Szenen und unterstützt so das zentrale Thema um das Erleben von Zeit. Dazu kommen ein gespenstisch-melancholischer Streicher-Soundtrack, sowie der punktgenaue Einsatz von Beethovens Ode an die Freude.

Wow, die letzten Wochen habe ich echt ein gutes Händchen bei der Filmauswahl. Hier zeigt uns Lowery problemlos, dass bei allem verdienten Gemäkel über Hollywood, aus den USA immer noch beeindrucken-überraschende Filme kommen können, produziert für einen Betrag (100.000 Dollar), der bei Marvel noch nicht einmal das Catering finanzieren würde. Ich habe jetzt jedenfalls das Bedürfnis alles von Lowery zu sehen. ‚The Saints‘, ‚Ein Gauner und Gentleman‘ und sogar ‚Elliott, der Drache‘. Ja, ich möchte ein Disney Remake sehen. Entweder sagt das was über die Magie dieses Films, der mir jetzt seit Tagen durch den Hirnkasten spukt aus, oder irgendwer sollte mir dringend Hilfe schicken!

8 Gedanken zu “‚A Ghost Story‘ (2017)

    • Es hat mich wirklich überrascht, dass der Film nur gut 90 Minuten lang ist, er fühlt sich länger an… also nicht im negativen Sinne. 😉
      Ist damit aber leichter unterzubringen als der durchschnittliche Marvel-Film.

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  1. Eine sehr schöne Besprechung. Die Aspekte „Zeit“ und „Nostalgie“ habe ich genauso erlebt wie du es beschreibst. Zusätzlich würde ich noch ergänzen, dass es im Film auch noch um das Loslassen geht, das dem Geist während und nach seines Lebens einfach nicht gelingen will. Das fand ich sehr schön. Allerdings finde ich schon, dass es Lowry in einigen Szenen mit der Darstellung der Zeit etwas übertreibt. Erstaunlicherweise ist mir da weniger die Kuchenszene in Erinnerung geblieben, als eine Szene, in der Affleck (oder Mara?) gefühlt 20 Minuten lang den Müll rausbringt. Das hätte es dann meiner Meinung nach dann doch nicht gebraucht. Insofern war der Film, auch wenn er mir bis heute im Kopf geblieben ist, an einigen Stellen durchaus anstrengend.

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    • Das mit dem Sperrmüll war Mara. Und die Szene ist vor allem deshalb frustrierend, weil sie mehrmals an einem Grasstück hängen bleibt und man geradezu in den Film hineinlangen möchte, um kurz mit anzufassen. 😉

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