Einige verschollene Filme, die ich gern sehen würde

Nimmt man einen ungefähren Mittelwert der Schätzungen von Organisationen, die sich damit beschäftigen, dann muss man davon ausgehen, dass ungefähr 80% aller Stummfilme verloren sind. Das lag vor allem daran, dass Studios Filme weitgehend als „Wegwerfartikel“ sahen. Wozu ein Archiv bewahren, wenn man jedes Jahr neue Filme dreht, die gesehen werden wollen? Und Fernsehen gab es noch nicht. Dazu kommt noch, dass Stummfilme auf, im wahrsten Sinne des Wortes, brandgefährlichem Nitratfilm gedreht und gelagert wurden. MGM war eines der wenigen Positivbeispiele für ihren Erhalt ihres Stummfilmkatalogs. Aber dann brach in ihrem Lager 1965 ein verheerendes Feuer aus. Daneben ist der Film für Langzeitlagerung nicht geeignet, da er sich irgendwann selbst zersetzt.

Und so spricht der Titel zwar von „verschollenen“ und nicht „verlorenen“ Filmen, da eine geringe Chance besteht, dass sie irgendwo noch in einem restaurationsfähigen Zustand gefunden werden, doch mache ich mir keine großen Hoffnungen irgendeinen der folgenden Filme je wirklich zu sehen.

Nun ist das was man nicht haben kann ja grundsätzlich spannender als das einfach verfügbare und so bekommen verschollene Filme oftmals diese Aura eines tragischen Meisterwerks. Die mag nicht immer verdient sein (wir werden‘s aber nicht erfahren), doch denke ich, dass die folgenden Filme zumindest eine gewisse Neugier rechtfertigen.

Beginnen wir mit einem Beispiel dafür, wie neue Medien direkten Einfluss auf den Lauf der Geschichte haben können. Pancho Villa war einer der wichtigsten Akteure der mexikanischen Revolution. Von Zeitgenossen und Historikern wurden ihm viele Titel zugedacht: Freiheitskämpfer, Warlord, Volksheld, Terrorist, General, Verbrecher und einer über den sich alle einig sind, Revolutionär. „Hollywood-Star“ hingegen ist ein Titel der selten Erwähnung findet. In Villas Leben war fast alles tumultartig. Nicht zuletzt seine Beziehung zu den USA. 1914 war die jedoch gut und Villa brauchte dringend Geld. Also unterschrieb er einen Filmvertrag bei der Mutual Film Corporation. Christy Cabanne würde einen Film über sein Leben drehen, mit Raoul Walsh als jugendlichem Pancho und Villa selbst würde sich als zeitgenössischer Erwachsener spielen. Die Filmcrew drehte reale Schlachten mit, die Villa austrug. Ob er dabei seine Taktik danach richtete, was Christy als cinematisch betrachtete, darf zumindest bezweifelt werden. Sicher ist, dass er während gedreht wurde eine Fantasie-Generalsuniform tragen musste. Nach Drehschluss musste er sie zurückgeben, schließlich gehörte sie dem Studio. Zurück in Hollywood erschien vieles, vor allem die Schlachtszenen als zu unglaubwürdig(!) und ganze Szenen wurden an Sets nachgedreht.

Zwei Jahre später attackierte Villa eine Stadt im amerikanischen New Mexico und führte die US-Armee auf der anschließenden, erfolglosen Strafexpedition vor. Das Verhältnis USA-Villa als „abgekühlt“ zu bezeichnen wäre eine fantastische Untertreibung. Daher war wohl niemand wirklich traurig, dass der Film in Vergessenheit geriet und verschwand. Doch aus heutiger Sicht ist es natürlich ein faszinierendes Artefakt.

