‚Tokyo Godfathers‘ (2003) – drei Obdachlose und ein Baby

Nachdem ich Satoshi Kons Weihnachtsfilm hier in den letzten Tagen schon ein paar Mal erwähnt habe, kann ich eigentlich auch gleich eine komplette Besprechung schreiben. Im leider nicht sehr umfangreichen Filmwerk des viel zu früh gestorbenen Regisseurs nimmt der Film sicher so etwas wie eine Sonderstellung ein. Lassen sich in seinen anderen Filmen von ‚Perfect Blue‘ bis ‚Paprika‘ durchaus wiederkehrende Elemente und typisch surreale Traummomente finden, fallen diese in seiner ungewöhnlichen Weihnachtsgeschichte beinahe völlig weg. Der Film ist eine Adaption des Romans „Three Godfathers“ von Peter Klyne, der auch in der Frühzeit Hollywoods bereits mehrfach adaptiert wurde, zuletzt 1948 mit John Wayne. Ich kenne weder das Buch, noch die früheren Umsetzungen, allerdings scheint es nach kurzer Recherche eindeutig, dass Kon mehr verändert hat als nur den Ort der Handlung nach Tokyo zu verlegen. So sind etwa die Hauptcharaktere im Roman Bankräuber und keine Obdachlosen.

Der verantwortungsscheue Alkoholiker Gin, die mütterliche Transfrau Hana und die frisch von zu Hause ausgerissene Teenagerin Miyuki, die Protagonisten dieses Films, leben allerdings auf den Straßen Tokyos und ernähren sich von dem, was der örtliche Nobelbezirk wegwirft. Beim Wühlen im Müll am Heiligabend entdecken sie ein Baby, das offenbar ausgesetzt wurde. Hana besteht darauf es nicht direkt zur Polizei zu bringen, sondern den Eltern selbst zu finden, um zu erfahren, warum sie das getan haben. Sie tauft das Mädchen Kiyoko (was, wenn ich das richtig verstehe, sowohl „stille Nacht“, als auch „reines Kind“ bedeuten kann). Was ihnen auf der Suche alles zustößt, will ich gar nicht erst versuchen hier darzulegen. Es ist eine wilde Geschichte, in der sie einen Yakuza-Boss aus einer misslichen Situation befreien, einem südamerikanischen Assassinen in die Quere kommen, natürlich die durchaus verwinkelte Geschichte Kiyokos aufklären und ihrer eigenen Vergangenheit abseits der Straße wieder begegnen.

Was als allererstes auffällt ist die ungewöhnliche Farbgebung des Films. Während sich andere Weihnachtsfilme häufig auf die typischen Farben konzentrieren, schneeweiß, tannengrün und santarot, stellt Kon sein Tokyo in sehr warmen Erdfarben dar. Die Gesellschaft, die darin lebt, ist bei ihm allerdings eine sehr fragmentierte. Nicht nur stapelt sich in den Gassen zwischen den klinisch reinen Hochhausfassaden meterhoch der Müll, der zur neuen Heimat für von der Gesellschaft verstoßene wird, es werden im Hintergrund Leute überfahren, ohne dass es jemand zur Kenntnis nähme und in der U-Bahn starrt man entweder auf das eigene Handy oder hält die Augen krampfhaft geschlossen. Auch macht die Geschichte kein Geheimnis daraus, wie leicht der soziale Absturz passieren kann.

Kon hütet sich allerdings die Obdachlosigkeit in irgendeiner Art zu romantisieren. So stirbt ein alter Mann allein in einer verschneiten Gasse und eine Gruppe privilegierter Jugendlicher taucht mit Baseballschlägern in einem Obdachlosenlager auf, zum „Neujahrsputz“. Auch die Ersatzfamilie, die Gin, Hana und Miyuki (und später Kiyoko) bilden wird hier nicht idealisiert, sondern als durchaus dysfunktional dargestellt. Aber eben auch nicht viel dysfunktionaler als eine „normale“ Familie.

