‚Run‘ (2020)

Aneesh Chaganty konnte mich mit seinem Thriller ‚Searching‘, einem dieser Filme die (fast) ausschließlich auf Monitoren spielen, weitgehend überzeugen. Für seinen Nachfolger gibt er diese neuartige Form nun auf und geht gar auf ganz klassisches Thriller-Territorium zurück. Auf minimales Thriller-Territorium, für einen gelungenen zwei Personen Film um eine Mutter-Tochter Beziehung. Wer den Film völlig unvoreingenommen sehen will, sollte jetzt aufhören zu lesen, weil so ein Film ja immer auch von seinen Wendungen lebt. Ich werde mich aber bemühen nichts zu verraten, was über den Trailer hinausgeht.

Diane Shermans (Sarah Paulson) Tochter Chloe war eine Frühgeburt und ihre Überlebenschancen standen nicht gut. 17 Jahre später muss Chloe (Kiera Allen) jeden Tag einen Haufen Tabletten schlucken, für ihre Herz-Arrhythmie und  Hämochromatose. Sie leidet unter Asthma und benutzt einen Rollstuhl. Doch Diane hat ihr abgelegenes Haus voll auf ihre Bedürfnisse eingestellt und kümmert sich vorsorglich um sie, unterrichtet sie sogar zuhause. Freunde hat Chloe, außer ihrer Mutter, keine, doch das wird sich gewiss bald ändern, wenn sie eine Universität besucht. Zu ihrer Überraschung und Enttäuschung hat die technisch extrem begabte, junge Frau aber bislang keinerlei Antworten auf ihre Bewerbungen erhalten. Eines Tages sorgt eine zufällige Entdeckung in einer Einkaufstasche dafür, dass Chloe beginnt die Beziehung zu ihrer Mutter mehr und mehr in Frage zu stellen.

Möglicherweise genügt diese Beschreibung schon, damit Ihr ein Bild eines gewissen anderen Filmes vor Eurem inneren Auge habt. Und ‚Run‘ selbst ist sich dieser Verwandtschaft durchaus bewusst, bekommt doch ein Nebencharakter den Namen „Kathy Bates“ verpasst. Dennoch haben wir es hier ganz und gar nicht mit einem müden Abklatsch von ‚Misery‘ zu tun. Zu grundlegend anders ist die Ausgangssituation der Mutter-Tochter Beziehung, zu anders das Chloe von Geburt an beigebrachte Abhängigkeitsverhältnis.

Chaganty inszeniert seinen Film äußerst minimal und effizient. Er gibt als sein Vorbild hier Alfred Hitchcock an, an dass er, vielleicht nicht überraschend, nicht wirklich heranreicht, doch er schlägt sich insgesamt sehr gut. Jede neue Einstellung, jeder Dialog vermittelt uns neue Information. Jedes neue Hindernis wirkt aus Chloes Warte zunächst einmal unüberwindlich, doch umso befriedigender ist es, wenn sie ihre aufgezwungene Hilflosigkeit mit ihrer durchaus erheblichen Kompetenz überwindet.

Dabei hat der Film, wie die meisten Thriller, auch seine eher unglaubwürdigen Momente. Aber immerhin sind das unglaubwürdige Momente, wie man sie nicht schon tausendmal gesehen hat. Wenn etwa Chloe eine zufällige Nummer anruft und den Mann am anderen Ende der Leitung (der sich gerade mitten in einem Streit mit seiner Frau befindet) bittet etwas für sie zu googeln und der tut es tatsächlich, dann finde ich das wenigstens mal fragwürdig. Aber es reißt mich nicht unbedingt aus dem Film.

Das liegt daran, wie gut dem Film der Spannungsaufbau gelingt. Bereits in den ersten 20 Minuten ist eine Szene, so gruselig, dass sie auch jedem Horrorfilm gut gestanden hätte. Und Chaganty nimmt sogar in Kauf, dass manche Zuschauer das gruselige Element übersehen, anstatt es überdeutlich zu machen. Und auch über den Rest des Films fand ich meinen Hintern oft genug an der Sofakante, was für einen Thriller ein ziemlich gutes Zeichen ist.

Aber bei einem Film, in dem über 90% der Dialoge zwischen zwei Charakteren stattfinden, sind natürlich die Darsteller von extrem erhöhter Bedeutung. Sarah Paulson habe ich über die Jahre in allerlei Nebenrollen gesehen, wo ich sie immer mindestens sehr gut fand. Hier in dieser Hauptrolle als Mutter Diane kann sie jedoch glänzen wie selten zuvor. Ihr Charakter ist erbärmlich, gruselig, erschreckend überzeugend, mit einem bis ins Groteske übersteigerten Selbstgerechtigkeitsgefühl, mörderisch und irgendwo auch tragisch. Sie kann all das ohne viele Worte transportieren. Sie hat eine dieser magnetischen Leinwand/Bildschirmpräsenzen, von der man den Blick nicht abwenden kann, selbst wenn man gern würde. Während Paulson also grandios ist, ist die wirkliche Entdeckung des Films vermutlich Kiera Allen. Sie benutzt auch im wirklichen Leben einen Rollstuhl, weswegen sie allerlei kleine Tricks mit dem Gerät beherrscht und schlicht sehr geschickt im Umgang damit ist. Nichts was direkt ins Auge springt, aber es macht die Rolle erheblich glaubwürdiger. Ihre wirkliche Stärke ist aber ihr offenes Gesicht, dem man problemlos abkauft, dass das Schlimmste, was diese junge Frau je gemacht hat ist, etwas Schokolade aus der Tasche ihrer Mutter zu mopsen. Doch der  man auch glaubt, wenn sie mit einer wahrhaft aussichtslosen Situation konfrontiert wird, einen eisernen Willen und erhebliche Stärke in sich zu finden.

‚Run‘ ist ein gelungener Thriller äußerst klassischer Bauart. Hier wird nicht unbedingt das Rad neu erfunden, aber das vorhandene Rad dreht eben derart rund, dass es eine Freude ist. Und eine schicke, neue Radkappe ist auch drauf, um diese Metapher das entscheidende Stück zu weit zu führen. Die Covid-19 Pandemie hat leider eine Kinoauswertung verhindert, aber das ist ein Film der, denke ich wenigstens, auch im Heimkino seine volle Wirkung entfalten kann. Empfehlung von mir!

Völlig vom Thema gelöstes PS: dank des Titels des Films habe ich jetzt einen Ohrwurm von diesem 80er Jahre-Banger! Wenn mir jemand erklären könnte, warum das kein größerer Hit geworden ist, wär ich interessiert.

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