‚Um Mitternacht‘ von 1927 gilt als so etwas wie der Heilige Gral unter Filmsammlern. Hier sammelte Tod Browning, vier Jahre bevor er ‚Dracula‘ für Universal drehen sollte, erste Erfahrungen mit dem Thema „Vampire“. Dabei arbeitete er als Hauptdarsteller mit Lon Chaney zusammen, dem „Mann der 1000 Gesichter“, bekannt für seine Arbeit mit Masken und seiner Fähigkeit grotesken Figuren eine erstaunliche Tiefe zu verleihen. In ‚Um Mitternacht‘ gibt Chaney den Detektiv Burke, der den Mord an Sir Roger Balfour aufklären soll. Aufgrund eines Abschiedsbriefes nimmt Burke scheinbar Suizid an. Doch fünf Jahre später zieht ein mysteriöser Fremder in das Herrenhaus Balfours. Schnell verbreiten sich Gerüchte, dass es sich um Balfour selbst handelt, der als Vampir wieder auferstanden ist. Tatsächlich inszeniert Burke jedoch den Vampirspuk, um den vermeintlichen Mörder endlich aus der Reserve zu locken.

Dies ist einer der Filme, die bei dem Feuer im MGM Archiv 1965 zerstört wurden. Daraus erklärt sich vielleicht, warum er bei Sammlern immer noch begehrt ist, anstatt abgeschrieben. Von allen Filmen in diesem Artikel, halte ich es bei diesem für am wahrscheinlichsten, dass es noch eine Kopie geben könnte. Einfach weil der Film fast 40 Jahre „existiert“ hat und in 11 Ländern aufgeführt wurde. Da muss es doch Kopien in irgendwelchen staubigen Archiven geben!

Thematisch finde ich ihn ohnehin interessant, habe ich doch erst letztens in einem Artikel darüber gesprochen, dass ich die Idee inszenierten Spuks im aktuellen Horror vermisse.

Das auch große Namen vor dem Verschwinden ihrer Filme nicht unbedingt sicher sind zeigt der Fall von Alfred Hitchcocks zweitem Film, ‚Der Bergadler‘ von 1926. Allerdings war Hitchcock über dessen Verschwinden nicht allzu traurig. Im Film stellt Pettigrew, ein Ladenbesitzer, der Dorfschullehrerin Beatrice (Nita Naldi) nach. Als die seine Liebe aber so gar nicht erwidert, behauptet Pettigrew sie habe seinen behinderten Sohn Edward belästigt. Beatrice flüchtet zu einem Eremiten in die Berge, in den sie sich verliebt und den sie heiratet. Der rachlüstige Pettigrew versteckt daraufhin seinen Sohn (oder er ist ohnehin verschwunden, Beschreibungen sind hier widersprüchlich) und beschuldigt den Eremiten Fuller ihn ermordet zu haben.

Trotz des Settings in Kentucky wurde der Film im tirolischen Obergurgl gedreht, mit den öztaler Alpen als Hintergrund. Das Wetter war furchtbar, was zu langen Drehpausen führte und die Beziehungen zu den Anwohnern wurden immer schlechter, weil die Filmcrew Häuser beschädigte und ein übellauniger Hitchcock seine durch Höhenkrankheit bedingte Übelkeit auf die „gutturalen Töne“ des örtlichen Tiroler Dialektes schob.

Auch später mochte Hitch den Film nicht. Er bezeichnet ihn als verzweifelten Versuch seiner britischen und deutschen Produzenten auf dem amerikanischen Markt zu landen und Naldi in einer völlig unpassenden Rolle zur neuen Theda Bara zu machen. Im Interviewbuch „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ sagt er eindeutig „Ein schlechter Film.“ Eine weitere Nachfrage Truffauts beantwortet er einsilbig.

Tatsächlich wird sein dritter Film ‚Der Mieter‘ von 1927 oft als erster „richtiger“ Hitchcockfilm geführt. Dennoch macht dieses Frühwerk schon neugierig. Der negative Ruf, Hitchcocks Unzufriedenheit, die Schwierigkeiten beim Dreh und Obergurgl-als-Kentucky machen mich alle eher noch neugieriger auf den Film, als dass sie mich abschreckten.

