‚Spurlos – Die Entführung der Alice Creed‘ (2009)

Das ist ein Film, von dem ich, da bin ich ziemlich sicher, zum ersten Mal auf dem alten Blog von ma-go gelesen habe. Kurz darauf habe ich die BluRay käuflich erworben, auf einem Flohmarkt. Das war in Zeiten lange bevor jemand wusste, was Covid ist. Der Verkäufer hat einen derart aggressiven Sticker als Preis benutzt, dass er auch mit Lösungsmittel nicht restlos zu entfernen war. Nichts davon interessiert Euch, liebe Leser, ich weiß. Aber es ist nötige Information, denn der Film hat lange auf meinem „zu sehen“ Stapel gelegen. Sehr lange. Erstaunlich lange. Und der Grund dafür ist ausnahmsweise einmal offensichtlich. Auf der Rückseite der Bluraypackung sind einige Pressezitate, wie toll der Film sei. Und dann im selben Format ein Satz, der nicht als Zitat gekennzeichnet ist. Es ist der vermutlich furchtbarste Satz, den ich je auf einer professionellen Packung gelesen habe: „Bond-Girl Gemma Arterton beweist, wie sexy ein verängstigtes Opfer sein kann.“ Öha. Das ist die Art von Satz, die ich eher in ziemlich verstörenden Prozessakten erwarten würde. Der Satz wird noch weitaus übler, nachdem man den Film gesehen hat und wie zutiefst und gewollt unangenehm gerade die frühen Szenen, die Artertons Charakter als „hilfloses Opfer“ zeigen sind. Viel weiter entfernt von „sexy“ geht eigentlich kaum. Aber gut, man soll ein Buch nicht nach dem Einband beurteilen und einen Film nicht nach seltsamen Sätzen im Klappentext. Schauen wir uns also den Film selbst an.

Die Gauner Vic (Eddie Marsan) und Danny (Martin Compston) entführen Alice Creed (Gemma Arterton), um von ihrem vermögenden Vater ein erhebliches Lösegeld zu erpressen. Kontrollfanatiker Vic hat ein exaktes System ausgearbeitet, um weder Tochter noch Vater eine Möglichkeit zu geben, von der geplanten Geldübergabe abzuweichen. Selbstverständlich passieren dennoch allerlei unerwartete Dinge, aber diese hier weiter auszuführen, wäre dem Film gegenüber ungerecht, da er sehr von seinen Wendungen lebt.

Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Kammerspiel. Etwa 90% der Handlung spielen sich in der Wohnung ab, in die Alice entführt wird. Dies zeigt Regisseur J Blakeson in ebenso nüchternen wie schonungslosen Bildern. Die distanziert „sachliche“ Erniedrigung die Alice über sich ergehen lassen muss ist dabei gelegentlich schwer erträglich.

Der Rest ist eine Art Meisterstück in Thriller-Suspense. Blakeson liefert große Wendungen in der Handlung allein dadurch, dass die Charaktere Dinge über sich verraten, die wir vorher nicht wussten. Ganz im Hitchcockschen Sinne ist das Ausmaß des Wissens der Charaktere und des Zuschauers nie gleich. Entweder wir wissen mehr als sie oder sie wissen mehr als wir, oder schlimmer noch, weder wir noch die anderen Charaktere wissen, was ein anderer Charakter weiß (oder wir wissen, dass er weiß, dass der andere weiß, dass…). Diese Unsicherheit schafft eine ständige Spannung.

Wie Alice und Danny verlassen wir für lange Zeit die Wohnung nicht, der einzige der ein- und ausgeht ist Vic, ein Kontrollfanatiker, der auf Kontrollverlusterst mit Aggression, dann Resignation reagiert. Ebenso wie Danny versucht man sein Verhalten bei jeder Rückkehr zu lesen, wächst die Paranoia darüber, was er draußen anstellt.

Aber auch zuweilen tief schwarzer Humor kommt im Film nicht ganz zu kurz. So lernen wir etwa, wie schwer es sein kann, eine Patronenhülse das Klo runterzuspülen und was eine mögliche Alternative dazu ist. Letzteres sogar zweimal.

Eine Geschichte mit derart vielen Wendungen erfordert natürlich auch einiges von den Darstellern, die ohnehin, in Ermangelung von Nebendarstellern oder Landschaftsaufnahmen, ohnehi die gesamte Zeit über im Mittelpunkt des Interesses stehen. Gemma Arterton hat hierbei fraglos die schwierigste Aufgabe. Ist sie doch den größten Teil des Films über an ein Bett gefesselt, wenn nicht geknebelt. Trotzdem zeigt sie ihre Alice als entschlossene junge Frau, die an der Situation nicht zerbricht. Sie bestand während der Dreharbeiten darauf auch in Drehpausen ans Bett gebunden zu sein, um in der Rolle zu bleiben. Marsan als „Profi“ Vic (wir lernen im Lauf des Films, dass er das auch zum ersten Mal macht) ist der vermutlich undurchsichtigste Charakter. Derjenige, den die Kamera am häufigsten verlässt. Marsan lässt ihn mysteriös und gefährlich erscheinen, gibt ihm aber auch eine Verletzlichkeit, die ihn nur noch bedrohlicher macht. Über Martin Compstons Danny kann ich am wenigsten sagen, weil er Angelpunkt der meisten Wendungen ist. Ich bin allerdings sicher, ich werde seine Darstellung mit dem vollständigen Wissen um seinen Charakter bei einer weiteren Ansicht komplett anders wahrnehmen.

‚Spurlos‘ ist exakt die Art von Film, über die sich viele (darunter ich) beklagen, dass es sie eigentlich gar nicht mehr gibt. Der extrem reduzierte Thriller. Ein Kammerspiel, dass aus einer heruntergekommen Wohnung einen Dampfkochtopf der Verwicklungen macht, angereichert mit bestens aufgelegten Darstellern und einer gewissen Kompromisslosigkeit in seiner Darstellung. Wenn das für Euch interessant klingt, dann sei Euch der Film unbedingt ans Herz gelegt, ganz egal, was auf der Rückseite stehen mag.

PS: interessante Trivia, der britische Film scheint gleich zwei europäische Remakes inspiriert zu haben. Den niederländischen ‚Bloedlink‘ (ein nichtidealer Titel, wenn man ihn deutsch ausspricht…) und den deutschen ‚Kidnapping Stella‘. Ob beide exakte Remakes sind, weiß ich nicht, nur das beide den Namen Vic für einen der Gangster beibehalten.

PPS: der Originaltitel ‚The Disappearance of Alice Creed‘ ist übrigens besser als der deutsche.

2 Gedanken zu “‚Spurlos – Die Entführung der Alice Creed‘ (2009)

  1. Pingback: Hoffentlich letztes Update zu technischen Problemen und Artikel der letzten Monate | filmlichtung

  2. Der hat mich damals echt begeistert. Ich glaube den habe ich relativ am Anfang meiner Blogger-Karriere gesehen und vorgestellt. Ist also schon eine Weile her. Trotzdem habe ich den Film nach all den Jahren immer noch in guter Erinnerung. Bei Gelegenheit werde ich mir ihn auf jeden Fall noch mal anschauen.

    Und ganz ehrlich: ich freue mich sehr, dass mein Filmtipp dich direkt zum Kauf der BD bewogen hat. Vor allem, da es sich am Ende ja auch noch gelohnt hat. Das kommt bei meinen Filmtipps nicht so oft vor…

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