Nach gut sieben Monaten geht es weiter mit meinem Projekt, das Vancouver Material von ‚Akte X‘, also die ersten fünf Staffeln und den ersten Film, zu schauen und hier kurz zu besprechen. Aber ich habe das Projekt in weiser Voraussicht ja als „unregelmäßig“ angekündigt. Erneut gebe ich meinen Eindruck von der Staffel als Ganzem und stelle meine drei liebsten und drei schlechtesten Folgen vor.
Obwohl am Ende von Staffel 1 nicht nur Mulders Informant „Deep Throat“ ermordet wurde, sondern auch die X-Akten als solche geschlossen und unsere zwei Lieblingsagenten versetzt wurden, geht es dort weiter wo wir aufgehört haben. Mulder folgt Hinweisen auf Aliens nach Puerto Rico. Hier können wir endlich erkennen, wo die Grenzen von Vancouver als Stand-In für andere Settings liegen, ein paar Palmen vor dem Nadelwald machen gewiss kein Puerto Rico. Ein seltsamer Mutant entkommt einem russischen Frachter, in einer Kleinstadt fordern elektronische Geräte ihre Benutzer zum Mord auf. Ja, Mulder bekommt sogar einen neuen Informanten, in Gestalt von ‚X‘ (Steven Williams), der allerdings kaum ein Geheimnis daraus macht, dass er Mulder nicht ausstehen kann und ihm sicher nicht aus uneigennützigen Gründen hilft.
Doch etwas ist seltsam. Wir sehen früh in der Staffel nur sehr selten Scully und wenn, dann in Nahaufnahmen, oder seltsam geblockten Szenen, oder von hinten. Gillian Anderson war schwanger. FOX wollte die Rolle neu besetzen, doch Serienschöpfer Chris Carter lehnte das strikt ab und arbeitete drumherum. Dennoch musste sie natürlich irgendwann ihr Kind gebären und kurzzeitig in Mutterschaftsurlaub gehen. Und so wurde Scully von Ex-FBI Mann Duane Barry (Steve Railsback) entführt, der überzeugt ist, bereits einmal von Aliens entführt worden zu sein und ihnen diesmal Scully als Ersatz anzubieten. Scheinbar hat er Erfolg damit. Denn Scully ist weg. Die Serie führt gar Agent Krycek (Nicholas Lea) als neuen Partner für Mulder ein, der dessen Theorien deutlich offener gegenüber steht. Doch dann taucht Scully plötzlich wieder auf, wenn auch komatös. Und die Serie löst direkt eines meiner Probleme mit Staffel 1, dass alles allzu seriell und am Ende einer Folge wieder vergessen ist. Dies sind traumatische Erlebnisse, die Scully durch den Rest der Staffel (und vermutlich darüber hinaus) verfolgen. Und einfach ziemlich gutes Fernsehen. Auch wenn Krycek für mich allzu schnell als Handlanger des finsteren Cigarette Smoking Man entlarvt wird. Diese Getriebenheit durch äußere Umstände jedenfalls, scheint etwas, das in der Produktion von ‚Akte X‘ immer wieder auftaucht und was wohl später dafür sorgt, dass die „Mythologie“ der Serie ein verwaschenes, widersprüchliches Geflecht wird. Im Moment aber muss ich sagen, in Staffel 2, ist die Mythologie noch ganz großartig.
Wir haben Aliens, die in der (häufig kopierten) Gestalt von Entführungsopfern, darunter Mulders Schwester, irgendwelche Versuche oder Vorbereitungen vornehmen. Wir haben Kopfgeldjäger, die sie verfolgen. Wir haben eine schattenhafte Abmachung, nicht nur der US Regierung, sondern anscheinend weltweit, dass man die Handlungen der Aliens geheim hält und schützt. All das führt zu meiner absoluten Lieblingsszene. FBI Mann und Chef von Scully und Mulder, Skinner (Mitch Pileggi) und Informant X prügeln sich im Fahrstuhl. Zwei mittvierziger Büromenschen geben sich gegenseitig kräftig auf die Mütze, das ist eine ebenso komische wie dramatische Szene.