Auch eine Oscar-Nominierung schützt nicht vor dem Verschwinden. Das zeigt Ernst Lubitschs ‚Der Patriot‘ von 1928. Autor Hanns Kräly zog für diesen semi-biografischen Film über das späte Leben des russischen Zaren Paul I. Motive mehrerer Bühnenstücke zusammen. Der paranoide Zar Paul (Emil Jannings) traut nur noch seinem engsten Berater Graf von der Prahlen. Doch eben der wird, aufgrund des immer grausamer werdenden Verhaltens des Monarchen, in eine Verschwörung gedrängt. Kronprinz Alexander bekommt Wind davon und warnt seinen Vater, der ihm jedoch aufgrund seiner Paranoia nicht glaubt, da ihm von der Prahlen seine Treue versichert. Der Film endet Shakespeare-esk mit einem Gutteil der Dramatis personae tot auf dem Fußboden.

Der Film klingt ungewöhnlich für Lubitsch. Nicht so sehr wegen des Settings, er war bekannt für seine „Salonkomödien“, die an allerlei Fürstenhäusern spielten, sondern vor allem deswegen, weil es so klingt als käme der Film gänzlich ohne Humor aus. Dass er auch finstere Töne durchaus beherrschte, bewies Lubitsch später ja mit seiner rabenschwarzen Anti-Nazi-Komödie ‚Sein oder nicht Sein‘. Doch das hier klingt nach einer unausweichlichen Tragödie. Insbesondere Jannings in der Rolle des wahnsinnigen Monarchen wirkt faszinierend. Nur ca. 6 Minuten des Films existieren noch.

‚Der Patriot‘ war 1928 der einzige Stummfilm (mit einigen nachträglichen Soundeffekten), der 1928 noch für einen Oscar nominiert wurde. Und er würde der Letzte bleiben bis 2012 ‚The Artist‘ nicht nur nominiert wurde, sondern sogar gewann.

 

Werden wir diese Filme jemals zu Gesicht bekommen? Vermutlich nicht. Noch weit tragischer ist die Frage, wie viele verschwundene Filme wir gar nicht kennen, weil eben nicht Hitchcock, Lubitsch oder Pancho Villa draufsteht? Filme die in ihrer Zeit vielleicht verkannt wurden, heute aber als ihrer Zeit voraus oder Meisterwerke erkannt werden könnten? Dank Streaming scheint uns die gesamte Welt des Films offenzustehen, wenn auch derzeit künstliche Grenzen eingefügt werden. Doch sollte uns das Beispiel des Stummfilms immer daran erinnern, dass die Erhaltung von Kunst sicherlich nicht von alleine geschieht. Und ob die Studios einen Bruchteil ihrer Milliardengewinne dahinein investieren wollen, hängt leider immer noch davon ab, ob sich mit dem alten Material noch Geld verdienen lässt.

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3 Gedanken zu “Einige verschollene Filme, die ich gern sehen würde

  1. Den Pancho Villa Film würde ich auch gerne sehen 🙂
    Um Mitternacht… den hätte ich auch gerne.
    Der Patriot sagt mir gar nichts 😦

    Ja, so einige von den alten Stummfilmen würde ich auch gerne haben wollen.

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  2. DER BERGADLER würde mich auch wegen Bernhard „Der müde Tod“ Goetzke interessieren. Aber mein verschollener Lieblingsfilm ist DIE ERSTÜRMUNG VON LA SARRAZ, den Eisenstein (und vermutlich Hans Richter) 1929 beim ersten Internationalen Kongress des Unabhängigen Films in La Sarraz in der Schweiz inszenierte, mit den Kongressteilnehmern als Darstellern. Schon die Mythen, die sich um die (Nicht)Existenz des Films und sein Verschwinden ranken, machen ihn zu einem Unikum. Und, hey, es ist ein Eisenstein! Und zwar, als er schon ein „mythologischer Halbgott.“ war, wie es ein Teilnehmer ausdrückte, während Hitchcock ja damals nur ein rundlicher Herr aus England war, den niemand kannte. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Film aus La Sarraz nochmal auftaucht, dürfte gegen 0 gehen, aber wenigstens gibt es viele tolle Fotos von den Dreharbeiten.

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  3. Pingback: Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (23-12-19)

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