Ich habe das gesamte letzte Jahr und einen guten Teil der Jahre zuvor keinen MCU Film mehr geschaut. Das war gar keine bewusste Entscheidung, das hat sich einfach so ergeben. Das hat sich erst vor Kurzem geändert, als ich ‚Spider-Man: No Way Home‘ nachgeholt habe. Als alter Spidey Fan war ich da durchaus neugierig drauf. Wie ich den Film an sich fand, lest Ihr hier demnächst in der Besprechung. Heute aber soll es mir um etwas ganz anderes gehen. Ich habe mich als Zuschauer vom neuen ‚Spider-Man‘ wieder gefühlt wie früher als Leser von Superheldencomics. Und das meine ich nicht unbedingt positiv.
Wenn man, wie ich, in den frühen 90ern zum ersten Mal ein Spider-Man Heft aufschlägt (das gilt aber vermutlich zu jeder Zeit und bei jedem Helden, der auf genug Historie zurückblicken kann), dann kann man sich zunächst einmal ein wenig erschlagen fühlen. Da ist also Peter Parker, verheiratet mit Mary Jane Watson, ein gigantischer Freundeskreis, der sich teilweise mit den Comicschurken überschneidet. Harry Osborn etwa ist Peters bester Freund, wenn er nicht gerade eine psychotische Phase als neuer, Grüner Goblin durchlebt, eine Rolle, die er von seinem Vater geerbt hat. Und Ned Leeds war womöglich einmal der Hobgoblin (nicht zu verwechseln mit dem grünen, aber er nutzt dieselbe Technik), oder aber er wurde mit falschen Erinnerungen ausgestattet, die ihn glauben lassen, er wäre mal der Hobgoblin gewesen. Fangen wir gar nicht erst vom Halbbruder von Liz Allen an, der der Molten Man ist. Dann sind da die vielen anderen Schurken, die einfach bloß Schurken sind, J.Jonah Jameson und die ganze Bugle Crew und ein ganzes Universum anderer Helden. Allerlei Fußnoten versuchen Ordnung ins Chaos zu bringen, aber stets indem auf andere Publikationen verwiesen wird, wo man die Infos finden kann.
Mit zwölf Jahren fand ich das ganz super. Dieses Gefühl, dass da ein ganzes Universum ist, das man sich selber langsam erschließt. Wo man nach einigen Jahren sagen kann, „ah ja, Silver Sable, die kenn ich natürlich“ und nicht mehr wie der Ochs vorm symkarischen Berg steht (Silvia Sablinova stammt, natürlich, aus dem osteuropäischen Staat Symkarien). Fast als wäre man Mitglied bei den Freimaurern und kennt endlich den geheimen Handschlag. Mit 30 Jahren mehr auf der Uhr, hatte ich dieses Gefühl jetzt wieder bei Spider-Man. Habe dann aber hinterher mal drüber nachgedacht, wo der überall seine kleinen Hinweisfußnoten gebraucht hätte.
Man sollte natürlich ‚The First Avenger: Civil War‘ kennen, wo Tom Hollands Spider-Man eingeführt wurde. Dann die zwei bisherigen MCU Spider-Man Filme. Alles klar soweit. Aber für deren Verständnis müsste man eigentlich auch ‚Infinity War‘ und ‚Endgame‘ kennen. Und für deren Verständnis sind eigentlich mindestens die vorherigen beiden Avengers Filme notwendig. Auf die ganzen Origins verzichten wir mal großzügig. Das wär‘s aus dem MCU.
Pflicht sind auch die ersten beiden Raimi Spider-Mans, den dritten darf man sich sparen. Für dieses Gedankenexperiment und allgemein. Die beiden ‚Amazing Spider-Man‘ Filme sollte man ebenfalls geschaut haben, womit wird dann bei den echt schweren Hausaufgaben angekommen wären. Will man jede Anspielung mitnehmen sollte man aber auch ‚Spider-Man: A New Universe‘ und wenigstens den ersten ‚Venom‘ Film kennen. Und die ‚Daredevil‘ TV Serie. Aber die letzten drei sind eher Kür als Pflicht.
Macht elf Filme, die man kennen sollte, will man das Meiste aus ‚No Way Home‘ herausholen. Fast 24 Stunden „Hausaufgaben“. Das ist eine Hyperverknüpfung, die mir wahnwitzig erscheint. Stellt Euch mal vor, in 40 Jahren fragt Euch Euer Enkel, wie das damals mit diesen Superheldenfilmen war und welchen Ihr empfehlen würdet. Egal wie sehr Ihr ‚No Way Home‘ schätzt, es wäre unmöglich den zu empfehlen, weil da ein absurder Spinnenfaden an Zeugs dranhängt.
Ich verstehe selbstverständlich, warum das so ist. Es war ja genau diese comichafte Verknüpfung des Cinematic Universe, die den Charme von Marvelfilmen ausmachte. Es wirkte wie ein Zaubertrick, dass der erste ‚Avengers‘ nicht platt aufs Gesicht fiel. Den meisten anderen, die versucht haben das zu emulieren, ist denn auch genau das passiert. Aber hier und jetzt sehe ich die Verknüpfung zum Problem werden. Vor allem, wenn jetzt, Disney+ sei Dank, auch noch TV Serien zum wichtigen Kanon werden. Ich beende meine Besprechung von ‚No Way Home‘ mit der vorsichtigen Frage, ob ich den neuen Doctor Strange einfach so schauen „darf“, oder ob ‚WandaVision‘ hier „Pflicht“ ist.
Wir sind nun langsam aber sicher an der Schwelle an der auch Superheldencomics immer mehr scheitern. Die Schwelle für den Einstieg wird höher und höher. Wie gesagt, mit 12 hatte ich Lust mir das zu erarbeiten. Aber ich hatte auch ein weit geringeres Medienangebot, als das heute der Fall ist. Die Verknüpfungen könnten alsbald zum echten Ballast werden. Und im schlimmsten Fall dafür sorgen, das nicht nur eine Reihe die Gunst des Publikums verliert, sondern, eben weil alles so verschachtelt ist, gleich das MCU an sich. Klar, die Hardcorefans lieben es, aber die sind kaum genug, um die Comics am Leben zu halten, für die Filme werden sie nie reichen.
Die Comics reagieren auf den Geschichtenwust mit Rücksetz-Events, die die Kontinuität für Einsteiger quasi auf null zurücksetzen. DC waren die ersten, Mitte der 80er mit ihrer ‚Crisis on Infinite Earths‘, was sich wie ein erstaunlich aktueller Superheldenfilm-Titel liest. Werden solche Rücksetz-Events nun bald auch für die Filme notwendig? Ich vermute, solange das Geschäft noch läuft, wird man das als überflüssig ansehen. Andererseits ist Kevin Feige Comicfan genug, dass er das Problem wohl kaum übersehen kann. Anderer-Andererseits stellt sich das Problem natürlich nie, wenn man brav alles schaut. Aber selbst wenn es sie gäbe, verprellt man damit natürlich auch direkt wieder alte Fans und ein paar Jahre später ist, zumindest in den Comics, alles wieder verwirrender als je zu vor.
Ich will hier aber auch gar keine Zukunft vorhersagen, ich wollte einfach nur eine Beobachtung teilen, die den Rahmen der ‚No Way Home‘ Besprechung komplett gesprengt hätte.