Ich mag Stop Motion Animation sehr gerne, wie ich hier schön häufiger zum Ausdruck gebracht habe. Es ist eine im Film ziemlich einzigartige Technik, die gleichzeitig ein haptisches Gefühl vermittelt, etwas Unmittelbares, ein bestehendes Objekt, ein bestehender Charakter vor der Kamera mit dem das Licht auf einzigartige Weise interagiert, aber auch etwas Magisches, weil der Film es auf eine Weise zum Leben erweckt, die klassische Animation oder Computeranimation niemals ganz nachvollziehen können. Ich bin sehr froh, dass Studios wie Laika und Aardman in den letzten Jahren mit dieser eigentlich „veralteten“ Technik große Erfolge feiern konnten. Doch ein unerwarteter Favorit für mich stammt vom Schweizer Animator Claude Barras mit ‚Mein Leben als Zucchini‘.
Der neunjährige Icare wird von seiner Mutter „Zucchini“ genannt. Ihr Familienleben ist kein glückliches. Zucchinis Vater hat die Familie lange verlassen und seine Mutter ist alkoholkrank und bitter. Nach einem tragischen Unfall wird Zucchini vom einfühlsamen Polizisten Raymond in das Waisenhaus der Mme. Papineau gebracht. Hier trifft er auf eine Gruppe ziemlich unterschiedlicher Kinder, alle mit ihren eigenen Geschichten. Und auch, wenn Simon den Neuen anfangs ziemlich piesackt, raufen sich die Kinder alsbald zusammen und werden zu einer eingeschworenen Gruppe. Für Zucchini besonders interessant ist die nach ihm ins Waisenhaus gekommene Camille, die jedoch immer wieder von ihrer geldgierigen Tante bedrängt wird.
Das Drehbuch des Films, adaptiert durch Filmemacherin Celine Sciamma (Porträt einer jungen Frau in Flammen) nach einer Romanvorlage des französischen Autors Gilles Paris, verweigert sich konsequent aller Klischees. Das Waisenhaus ist hier nicht, wie so oft in Film und Literatur, ein Ort des Schreckens, sondern wird von kompetentem und fürsorglichem Personal geführt. Bully Simon bleibt zwar bis zum Ende des Films ein kleiner Stinker, beweist aber, dass er wenn es drauf ankommt ein echter Freund ist.
Tatsächlich folgt der Film auch keinem großen Konflikt. Einen echten Widersacher gibt es kaum, höchstens Camilles Tante und die booten die Kinder ziemlich gekonnt und zügig aus. Nein, es sind die Charaktere, die hier im Mittelpunkt stehen. Das Waisenhaus ist ein Ort der Ruhe, an dem sie sich selbst durch Interaktion und Dialog mit den anderen Kindern definieren können. Und ihren Platz in einer Welt bestimmen, die in ihren kurzen Leben bislang nicht allzu gut zu ihnen war. Es ist die Außenwelt, die hier immer wieder zur Erinnerung an ihre Situation und zum gelegentlich feindseligen Ort wird. All das soll übrigens keineswegs bedeuten, die Erzählung würde die Idee eines Waisenhauses verklären oder idealisieren. Es bleibt immer der Ersatzort. Doch ein Ersatzort, der keineswegs das Schlimmste sein muss. Jeder der Charaktere bringt seinen eigenen tiefen Schmerz mit, dem der Film auf für Kinder nachvollziehbare Weise Tribut zollt. Etwa das Mädchen, das bei jedem vor dem Waisenhaus bremssenden Auto, freudig „Mama?!“ rufend zur Tür rennt. Der Film wird dabei jedoch nie rührseelig oder gar finster, der Ton bleibt erstaunlich locker. Es wird geradlinig und in einem, für Animationsfilme ziemlich ungewöhnlichem, Plauderton erzählt, dem es gelingt eine erstaunliche emotionale Tiefe aufzubauen. Und ich glaube es ist dieser ungewöhnliche lockere Ton, der den Film so gut funktionieren lässt. Der einen als Zuschauer gelegentlich komplett vergessen lässt es überhaupt mit Animation zu tun haben und die Charaktere als solche einfach glaubt.
Ein Hindernis für den Film vermute ich im Design der Figuren. Die sehen, gerade als Standbilder mit ihren riesigen Köpfen und kleinen Mündern, im ersten Moment ziemlich grotesk aus. Doch dauert es nur Minuten in den Film, bis man sich, dank der einfachen aber eleganten Animation und den gelungenen Sprecherleistungen, die Charaktere gar nicht mehr anders vorstellen möchte. Die Musik von Sophie Hunger und ein auf den Punkt gebrachter Einsatz von Grauzones Song „Eisbär“ runden den Eindruck für mich ab.
Gelegentlich wagt sich der Film in Gebiete, die ein Disneyfilm niemals betreten würde. Sei es Simons altkluge Erklärung, er wisse ganz genau, was Erwachsene allein im Schlafzimmer tun, oder die teils doch recht düsteren Hintergründe der Kinder. Hier kann sich eine Voransicht ohne die Kinder auszahlen, die aufgrund der kurzen Laufzeit auch kein Problem sein sollte. Ich empfehle den Film aber ohnehin mit oder ohne Kinder!
Der Film erzählt in nur gut 60 Minuten eine erhebende Geschichte, an deren Ende meine Augen ziemlich feucht waren. Doch, wie Zucchini sagt, manchmal weinen wir, weil wir froh sind. Ein Film der zeigt, was Animation in der Lage ist zu leisten!
Pingback: Die 5 Besten am Donnerstag: die 5 besten Filme, die ich 2022 gesehen habe | filmlichtung