Apropos ebenso komisch wie dramatisch. In dieser Staffel merkt ‚Akte X‘, dass man in ihrem Format so ziemlich jede Geschichte erzählen kann, solange es nur gut gemacht ist. Und obwohl ich die Mythologie Folgen mag, sind es doch die „Monster Of The Week“, die die Serie ausmachen. ‚Der Parasit‘ ist eine wunderbar groteske Folge, um einen riesigen, mutierten Saugwurm, ‚Der Zirkus‘ eine wilde Mischung aus Todd Brownings ‚Freaks‘ und Hennenlotters ‚Basket Case‘, die letztlich einen erklärend-wohlwollenden Blick auf „Freaks“ wirft und im zweitwitzigsten Moment der Staffel endet. In ‚F. emasculata‘/‚Verseucht‘ sehen wir den möglichen Ausbruch einer Pandemie, der sich natürlich aktueller denn je anfühlt. Vor allem aber lernen wir, oder vor allem Mulder, dass es keine Aliens braucht, damit das FBI finsterste Dinge vertuscht. Ein einflussreicher Pharmakonzern reicht da völlig aus.
Aber bevor ich jetzt allzu genau in einzelne Folgen einsteige, kommen wir direkt zu den Flop 3 der Staffel.
3. ‚Firewalker‘/‘Der Vulkan‘
Hey Du! Ja, Du! Erinnerst Du Dich noch an ‚Eis‘, eine der besten Folgen der ersten Staffel? In der Scully Mulder und einige Forscher abgeschnitten in einer eisigen Forschungsstation eine zutiefst paranoide Zeit durchleben? Hier ist das Ganze noch einmal, aber jetzt in einem Vulkan! Ja, man hat offensichtlich gemerkt, wie gut ‚Eis‘ ankam und sich bemüht, den Effekt zu wiederholen. Ich könnte fast dasselbe über die Folge ‚Totenstille‘ schreiben, wo Scully und Mulder mit ein paar anderen auf einem Schiffswrack festsitzen und alle plötzlich rapide zu altern beginnen. Beide funktionieren nicht. Nicht zuletzt, weil das Vorbild so klar zu erkennen und noch so gut im Gedächtnis ist. Ich hoffe die beiden bleiben unrühmliche Ausnahmen.
2. ‚Excelsis Dei‘
Wenn wir in der Serie etwas über Mulder lernen, dann, dass der Mann erst einmal alles glaubt. Mutierter Saugwurm? Klar glaubt er das. Aliens? Er ist felsenfest überzeugt! Der Präsident der USA ist in Wahrheit drei 7Jährige, die auf ihren Schultern übereinander stehen? Ich bin sicher, er würd’s glauben. Also, was nimmt die Serie, um ihn zum ersten Mal skeptisch werden zu lassen? Was löst verdächtige Nachfragen aus? Eine Altenpflegerin, die von einer unsichtbaren Entität vergewaltigt wurde. Hier ist Mulder sicher, dass sie nur ihren Job hasst und alles täte, um da rauszukommen. Und das ist… ein wenig eklig. Und nicht damit wegzudiskutieren, dass es halt die 90er waren. Es ist eine Entscheidung der Autoren ausgerechnet eine Vergewaltigung zum Objekt des Zweifelns für Mulder zu machen. Ein fieser Fehltritt, der den Charakter ein wenig beschädigt. Und dann dreht sich der Rest der Folge nicht mal um dieses Erlebnis. Und ist nicht spannend genug, um von dieser unangenehmen Eröffnung abzulenken.
1. ‚3‘/‚Drei‘
Wie oben beschrieben, dienten die Folgen nach Scullys Verschwinden dazu, zu zeigen, wie sehr sich beide Protagonisten brauchen. ‚Drei‘ hingegen zeigt, dass Mulder allein völlig verloren ist. Er ermittelt in der „Vampirszene“ von L.A.. Leute, die den Lifestyle von fiktionalen Vampiren imitieren. Irgendwo zwischen Fetischklub und „Vampire: The Masquerade“ LARP. Dabei verliebt er sich in eine Frau namens Kristen (Perrey Reeves). Das behauptet jedenfalls das Skript. Chemie zwischen den beiden sucht man absolut vergebens. Das mag auch damit zu tun haben, dass sie und alle anderen Darsteller hier Dialoge aufsagen müssen, die 14Jährigen in ihrer Anne Rice Fan Fiction allzu peinlich gewesen wäre. Was ein aufregender Erotikthriller sein will (im US-amerikanischen Primetime Fernsehen eh recht schwierig), verkommt so zur unfreiwilligen und auch noch völlig humorfreien Parodie auf die Serie selbst. Hier ist Duchovny tatsächlich mal so hölzern, dass er einem Vampir wohl nur seinen Kopf in die Brust rammen müsste.
Aber diese schlechten Folgen sind zum Glück sehr wenige. Ich hatte hingegen weit größere Schwierigkeiten, mich auf drei beste Folgen zu beschränken.