Hana sticht von den drei Charakteren sicher am meisten hervor und das nicht nur, weil vor 15 Jahren die Darstellung von Transfrauen im Film als echte Charaktere noch weit ungewöhnlicher war als heute. Man kann sicherlich völlig zu Recht anmerken, dass ihr Charakter noch oft genug stereotypisch überzeichnet dargestellt wird und der Umgang mit ihr mit rau noch freundlich umschrieben wäre (das zumindest ist aber sicherlich realistisch). Allerdings ist es ihre mütterliche Motivation für das Baby, die der Film (wenn auch nicht alle Charaktere) völlig ernst nimmt, die die Handlung in Bewegung setzt und hält. Sie ist diejenige mit den gefestigtsten moralischen Standpunkten des Trios. Ironischer Weise sind auch genau die dafür verantwortlich sind, dass sie nun auf der Straße lebt. In Gin hingegen sehe ich eine Art Zerrbild von George Bailey  aus ‚Ist das Leben nicht schön?‘. Während Bailey sich zu viel Verantwortung aufhalst, will Gin am liebsten aller Verantwortung entfliehen. Anders als Bailey erfährt er, dass seine Abwesenheit keine Katastrophe für seine Familie war, sondern ihr Leben relativ normal weiterging, sie ihn aber dennoch vermisst haben. Darin liegt für ihn sogar eine Art Erleichterung bis er  schließlich… aber das würde schon wieder zu viel verraten. Etwas blass hingegen bleibt das jüngste Mitglied des Trios Miyuki.  Sie befindet sich in einer pubertären Teenagerrebellion gegen alles und jeden, nachdem sie nach einer heftigen (aber nicht gewalttätigen) Auseinandersetzung mit ihrem Vater ausgerissen ist. Wirkliche Antagonisten gibt es höchstens für einzelne Szenen, die Konflikte, die die Protagonisten austragen müssen, sind vor allem mit sich selbst.

Die Geschichte, die Kon erzählt, ist eine Geschichte der Zufälle. Eine Geschichte oftmals gewaltiger Zufälle, bis die Grenze zwischen Zufall und echtem Weihnachtswunder beinahe zu verschwimmen beginnt, insbesondere in einer der letzten Szenen des Films. Im Zentrum der Geschichte stehen allerdings ganz typisch weihnachtliche Themen, wie die Sehnsucht nach Liebe und Familie, sowie, ganz wesentlich, die Vergebung für tatsächliche oder empfundene Schuld. Doch anders als andere Weihnachtsfilme präsentiert er uns am Ende keine heile Welt. Er hat seinen Charakteren zwar alle Türen geöffnet, doch ob sie es auch schaffen hindurchzugehen, das erfahren wir nicht.

‚Tokyo Godfathers‘ ist für mich ein essentieller Weihnachtsfilm. Gerade weil er so anders ist als die typischen Vertreter dieser Gattung. Und damit meine ich nicht er ist wie die Filme für Leute, die Weihnachtsfilme eigentlich hassen, wie ‚Stirb Langsam‘ oder ‚Gremlins‘. Die Themen sind ganz typisch für Weihnachtsfilme, wie eben ‚Ist das Leben nicht schön?‘, aber betrachtet aus Satoshi Kons ganz eigenem Blickwinkel, den man so nirgendwo anders wiederfindet.

‚Die rote Schildkröte‘ (2016) – Von Menschen und Inseln

Die Entstehungsgeschichte dieses ungewöhnlichen Animationsfilms ist einen Blick wert: Vincent Maraval, der Chef des französischen Filmverleihers und -produzenten Wild Bunch* war 2008 auf einem Geschäftsbesuch bei Studio Ghibli. Dort nahm ihn Hayao Miyazaki beiseite, zeigte ihm den Kurzfilm ‚Father & Daughter‘ und bat den Franzosen dessen Regisseur ausfindig zu machen und ihm eine Kooperation mit dem Anime-Studio für einen animierten Spielfilm anzubieten. Maraval kontaktierte jenen Regisseur, den Niederländer Michael Dudok De Wit, den er in London traf und überzeugte ihn von dem Projekt, für das De Wit zusammen mit dem Franzosen Pascale Ferran das Drehbuch schrieb.

Was macht diese Entstehung des Projekts interessant? ‚Die rote Schildkröte‘ ist ein Film, der ohne Dialoge auskommt. Vor kurzem habe ich in einem Artikel darüber geschrieben, dass das weitgehende Fehlen von Dialogen Stummfilme universell gemacht habe. Erst die Einführung von Ton und damit ausführlichen Dialogen machte Filme kulturspezifisch. Nun ist ‚Die rote Schildkröte‘ definitiv kein Stummfilm, doch der Verzicht auf Dialoge ein gezielter Versuch eine allgemeingültige, eine archetypische Geschichte zu erzählen, wozu diese sehr internationale Entstehung hervorragend passt und diese Idee womöglich sogar beflügelt hat.

