Ich sage ja gerne immer wieder mal, dass wir in einem goldenen Zeitalter der Animation leben. Manchmal höre ich dann, es gäbe doch nur noch CGI-Animation von leicht variabler Qualität. Aber das stimmt überhaupt nicht! Nicht nur schließt das Anime quasi komplett aus, es ignoriert auch, dass es zwei international erfolgreiche Studios (Aardman und Laika) gibt, die mit Claymation/Stop-Motion grandiose Erfolge verzeichnen. Aber auch klassische, westliche Animation ist noch da. In Form internationaler Kooperation, wie etwa ‚Die Rote Schildkröte‘, aber auch als allein europäische Produktionen. Sylvain Chomet sei hier erwähnt, oder eben der Ire Tomm Moore, um den es hier gehen soll.
Ich mochte sein (gemeinsam mit Nora Twomey) ‚Geheimnis von Kells‘ sehr gern, in dem er irische Geschichte, etwa monastische Bilderhandschriften (eben das berühmte Book of Kells) und Wikingereinfälle mit irischer Mythologie um Crom Cruach verwob und so einen visuell wie erzählerisch ziemlich einzigartigen Animationsfilm schuf.
Auch in ‚Die Melodie des Meeres‘ spielt irische Mythologie und Folklore eine zentrale Rolle. Und, ohne ‚Das Geheimnis von Kells‘ damit in irgendeiner Weise abwerten zu wollen, er ist in meinen Augen ein noch besserer Film.
Bens Vater Conor ist Leuchtturmwärter auf einer kleinen Insel. Hier leben sie mit Bens Mutter Bronagh ein sehr glückliches Leben. Doch vor etwa sechs Jahren, in der Nacht als Bens kleine Schwester Saoirse geboren wurde, verschwand Bronagh. Seitdem ist Conor ein gebrochener Mann. Und Ben mag seine kleine Schwester, der er das Verschwinden der Mutter vorwirft, überhaupt nicht. Conors Großmutter beschließt, dass die Kinder so nicht länger leben können und nimmt sie mit zu sich in die Stadt. Doch dafür muss Ben seinen geliebten Bobtail Cu zurücklassen. Klar, dass er sich bei erster Gelegenheit auf den langen Weg zurück zum Leuchtturm macht. Ebenso klar, dass Saoirse ihrem großen Bruder folgt. Da wissen beide noch nicht, wie wichtig und wie schwierig es sein wird, Saoirse in der Nacht von Halloween zurück zur Küste zu bringen.
‚Die Melodie des Meeres‘ ist einer dieser Filme, der eine Beschreibung nur in Worten verdammt schwierig macht. Mir jedenfalls fällt es nicht leicht die Schönheit der stilisierten Bilderbuchfiguren, die hier vor wunderschönen Hintergründen agieren, in einer annähernd magischen Animation, die das Alltägliche in wirbelnden Galaxien aufgehen lässt, in adäquate Worte zu fassen. Jedenfalls passt der Stil der Animation perfekt zu einer Geschichte, in die immer wieder Riesen, Hexen, Feen und Selkies gewoben werden und sich hier als völlig logische Elemente in die Handlung fügen. Magie findet Moore dabei überall. Feen etwa leben im Abfluss im Gebüsch einer Verkehrsinsel, eine steinerne Klippe ist ein im Gram erstarrter Riese.
Doch all das sind nur Elemente einer Erzählung, die sich letztlich auf ein zentrales menschliches Problem bezieht. Wie gehen wir mit negativen Gefühlen um? Der Verlust unserer Liebsten ist eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die wir als Menschen machen können und damit ist sie eine, die wir von Kindern nur allzu gern fernhalten möchten. Moore hat hier einen Weg gefunden diese Emotion kindgerecht zu verpacken, ohne sie damit in irgendeiner Weise abzumildern oder herabzustufen. Ja, es ist sogar ein zentrales Bild der Geschichte, dass jeder Versuch alle negativen Gefühle fernzuhalten, und geschieht dies auch in Liebe, in einer Katastrophe enden muss. ‚Die Melodie des Meeres‘ ist damit ein perfekter Familienfilm. In dem Sinne, dass er eben kein Film für Kinder ist, der „auch etwas für Erwachsene“ bietet. Er ist ein Film aus dem Jeder in jedem Alter etwas mitnehmen kann und, so vermute ich, auch mitnehmen wird.
Der Film ist von einer annähernd magischen Schönheit, nicht nur in der Animation, auch in seiner Musik vom französischen Komponisten Bruno Coulais und der irischen Folkband Kíla, die auch schon an ‚Kells‘ zusammengearbeitet haben. Doch hier steht die Musik, der Name des Films lässt es erahnen, noch ein wenig mehr im Mittelpunkt und webt, wie die Bilder einen Teppich aus Licht und Dunkelheit, aus europäischen und pur irischen Melodien.
‚Die Melodie des Meeres‘ ist ein Film, der definitiv nicht Fokusgruppen-getestet ist, das macht seine Schönheit aus. So ist etwa Ben am Anfang des Film ein wirklich schmerzhaftes Arschloch zu seiner Schwester. Ein Hollywood-Studio-Film hätte hier sicherlich nachgeschliffen, von der zentralen Botschaft ganz zu schweigen. Dennoch, wenn Ihr Kinder habt schaut den Film mit ihnen. Schaut ihn vielleicht vorher allein, um zu sehen, ob er trotz 0 Jahre Altersfreigabe gruselige Momente enthält. Und wenn Ihr keine Kinder habt schaut ihn trotzdem, Ihr werdet es mit Sicherheit nicht bereuen. Ein gesondertes Lob erlaube ich mir noch für das Design und die Animation von Cu. Wenn man die Essenz eines Bobtails in Bilder packen wollte, sähe sie wohl so aus.
Eine absolute Empfehlung für jeden, der Animationsfilme mag. Und wer danach immer noch das goldene Zeitalter der Animation bestreitet… naja, dem kann ich halt auch nicht helfen. Pflichtprogramm natürlich auch für Leute, die endlich herausfinden wollen, wie man Saoirse Ronans Vornamen korrekt ausspricht…