3. ‚One Breath‘/‚An der Grenze‘
Die nach ihrer Entführung durch Duane Barry verschwundene Dana Scully, taucht komatös in einem Krankenhaus auf, in ihren Zellen nun offenbar funktionslose Reste unbekannt komplexer DNA. Ihre Blutproben verschwinden, X fordert Mulder auf sich rauszuhalten und Dana sterben zu lassen und natürlich hat auch der „Cigarette Smoking Man“ seine Nikotin-befleckten Finger im Spiel. All das immer wieder unterbrochen von Scullys komatösen Visionen. Vermutlich die entscheidende Folge, was die Charakterentwicklung der Hauptfiguren in dieser Staffel betrifft. Sogar der olle Cigarette Smoking Man bekommt einen Hauch von Kontur, wenn Mulder in dessen wahrlich traurige Wohnung eindringt. Eine der besten Folgen der Serie und ein klarer Beleg dafür, dass die Mythologie Folgen hier absolut noch das Skelett sind, welches das Fleisch der Monster of the Week Folgen trägt. Als eigenstehende Folge allerdings quasi unverständlich, womit ‚Akte X‘ doch deutlich serieller ist, als ich der Reihe normalerweise zuschreibe.
2. ‚Die Hand, die verletzt‘/‚Satan‘
Die Lehrerschaft einer scheinbar erzkonservativen Privatschule ist in Wahrheit ein satanischer Kult. Blöd für sie, dass Scully und Mulder in Folge eines Ritualmordes in der Gegend auftauchen und anfangen unangenehme Fragen zu stellen. Wobei sich alsbald herausstellt, dass die FBI Agenten womöglich ihr geringstes Problem sind, denn sie nehmen die Lehren ihres höllischen Herrn nicht mehr so richtig ernst, verstehen sie eher als Vorschläge, denn als Regeln. Das mag der gar nicht und so taucht eine unscheinbare Aushilfslehrerin auf und hilft den FBI Agenten unauffällig bei der Zerschlagung des Kults. Eine Zerschlagung, die nicht viele überleben, natürlich. War jene Lehrerin etwa der Höllenfürst höchstpersönlich? Nun, wer auch immer es war, bedankt sich artig schriftlich bei den beiden Agenten und freut sich auf zukünftige Zusammenarbeit. Diese Folge ist der Moment, wo die Serie sich für ihre Monster of the Week Folgen endgültig „anything goes“ auf die Fahnen schreibt. Und das ist ganz prima so, denn das Format der Serie unterstützt auch solch wilde Erzählungen problemlos.
1. ‚Anasazi‘/‚Anasazi Teil 1‘
Mulder erhält von einem Hacker codierte Informationen bezüglich extraterrestrischen Lebens, die der dem FBI gestohlen hat. Mulder zeigt eine plötzliche aggressive Neigung, attackiert gar seinen Chef Skinner physisch (und anders als bei X haut der nicht zurück) und fliegt so nicht nur in hohem Bogen raus, sondern wird zur gesuchten Person. Als dann auch noch sein Vater ermordet wird, als der gerade über sein Wissen bezüglich der FBI/Alien Verwicklungen auspacken will (von niemand anderem als Krycek!) verliert Mulder vollends die Kontrolle. Und so fällt die eigentliche Recherche mal wieder Scully zu, die die Kodierung als Navajo Sprache erkennt und Kontakte zum Reservat herstellt. Dort finden beide nicht nur „Code Talker“, sondern Mulder auch einen vergrabenen Eisenbahnwagen voll mit Mumien Alien-artiger Wesen. Das ist genug, dass es dem Cigarette Smoking Man offenbar endgültig reicht und er Mulder mittels schwerbewaffneter Handlanger den garausmachen will, vor allem jetzt, wo der keine Deckung mehr durch das FBI mehr hat. So geht ein Cliffhanger! Hätte ich nach dieser Folge monatelang auf eine Fortsetzung warten müssen… ich mag es mir gar nicht vorstellen. Die Mythologie zeigt sich in absoluter Hochform und man bekommt eine Ahnung, warum Chris Carter plante, die Serie nach Staffel 5 nur noch in Filmen weiterzuführen. Die Story scheint so groß, dass sie an allen Rändern am absolut Äußersten dessen ist, was Fernsehen Mitte der 90er leisten konnte. Mann, freu ich mich jetzt auf Staffel 3! Und in vermutlich ca. einem halben Jahr teile ich hier mit Euch, ob sich die Vorfreude als richtig herausgestellt hat.
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