Der Film beginnt wie eine typische Robinson Crusoe Geschichte. Ein junger Mann und ein Boot in Sturmwellen, deren Darstellung Hokusai stolz gemacht hätte. Der junge Mann wird an einer einsamen Insel angespült und tut was jeder Protagonist einer solchen Geschichte tut. Er orientiert sich, sucht nach Nahrung und versucht schließlich von der Insel zu entkommen. Bereits in dieser Phase der Erzählung fließen Traumbilder nahtlos in die Handlung ein. Der Mann träumt vom Fliegen, von Musik und anderen Menschen. Seine Fluchtversuche von der Insel, auf einem Bambusfloß, werden mehrfach verhindert. Ein ungesehener Antagonist zertrümmert das fragile Gebilde immer wieder von unter der Wasseroberfläche. Schließlich entdeckt der Mann den Übeltäter: eine große, rote Schildkröte, die ihm allerdings, abgesehen von der Zerstörung des Floßes, nichts Böses will. Am folgenden Tag entdeckt der Mann die Schildkröte am Strand und dreht sie in einem Moment des Zornes auf den Rücken. Als er später von Reue getrieben zurückkehrt scheint es zu spät. Die Schildkröte ist tot. Doch in der Nacht geschieht Erstaunliches: das Tier verwandelt sich in eine Frau mit langen, roten Haaren. Damit ist der Grundstein gelegt, dass der Mann die Insel nicht als Ort begreift, von dem es zu entkommen gilt, sondern als Heimat. Der Film wird von einer Crusoe Erzählung zu etwas ganz anderem, ohne dass man es als Zuschauer sofort merkt.

Auch wenn es sich um einen Studio Ghibli Film handelt, erinnert die Darstellung eher an die franko-belgische Comictradition der „Ligne Claire“, deren wichtigster Vertreter „Tim & Struppi“ Erfinder Hergé war. Die Figuren sind mit dünnen, klaren Linien, die großflächige Farbräume umschließen dargestellt, die Gesichter mit wenigen Strichen skizziert, die Augen nur durch schwarze Punkte angedeutet. Dementsprechend zeichnen sich die Gefühle der Charaktere auch weniger auf ihren Gesichtern an, sie fühlen, leiden und lieben mit dem ganzen Körper. Die einfache Darstellung der Figuren ist nur folgerichtig, sind sie doch weniger Charaktere, als Archetypen, die zur Identifikation einladen sollen. Tiere hingegen sind deutlich realistischer dargestellt und verhalten sich wie normale Tiere. Abgesehen natürlich von der Schildkröte und ein paar Strandkrabben, die beinahe so etwas wie den Comic Relief des Films darstellen (aber dennoch nicht davor gefeit sind von Möwen gefressen zu werden).

Die Hintergründe sind, entsprechend der Tradition der Ligne claire, hochdetailliert und beinahe verschwenderisch gestaltet. Teilweise scheinen die Künstler das Filmkorn zu nutzen um dem Hintergrund noch mehr Textur zu geben, wie der klassische japanische Farbholzdruck es mit der Maserung des Holzes tut. Die Insel wird dadurch zu einer Art Paradies, das aber immer auch schreckliche Seiten aufweist, mit schönen Stränden und sattgrünen Bambuswäldern aber auch rottenden Kadavern und tiefen Kavernen.

Die tonale Untermalung unterstützt das noch. Von den realistischen Geräuschen der Insel, dem Brüllen von Robben, dem Kreischen der Möwen, dem Rauschen des Meeres bis zum Donnern eines Sturms. Sie sind umso auffälliger, da es keine Dialoge gibt, die von ihnen ablenken würden, die Menschen sind auf leise Geräusche und ein gelegentliches „Hey!“ beschränkt. Die Naturgeräusche gehen geradezu nahtlos in den wunderbar unauffälligen aber dennoch eindringlichen Soundtrack von Laurent Perez Del Mar über (der Trailer mit der sehr vordergründigen Musik gibt ein leicht falsches Bild).

