Satoshi Kons letzter (animierter) Spielfilm (es folgte noch eine Kurzfilmarbeit) vor seinem viel zu frühen Tod durch Bauchspeicheldrüsenkrebs. Seine Filmografie ist nicht lang, tatsächlich fehlt nach dieser Besprechung (und ‚Perfect Blue‘ und ‚Tokyo Godfathers‘) nur noch ‚Millennium Actress‘, aber sie ist faszinierend und einflussreich. Kons Erzählweise hätte wohl in keinem anderen Medium als dem animierten Film wirklich funktioniert, dennoch inspirierten seine Ideen immer wieder auch und gerade Regisseure von Realfilmen. ‚Paprika‘ bildet hier keine Ausnahme.
Ein Gerät mit dem Psychotherapeuten die Träume ihrer Patienten miterleben und beeinflussen können wird gestohlen. Der unbekannte „Traumterrorist“ kann nun aus der Ferne Träumer beeinflussen. Schlimmer noch, Leute die das Gerät häufig verwendet haben müssen nicht einmal schlafen um beeinflusst zu werden, wie sich herausstellt, als der Chef des Entwicklungslabors plötzlich beginnt Unsinn zu reden und sich aus dem Fenster stürzt. Die kühl-distanzierte Therapeutin Dr. Chiba und der Chefingenieur des Geräts, der übergewichtige, kindliche Kōsaku Tokita versuchen den Schuldigen mit Hilfe von Polizist Konakawa aufzuspüren. Das wichtigste Element dabei ist allerdings Chibas Traum-Therapeuten-Persona Paprika, die in jeder Hinsicht das Gegenteil ihrer Realweltpersönlichkeit ist.
‚Paprika‘ ist ein surrealer Film. Ein Film randvoll mit Symbolen, was er von Anfang an klarmacht. Da fährt ein winziges Auto ins Bild hinein und heraus steigt ein gigantischer immer weiter wachsender Clown. Später schickt der „Traumterrorist“ eine schier unendliche Parade von Symbolen durch die Träume der Menschen, um so eine Massenpsychose auszulösen. Der Film macht deutlich, dass er nicht verlangt in einer Sitzung (oder überhaupt) vollends „verstanden“ zu werden, er will vor allem erlebt werden.
Thematisch bleibt sich Kon hier weitgehend treu, im Zentrum stehen auch hier Themen der Identität und Alter Egos und wie wir sie präsentieren, bzw. wie sie sich hier im Traum unkontrolliert ausleben. Dabei zieht Kon direkte Vergleiche zwischen Träumen und Filmen, die uns erlauben in eine andere Identität zu schlüpfen und nicht zuletzt dem Internet, das uns erlaubt jede Identität anzunehmen, die wir wollen. Visuell kann er sich hier mehr als je zuvor austoben. Die merkwürdige Parade erinnert an ähnliche Prozessionen von Götterwesen aus Ghiblis ‚Chihiros Reise ins Zauberland‘ und ist ebenso beeindruckend. Dazu kommen, vor allem in den Träumen von Polizist Konakawa, direkte Nachstellungen bekannter Filmszenen, etwa aus ‚Ein Herz und eine Krone‘, Liebesgrüße aus Moskau‘, oder ‚Tarzan‘, während der Polizist selbst in einer Szene im typischen Outfit Akira Kurosawas zu sehen ist. Auch auf seine eigenen Filme spielt Kon hier direkt an.
Was hier mehr noch als in seinen anderen Filmen positiv auffällt ist Kons Schnitt. Er ist jemand, der gerne um Details einer Szene herum schneidet, den Zuschauer gerne zunächst im Unklaren lässt, was er eigentlich sieht und Meister des kreativen Sznenwechsels. Mal reicht ein Passant, der vor der Kamera vorbeigeht um uns in eine neue Szene mitzunehmen und Matchcuts sind beinahe üblich. Der auffälligste Wechsel ist aber sicherlich, wenn Paprika in das T-Shirt-Motiv eines Skaters springt und der Film in dem Moment, wenn das Shirt die Kamera voll ausfüllt zur nächsten Szene schneidet. Derartige Spielereien sind eigentlich ein Patentrezept, um den Zuschauer zu verlieren. Einmal geblinzelt und schon weiß man überhaupt nicht mehr in welcher Szene man sich befindet. Das mag einerseits gewollt sein, wenn der Film die Grenzen zwischen Traum und Wachen immer mehr aufweicht und ganz verschwinden lässt, andererseits gelingt es Kon, dass man sich, eben wie in einem Traum, nie verloren fühlt. Kon beherrschte, fast besser als jeder andere, in seinen Filmen diese „Traumlogik“. Sprünge bei denen er den Zuschauer eigentlich verlieren sollten, fühlten sich vollkommen nachvollziehbar, zu keinem Zeitpunkt fühlt man sich hier ernsthaft verwirrt.
