Mitte der 50er Jahre schuf der schwedische Autor Harry Martinson ein Versepos mit dem Titel „Aniara“. Unter dem Eindruck der Nachkriegsjahre und des kalten Krieges ersann er das Ende der Menschheit in der Miniatur eines ruderlos gewordenen Raumschiffs. 1974 erhielt Martinson vor allem für dieses Werk den Nobelpreis für Literatur, eine damals alles andere als unumstrittene Entscheidung. Das Werk hat mehrere Opern inspiriert, dank seiner schwedischen Herkunft selbstverständlich auch Metal und eine schwedische TV-Adaption von 1960. Nun brachten Pella Kagerman und Hugo Lilja den Stoff auf die Leinwand.
Die Erde ist verwüstet. Wer es sich leisten kann unternimmt mit großen Raumern die dreiwöchige Reise zum kolonisierten Mars. Eines dieser Schiffe ist die Aniara. An Bord ist auch die MIMA. Eine künstliche Intelligenz, die auf die Erinnerungen ihrer Benutzer zugreifen kann die so angenehme Erinnerungen an die alte Erde wieder lebendig werden lassen kann. Überwacht wird das von der Mimarobe (Emelie Jonsson), einer freundlichen, empathischen Mitarbeiterin von niedrigem Rang auf dem Schiff, die heimlich in Pilotin Isagel (Bianca Cruzero) verliebt ist. Nur wenige Passagiere zeigen Interesse an MIMA, nutzen lieber die Einkaufsmöglichkeiten oder andere Unterhaltungsangebote. Dann kommt es bei einem Ausweichmanöver zur Katastrophe. Durch eine Kollision verliert die Aniara allen Treibstoff und Steuermöglichkeiten und treibt vom Kurs ab. Kapitän Cheffone (Arvin Kananian) teilt mit, dass man den ersten Himmelskörper nutzen wird, um sich zurück zu schleudern, wobei das Jahre dauern wird. Doch die Mimarobe erfährt von ihrer Kabinengenossin, einer Navigatorin, dass das gelogen ist. Man wird auf absehbare Zeit nicht in das Gravitationsfeld irgendeines Himmelskörpers geraten. Plötzlich ist die MIMA vollkommen überlaufen, die K.I. von den traumatischen Erinnerungen der Passagiere an die Erde überwältigt. Die jahrelange Reise in die Finsternis des Äußeren wird zwangsläufig auch zu einem Blick nach innen.
‚Aniara‘ ist was dabei herauskommen könnte, wenn Andrei Tarkowski ein Remake von ‚Wall-E‘ machen würde. Der niedliche Roboter wird durch eine nicht greifbare K.I., die später suizidal wird, ersetzt. Interessanter ist das Schicksal der Menschen, die auf ihrer neuen Zwangsheimat einem unausweichlichen Ende entgegenschleudern. Gesteigerte Algenproduktion und Wasseraufbereitung sorgen zwar dafür, dass das Leben weitergehen kann, allerdings zerbrechen alsbald die proper schwedischen, sozialen Strukturen. Merkwürdige Kulte bilden sich aus (‚Midsommar‘ lässt grüßen), Selbstmorde nehmen überhand, der Kapitän wird erst zum Westentaschendiktator, dann zum Witz. Hedonistisches Feiern, Drogen und matschiger Algenschnaps werden zur neuen Normalität. Der Film drückt das in immer größeren Zeitsprüngen zwischen seinen betitelten Kapiteln aus. Erst Tage, dann Wochen, Monate und Jahre springen wir in die Zukunft. Einer Zukunft in der sich Hoffnung immer mehr falsch und fast schädlicher als Fatalismus anfühlt.
Was den Film funktionieren lässt ist vor allem seine merkwürdige Bodenständigkeit. Von außen durchaus effektive Science Fiction Spezialeffekte, wirkt das Innere der Aniara durchaus vertraut. Irgendwo zwischen nordischer Fähre und plüschigem Kreuzfahrtschiff wirkt es absolut glaubwürdig mit seinen Konsumtempeln, Arkaden und Kinos. Diese verfallen zu sehen holt den Film aus der abstrakten SciFi, auf eine nachvollziehbare Ebene. Auch sagt der Film nie was nun wirklich genau auf der Erde geschehen ist, wir sehen nur Erinnerungsfetzen durch die Brille der MIMA. Allerdings haben zahlreiche Passagiere des Schiffes mehr oder weniger starke Verbrennungen, ein gelungenes Beispiel für visuelles Erzählen. Der Fatalismus der Erzählung geht auch über das Schicksal der Aniara hinaus. So fragt die Mimarobe (im Film wird das wie ihr Name behandelt, ist aber offensichtlich ein Titel. Nur die Brückenbesatzung bekommt Namen) einen verzweifelten Passagier, warum der denn der Meinung sei auf dem Mars wäre es so viel besser als hier auf dem Schiff. Eiskalt sei es da und es wächst nur eine winzige Pflanze, die das Einzige sei, was es dort zu essen gibt.
Der Film enthält so eine überdeutliche, wenn auch nie ausgesprochene Aussage. Das Glück der Menschheit, so macht der Film deutlich, ist unausweichliche mit der Erde verbunden. Die Zerstörung unserer Erde führt zwangsläufig zu einem Ende der Menschheit. Zunächst zu einem Ende der Menschheit wie wir es kennen und dann zur großen Finsternis. In gewisser Weise erzählt der Film also die Handlung von Douglas Trumbulls ‚Lautlos im Weltraum‘ mit den Mitteln von Tarkowskis ‚Solaris‘. Ich hoffe ich habe deutlich genug gemacht, dass es sich um keinen fröhlichen Film handelt…
Emelie Jonsson trägt einen Großteil des Films. Dialoge werden nur sehr zurückgenommen verwendet, weswegen wir auf ihre Reaktionen angewiesen sind, um den menschlichen Zugang zur Handlung zu bekommen. An ihrem ausdrucksstarken Gesicht lesen wir ab, wo wir uns befinden. Demgegenüber steht Bianca Cruzeros anfangs völlig zurückgenommene, scheinbar emotionslose Pilotin (Raumpiloten müssen so sein, wie wir erfahren). Später lernen wir, dass unter der scheinbar unbewegten Oberfläche nur umso stärkere Emotionen wüten.
‚Aniara‘ ist Science Fiction wie ich sie mir wünsche. Clever erzählt, mit einer klaren Aussage, fesselnd und faszinierend. Nur lohnt es sich noch einmal daran zu erinnern, dass ‚Aniara‘ ein wirklich deprimierender Film über Hoffnungslosigkeit ist. Aber skandinavisches Kino hat ja auch eher selten den Ruf fröhliche Schenkelklopfer zu produzieren. Ob man das derzeit braucht, muss jeder selbst entscheiden. Sehenswert ist der Film allemal.
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