Der Film wird weniger von einer packenden Handlung getragen oder Charakteren getrieben, als das er Stimmungen vermittelt. Interpretationen des Gesehen drängen sich daher nicht so sehr auf, sondern bieten sich eher an. Das typische Ghibli-Motiv des Lebens mit der Natur statt gegen sie ist sicherlich zentral, auch wenn man merkt, dass De Wit aus einer ganz anderen Erzähltradition stammt als Miyazaki. Der Film präsentiert uns ein ganzes Leben in 80 Minuten, ein Leben mit schönen mit wehmütigen und tragischen Momenten, aus dem wir unsere eigenen Schlüsse ziehen können und sollen.

‚Die rote Schildkröte‘ ist ein wunderschöner Film. Ein wirklich universeller Film, der sich keiner Tradition verhaftet fühlt und dennoch hochvertraut wirkt. Er ist Anime, er ist Bande dessinée und magischer Realismus, ohne dabei beliebig zu wirken. So sehr ich den typischen Ghibli „Haus-Stil“ der Animation auch mag, so bin ich dennoch froh, dass sie bei einigen ihrer letzten Produktionen, eben hier und beim hervorragenden ‚Die Legende der Prinzessin Kaguya‘, der sich an japanischer Tuschezeichnung orientierte, gezeigt haben, dass sie auch andere Stile perfekt beherrschen.

Der Film ist jedenfalls eine dicke Empfehlung für jeden der Animation und dialoglosem Erzählen nicht völlig abgeneigt ist. Auch für Kinder ist er geeignet, trotz der Freigabe ab 0 allerdings vielleicht eher für ein Ansehen mit den Eltern, die sich auf einige Fragen einstellen sollten.

*Wild Bunch wurde 2015 von Senator Entertainment aufgekauft, die ihren Namen in Wild Bunch änderten, heute ist es also ein deutscher Verleih

Streiflichter Nummer 4: Sammelsurium

Nachdem ich auf anderen Blogs immer mehr gelungene Kurzrezensionen gelesen habe, habe ich mich entschlossen meinen Streiflichtern noch eine Chance zu geben. Und im Gegensatz zum letzten Mal, wo es auf zwei quasi normal lange Rezensionen hinauslief, schaffe ich diesmal wirklich was weg. ‚Der Mönch‘, ‚Amy‘, ‚Nausicaä‘, ‚Les Misérables‘, ‚Robin und Marian‘, ‚The Void‘ und ‚Höhle der Vergessenen Träume‘. Das sind sieben Besprechungen zum Preis von keiner! Wenn das mal nicht mehr als nix ist. Legen wir los! Weiterlesen

Kurz und schmerzlos Folge 13: ‚Blade Runner 2049‘ – Kurzfilm Nr. 3 ‚Black Out 2022‘

Mit etwas Verspätung dann auch hier der dritte Prequel-Kurzfilm zu ‚Blade Runner 2049‘. Diesmal in Form eines Anime von ‚Cowboy Bebop‘ Macher Shinichiro Watanabe. Das scheint nur angemessen, wenn man bedenkt, wie sehr sich Blade Runner und japanische Animation gegenseitig beeinflusst haben.

Nur drei Jahre nach der Handlung des originalen ‚Blade Runner‘ angesiedelt gibt es hier einige Dinge für den fan wiederzerkennen. Und nicht zuletzt ein kurzes Wiedersehen mit Edward James Olmos‘ Gaff. Dieser Film fühlt sich, nicht nur aufgrund seiner Länge, kompletter, runder an als die bediden bisherigen. Der fließende Übergang zwischen verschiedenen Animationsstilen gefällt mir ebenfalls sehr gut.

Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass ein ‚Animatrix‘ Erlebnis ausbleibt und auch der Film zu den Kurzfilmen gut wird….

‚Perfect Blue‘ (1997)

Satoshi Kon war ein Ausnahmetalent. Sei es der markante, ausdrucksvolle Stil seiner Figuren, sein brillanter Umgang mit Farbe oder – vor allem – seine geschickte „Schnitttechnik“ (soweit man in der Animation davon sprechen kann), die dafür sorgen konnte, dass wir an Fiktion und Realität zweifeln, uns in der Zeit verloren fühlen, die uns im nächsten Moment aber punktgenaue Spannung erleben ließ. Kon was ein visueller Erzähler, wie es nicht allzu viele andere gibt und sein Tod 2010 mit nur 46 Jahren in jeder Hinsicht eine Tragödie. Doch will ich heute auf einen freudigeren Moment schauen, als er 1997 künstlerisch anscheinend vollständig ausgeformt seinen Regie-Einstand mit dem Psychothriller ‚Perfect Blue‘ gab.

