Nachdem ich Satoshi Kons Weihnachtsfilm hier in den letzten Tagen schon ein paar Mal erwähnt habe, kann ich eigentlich auch gleich eine komplette Besprechung schreiben. Im leider nicht sehr umfangreichen Filmwerk des viel zu früh gestorbenen Regisseurs nimmt der Film sicher so etwas wie eine Sonderstellung ein. Lassen sich in seinen anderen Filmen von ‚Perfect Blue‘ bis ‚Paprika‘ durchaus wiederkehrende Elemente und typisch surreale Traummomente finden, fallen diese in seiner ungewöhnlichen Weihnachtsgeschichte beinahe völlig weg. Der Film ist eine Adaption des Romans „Three Godfathers“ von Peter Klyne, der auch in der Frühzeit Hollywoods bereits mehrfach adaptiert wurde, zuletzt 1948 mit John Wayne. Ich kenne weder das Buch, noch die früheren Umsetzungen, allerdings scheint es nach kurzer Recherche eindeutig, dass Kon mehr verändert hat als nur den Ort der Handlung nach Tokyo zu verlegen. So sind etwa die Hauptcharaktere im Roman Bankräuber und keine Obdachlosen.
Der verantwortungsscheue Alkoholiker Gin, die mütterliche Transfrau Hana und die frisch von zu Hause ausgerissene Teenagerin Miyuki, die Protagonisten dieses Films, leben allerdings auf den Straßen Tokyos und ernähren sich von dem, was der örtliche Nobelbezirk wegwirft. Beim Wühlen im Müll am Heiligabend entdecken sie ein Baby, das offenbar ausgesetzt wurde. Hana besteht darauf es nicht direkt zur Polizei zu bringen, sondern den Eltern selbst zu finden, um zu erfahren, warum sie das getan haben. Sie tauft das Mädchen Kiyoko (was, wenn ich das richtig verstehe, sowohl „stille Nacht“, als auch „reines Kind“ bedeuten kann). Was ihnen auf der Suche alles zustößt, will ich gar nicht erst versuchen hier darzulegen. Es ist eine wilde Geschichte, in der sie einen Yakuza-Boss aus einer misslichen Situation befreien, einem südamerikanischen Assassinen in die Quere kommen, natürlich die durchaus verwinkelte Geschichte Kiyokos aufklären und ihrer eigenen Vergangenheit abseits der Straße wieder begegnen.
Was als allererstes auffällt ist die ungewöhnliche Farbgebung des Films. Während sich andere Weihnachtsfilme häufig auf die typischen Farben konzentrieren, schneeweiß, tannengrün und santarot, stellt Kon sein Tokyo in sehr warmen Erdfarben dar. Die Gesellschaft, die darin lebt, ist bei ihm allerdings eine sehr fragmentierte. Nicht nur stapelt sich in den Gassen zwischen den klinisch reinen Hochhausfassaden meterhoch der Müll, der zur neuen Heimat für von der Gesellschaft verstoßene wird, es werden im Hintergrund Leute überfahren, ohne dass es jemand zur Kenntnis nähme und in der U-Bahn starrt man entweder auf das eigene Handy oder hält die Augen krampfhaft geschlossen. Auch macht die Geschichte kein Geheimnis daraus, wie leicht der soziale Absturz passieren kann.
Kon hütet sich allerdings die Obdachlosigkeit in irgendeiner Art zu romantisieren. So stirbt ein alter Mann allein in einer verschneiten Gasse und eine Gruppe privilegierter Jugendlicher taucht mit Baseballschlägern in einem Obdachlosenlager auf, zum „Neujahrsputz“. Auch die Ersatzfamilie, die Gin, Hana und Miyuki (und später Kiyoko) bilden wird hier nicht idealisiert, sondern als durchaus dysfunktional dargestellt. Aber eben auch nicht viel dysfunktionaler als eine „normale“ Familie.
Hana sticht von den drei Charakteren sicher am meisten hervor und das nicht nur, weil vor 15 Jahren die Darstellung von Transfrauen im Film als echte Charaktere noch weit ungewöhnlicher war als heute. Man kann sicherlich völlig zu Recht anmerken, dass ihr Charakter noch oft genug stereotypisch überzeichnet dargestellt wird und der Umgang mit ihr mit rau noch freundlich umschrieben wäre (das zumindest ist aber sicherlich realistisch). Allerdings ist es ihre mütterliche Motivation für das Baby, die der Film (wenn auch nicht alle Charaktere) völlig ernst nimmt, die die Handlung in Bewegung setzt und hält. Sie ist diejenige mit den gefestigtsten moralischen Standpunkten des Trios. Ironischer Weise sind auch genau die dafür verantwortlich sind, dass sie nun auf der Straße lebt. In Gin hingegen sehe ich eine Art Zerrbild von George Bailey aus ‚Ist das Leben nicht schön?‘. Während Bailey sich zu viel Verantwortung aufhalst, will Gin am liebsten aller Verantwortung entfliehen. Anders als Bailey erfährt er, dass seine Abwesenheit keine Katastrophe für seine Familie war, sondern ihr Leben relativ normal weiterging, sie ihn aber dennoch vermisst haben. Darin liegt für ihn sogar eine Art Erleichterung bis er schließlich… aber das würde schon wieder zu viel verraten. Etwas blass hingegen bleibt das jüngste Mitglied des Trios Miyuki. Sie befindet sich in einer pubertären Teenagerrebellion gegen alles und jeden, nachdem sie nach einer heftigen (aber nicht gewalttätigen) Auseinandersetzung mit ihrem Vater ausgerissen ist. Wirkliche Antagonisten gibt es höchstens für einzelne Szenen, die Konflikte, die die Protagonisten austragen müssen, sind vor allem mit sich selbst.
Die Geschichte, die Kon erzählt, ist eine Geschichte der Zufälle. Eine Geschichte oftmals gewaltiger Zufälle, bis die Grenze zwischen Zufall und echtem Weihnachtswunder beinahe zu verschwimmen beginnt, insbesondere in einer der letzten Szenen des Films. Im Zentrum der Geschichte stehen allerdings ganz typisch weihnachtliche Themen, wie die Sehnsucht nach Liebe und Familie, sowie, ganz wesentlich, die Vergebung für tatsächliche oder empfundene Schuld. Doch anders als andere Weihnachtsfilme präsentiert er uns am Ende keine heile Welt. Er hat seinen Charakteren zwar alle Türen geöffnet, doch ob sie es auch schaffen hindurchzugehen, das erfahren wir nicht.
‚Tokyo Godfathers‘ ist für mich ein essentieller Weihnachtsfilm. Gerade weil er so anders ist als die typischen Vertreter dieser Gattung. Und damit meine ich nicht er ist wie die Filme für Leute, die Weihnachtsfilme eigentlich hassen, wie ‚Stirb Langsam‘ oder ‚Gremlins‘. Die Themen sind ganz typisch für Weihnachtsfilme, wie eben ‚Ist das Leben nicht schön?‘, aber betrachtet aus Satoshi Kons ganz eigenem Blickwinkel, den man so nirgendwo anders wiederfindet.