Hier mag ein guter Zeitpunkt sein, um über den unvermeidbaren Vergleich mit ‚Inception‘ zu sprechen. Ob Christopher Nolan den Film gesehen, oder die gleichnamige Buchvorlage von Yasutaka Tsutsui gelesen hat, weiß ich nicht, aber sind einige thematische und visuelle Übereinstimmungen zu deutlich, als dass er das Werk gar nicht gekannt haben kann. Allerdings halte ich einen direkten Abgleich der beiden Filme gar nicht für sinnvoll. Dafür sind Kon und Nolan einfach viel zu unterschiedliche Filmemacher. Nolans Ansatz ist der des Uhrmachers. Eines Uhrmachers, der stolz auf sein Handwerk ist, der will, dass wir das komplexe System aus Schwung- und Zahnrädern sehen, das seinen Film am Ticken hält. Und wenn es komplex genug ist, dass wir den Überblick verlieren, umso besser. Kon ist ein Surrealist. Seine Uhren zerfließen, wie die in Dalís „Beständigkeit der Erinnerung“. Nolan ist seinen Charakteren gegenüber meist distanzierter Beobachter, Kon ist seinen Figuren meist extrem nah. Selbst seine Establishing Shots stellen sich hinterher oft als subjektiver Blick aus den Augen eines Charakters heraus. Nolan hier Plagiat vorzuwerfen, wie man das mancherorts findet geht, wenigstens für mich, daher am Ziel vorbei und entwertet letztlich beide Filme. Nicht dass ich mir nicht auch eine konkretere Aussage Nolans gewünscht hätte…
‚Paprika‘ ist ein Film, den man einmal schaut, ein erfülltes Filmerlebnis dabei hatte, aber mit dem Gefühl zurückbleibt, da sei noch vieles drin, was man nicht mitgenommen hat. Daher schaut man ihn wieder und wieder. Und Kons visueller Überfluss ist so reich, dass man jedes Mal zwangsläufig neues entdeckt. Was diese Wiederholungen aber vor allem anderen funktionieren lässt, ist das es Kon gelingt Charaktere zu etablieren, mit denen wir mitfühlen. Charaktere, die grundsätzlich komplexer wirken als das was wir von ihnen sehen. Selbst die Beziehung zwischen Dr. Chiba und Parika ist komplexer als man erwarten sollte. In den meisten Filmen, in denen Alter Egos vorkommen, gibt es den Moment der Erkenntnis zwischen ihnen, dass sie bei allen Unterschieden, die gleiche Person sind. Das geschieht hier überhaupt nicht. Kon behandelt sie bis zum Schluss als zwei verschiedene Personen. Das wirft natürlich Fragen auf, wenn gewisse andere Charaktere Geschichten über vorgeblich andere Personen erzählen, ob diese nicht auch ein Alter Ego ihrer selbst seien.
‚Paprika‘ ist ohne Zweifel Kons visuell beeindruckendster Film. Ein Film, den ich jedem, ganz unabhängig welche Vorurteile man über Anime haben mag, ans Herz legen würde, nicht zuletzt um zu sehen, was der animierte Film in seiner entfesselten Form zu leisten in der Lage ist.
PS: sagt mal, hört Ihr das auch? Diese leicht näselnde Sirene? Als hätte jemand einen Cadillac Miller Meteor mit einer New Yorker Polizeisirene Modell C5GB ausgestattet, wie sie in den 50ern bis in die 70er verwendet wurde, allerdings die Tonhöhe der Sirene modifiziert, um sich nicht einer Amtsanmaßung strafbar zu machen (wobei ich nicht sicher bin wie juristisch haltbar das ist). Also entweder träume ich jetzt auch, oder irgendetwas ist seltsam in der Nachbarschaft…