Mima Kirigoe ist Sängerin in der japanischen Teengirl-Gruppe CHAM. Allerdings möchte sie überraschend aus der Gruppe aussteigen, um eine Karriere als Schauspielerin, zunächst in der Krimiserie „Double Bind“, zu verfolgen. Dies stößt bei Familie, Management und vor allem Fans nicht unbedingt auf Begeisterung. Im Internet taucht eine Seite auf, die angebliche Tagebucheinträge von Mima veröffentlicht. Zunächst findet Mima das unterhaltsam, als sie jedoch bemerkt, dass der Autor genauestens über ihre Vorlieben und ihren Tagesablauf Bescheid weiß ist sie beunruhigt. Dazu kommt noch, dass ein Stalker sich als äußerst gewaltbereit erweist, die Fernsehkarriere nicht wie erwartet läuft und mit einigen Erniedrigungen verbunden ist und CHAM, kaum dass Mima ausgestiegen ist, zu einem riesigen Erfolg wird. Sie stürzt in eine Persönlichkeitskrise und beginnt zu zweifeln, wer die „wirkliche“ Mima eigentlich ist. Dann beginnt eine Reihe brutaler Morde in ihrem Umfeld.

Identität, Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung sind die großen Themen des Films, die Kon bereits in den allerersten Minuten deutlich macht, wenn er einen perfekt durchgestylten Auftritt von CHAM gegen Mima beim alltäglichen Einkaufen im Supermarkt und Aufnahmen für ein Schauspiel-Demo-Band schneidet. Sofort werden wir mit drei völlig unterschiedlichen Aspekten derselben Person konfrontiert, von denen zunächst nur einer ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit prägt und eine andere die „echte“ ist oder scheint. Mimas Bühnenpräsenz wird, in der Öffentlichkeit im allgemeinen und durch den selbsternannten „Me-Maniac“ im besonderen, vollkommen idealisiert und von der eigentlichen Person gelöst, „Star“-sein bekommt ein zutiefst verstörendes Element. Der Konflikt zwischen diesen Aspekten, sowohl für außenstehende Beobachter, wie für Mima selbst werden zu zentralen Triebfeder des Films.

Und auch wir als Zuschauer können der Realität des Films keine Sekunde trauen. Jeder Schnitt kann uns durch die Zeit zu einer ganz anderen Szene transportieren, was wir aber aufgrund geschickter Verknüpfungen erst einige Sekunden später merken. Oder wir glauben in einer Szene ein Detail über Mima zu erfahren, nur um dann zu bemerken, dass es eigentlich ihren Charakter in der Serie – bezeichnenderweise auch ein Psychothriller – betrifft. Momente der wirklichen Welt des Films beginnen sich in der Serie widerzuspiegeln und umgekehrt. Die Verlorenheit und Verwirrung der Hauptfigur überträgt sich auf uns als Zuschauer. Ich werde mich hüten hier auch nur ein Wort zu viel über das Ende zu verlieren, doch sei verraten, dass es Kon gelingt in einer visuell beeindruckenden Szene seine Themen zu einem ebenso logischen wie atemberaubend spannenden Finale zu bringen.

Obwohl Kon immer ein großer Fan von Anime und Manga war sagte er selbst, dass er filmisch eher von westlichen Einflüssen geprägt war als japanischen. Der typische Vergleich für ‚Perfect Blue‘ ist der zu den Filmen von Hitchcock und sicherlich lassen sich thematische Parallelen gerade zu ‚Vertigo‘ nicht verleugnen. Die Morde, sowie eine Szene sexueller Gewalt gegen Mima, sind allerdings deutlich „dreckiger“ als alles was Hitchcock produziert hat und wecken eher Assoziationen zu den Filmen Abel Ferraras (es gibt sogar eine direkte Anspielung auf seinen ‚Driller Killer‘ und die Situation am Set der Serie erinnert gelegentlich an ‚Dangerous Game’/’Snake Eyes‘) oder italienischen „Giallo“-Produktionen. In seiner unkonventionellen Schnitttechnik, sowie seiner sehr visuellen Erzählweise wird allerdings Kons größtes von ihm erwähntes Vorbild deutlich: Terry Gilliam, insbesondere ‚Brazil‘ und ‚Die Abenteuer des Baron Münchhausen‘, wobei dieser Einfluss später in Filmen wie ‚Paprika‘ noch weit deutlicher wird.

Fast spannender als die die Quellen der Inspiration ist allerdings der Einfluss, den ‚Perfect Blue‘ insbesondere auf das amerikanische Kino hatte. Darren Aronofsky hat aus seiner Begeisterung für den Film nie einen Hehl gemacht und zitiert ihn visuell mehr oder weniger direkt (mit Kons Segen) in ‚Requiem for a Dream‘ und ‚Black Swan‘, wobei letzterer auch thematische Überschneidungen zu diesem Anime besitzt. Thematische Ähnlichkeit zeigt sich auch in David Lynchs ‚Mulholland Drive‘, der sich ebenso mit Aspekten von Traum und Wirklichkeit, Sein und Wahrnehmung auseinandersetzt. Alejandro González Iñárritus oscarprämierter Film ‚Birdman‘ nutzt gar ein zentrales, erzählerisches Element, das ein direktes Vorbild in Kons Film hat. All das sorgt dafür, dass sich ‚Perfect Blue‘ unglaublich modern anfühlt, von einer Szene mit sehr veralteter Computertechnik einmal abgesehen sind 20 Jahre an diesem Film fast spurlos vorrübergegangen.

Selbst wenn ihr mit Anime normalerweise nicht viel anfangen könnt möchte ich euch ‚Perfect Blue‘ unbedingt ans Herz legen. Ein hervorragender Psychothriller und eine Lehrstunde im visuellen Geschichtenerzählen in einem. Und wenn ihr dem Film auch nur das geringste abgewinnen könnt tut euch einen Gefallen und schaut alles andere, bei dem Kon Regie geführt hat, insbesondere ‚Paprika‘ und ‚Tokyo Godfathers‘. Und wer weiß, vielleicht wird eines Tages ja auch ‚Dreaming Machine‘, das Projekt an dem er bis zu seinem Tod arbeitete, fertiggestellt. Produzent Masao Maruyama sagte einmal es sei sehr schwer einen Regisseur zu finden, der Kon gleichkäme, um den Film zu beenden. Daran habe ich keinen Zweifel.

Lieber Schwein als Faschist: ‚Porco Rosso‘ (1992)

Hayao Miyazaki, begnadeter Anime-Regisseur und Mitbegründer des „Studio Ghibli“, ist ein strikter Gegner einfacher gut/böse Positionierungen in seinen Geschichten. Er weiß, dass seine Filme auch (oder vor allem) von Kindern gesehen werden und ist daher der Meinung, er dürfe in ihnen keine politische Meinungsmache betreiben. Das gelingt natürlich nur zum Teil. Wer einige Filme aus Miyazakis Werkstatt gesehen hat muss bemerken, dass Themen wie Umweltschutz, Feminismus, Pazifismus und soziale Gerechtigkeit eine große Rolle spielen. Diese Einstellungen sind allerdings verbunden mit einer großen Faszination für die Flugzeugtechnik der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts, die natürlich zu einem guten Teil als Werkzeug zum Massenmord eingesetzt wurde. In seinem (vermutlich) letzten Film ‚Wie der Wind sich hebt‘ ist Flugingenieur Jirō Horikoshi, der Entwickler der berüchtigten Zero-Kampfflieger des 2ten Weltkriegs, die Hauptfigur. Als sein Traummentor tritt Giovanni Battista Caproni auf. Der hat für die Italiener in beiden Weltkriegen Flugzeuge entworfen, darunter ein Transportflugzeug, dass einen Spitznamen, nach dem libyschen Begriff für den Sirocco bekam: Ghibli. Im Film ist Horikoshi traurig darüber, dass seine Maschinen als Waffen eingesetzt werden, doch tröstet ihn Caproni damit, dass sein Traum wunderbare Flugzeuge zu bauen in Erfüllung gegangen ist. Damit dürfte Miyazakis komplexe Einstellung zu dem Thema grob umrissen sein. Den 2ten Weltkrieg betrachtet er als „arrogante Idiotie“ des nationalistischen Japan, weigerte sich seinen Oscar für ‚ Chihiros Reise ins Zauberland‘ anzunehmen, während die USA in den Irak einmarschierten und sieht gleichzeitig die Zero als Ingenieursleistung, auf die man stolz sein kann und benennt seine Firma nach einem Kriegsflugzeug. Zahlreiche dieser Themen behandelt ebenfalls der als schwächerer Miyazaki-Film geltende ‚Porco Rosso‘. Weiterlesen