‚Der Rausch‘ (2020)

Dafür, dass Thomas Vinterbergs ‚Der Rausch‘ 2021 den Oscar als Bester Internationaler Film gewonnen hat, war sein Kinostart hier insgesamt ziemlich ruhig. Dabei fand ich die letzte Zusammenarbeit zwischen Vinterberg und Darsteller Mads Mikkelsen, ‚Die Jagd‘, schon extrem gelungen, der ein schwieriges Thema sowohl mit Vernunft als auch Fingerspitzengefühl behandelt hat. Das Thema von ‚Der Rausch‘ liest sich dagegen auf den ersten Blick als gefilmte Midlife Crisis. Ist es ein Stück weit auch. Der Film ist aber noch viel mehr und hat sich tatsächlich bei meinen 2021 gesehenen Filmen eine Spitzenposition erarbeitet. Schauen wir mal warum!

Geschichtslehrer Martin (Mikkelsen) hat schon vor langer Zeit jegliche Passion, die er einmal für seinen Job empfunden haben mag, verloren. Auch seine Ehe mit Anika (Maria Bonnevie) besteht eher aus Pflichtgefühl gegenüber den gemeinsamen Kindern als aus Gefühlen füreinander. Auf der Geburtstagsfeier von Kollege Nikolaj (Magnus Millang) erwähnt jemand die Theorie eines norwegischen Psychiaters, der Mensch sei mit einem 0,5 Promille zu geringem Alkoholblutspiegel geboren, um wirklich gut leben zu können. Martin, Nikolaj und die ähnlich frustrierten Lehrer Peter (Lars Ranthe) und Tommy (Thomas Bo Larsen) beschließen diese Theorie in einem Selbstversuch zu testen. Nachdem sich mit 0,5 Promille erste Erfolge in Berufs- und Privatleben einstellen, beginnen sie mit individualisierter Dosierung zu experimentieren, bevor das „Experiment“ in die, vielleicht unvermeidliche, Eskalation mündet.

Was mir von diesem Film wohl am meisten im Gedächtnis bleiben wird ist, wie brillant es Vinterberg gelingt Stimmungswechsel einzufangen. Berauschende Momente der Gelöstheit gehen jäh über in brutale Abstürze. Vinterberg ist dabei nicht daran interessiert zu (ver-)urteilen. Er zeigt, dass die Lockerheit eines leichten Schwips das Leben nicht nur leichter sondern auch noch interessanter machen kann. Aber eben auch, dass Alkohol eine perfide Droge ist, die aus sich selbst heraus nach immer mehr verlangt und am Ende oft genug verbrannte Erde übriglässt. Doch das sollen wir als Zuschauer selbst gemeinsam mit den Charakteren erfahren.

Charakteren übrigens, die uns trotz ihrer Fehler sehr schnell ans Herz wachsen. Insbesondere Sportlehrer Tommy läuft jeglichen, negativen Filmklischees dieses Berufstandes entgegen, mit seiner unterstützenden Zuneigung für Außenseiterschüler „Brille“. Martins anfängliche Erfolge, sein Wandel vom extrem trockenen, sogar abwesenden Lehrer zum engagierten Erzähler, der Geschichte lebendig machen möchte (häufig mit Anekdoten über Alkoholkonsum historischer Persönlichkeiten…) und den Respekt seiner Schüler zurückerlangt, aber auch endlich Zugang zu seinen Teenager-Söhnen findet und seiner Frau wieder näherkommt, ist wunderbar erzählt. Doch über all dem hängt das Damokles-Schwert des immer wieder eingeblendeten Promillewerts des Blutalkoholspiegels.

Der Film beobachtet dabei auch die mit Alkoholkonsum einhergehende Gruppenbildung sehr genau. Beim anfänglichen Geburtstag ist Martin der designierte, nüchterne Fahrer, wird aber von seinen trinkenden Kollegen sehr schnell zum Mitsaufen überredet. Als der direkte Weg nicht funktioniert, indem sein gar nicht mal so tolles Leben zum Gesprächsthema gemacht wird. Später, als er aus dem Experiment aussteigen möchte, ist schon gar keine Überredung mehr notwendig. Die Kamera blendet nur noch vom vollen Glas auf sein Gesicht und der mögliche Ausweg verschwindet. Vinterberg zeigt aber Kraft und Wirkung von Alkohol nicht nur anhand seiner zentralen Männergruppe. Die Ambition des Films geht darüber deutlich hinaus. Er zeigt welche kulturelle und gesellschaftliche Auswirkung Alkohol auf letztlich uns alle hat. Das zeigt sich in Gesprächen der zentralen Vier über verschiedene Künstler, die dem Alkohol nicht abgeneigt waren, Martins Geschichtsunterricht, der immer wieder zeigt, wie viele bedeutende historische Persönlichkeiten extreme Trinker waren. Der Film blendet aber auch ganz direkt Aufnahmen aktueller oder ehemaliger Politiker, entweder beim Trinken, oder bereits besoffen, ein. Die Schüler im Film werden für einen selbstorganisierten „Seelauf“, der Umrundung eines örtlichen Sees mit einhergehendem Besäufnis, verurteilt, doch ein ganz ähnliches Verhalten nach bestandenem Abitur ist von Tradition und Historie bestimmt und wird daher vom Lehrerkollegium wohlwollend aufgenommen. Alkohol ist eine seltsame Droge, mit unserer Gesellschaft so eng verbunden, dass totaler Verzicht mindestens Erstaunen hervorruft, doch ihr andererseits allzu sehr zu verfallen mit tiefer Verachtung gestraft wird. Dies arbeitet Vinterberg mit extremer Klarsichtigkeit und, Verzeihung, Nüchternheit, frei von jeglicher Polemik heraus. Dabei verzichtet er nicht auf anfangs noch recht stillen Humor, der im Verlaufe des Films auch durchaus Slapstickhafte Züge annimmt, ohne dabei vom Ernst des zentralen Themas abzulenken.

Unterstützt wird er dabei von einem brillanten Schauspiel-Ensemble. Mads Mikkelsen, zuletzt sicherlich nicht seinem Talent würdig von Hollywood bedient, ist hier klar der Star, doch fügt er sich zu jeder Zeit in die Gruppe ein. Alle Charaktere und damit jeder Darsteller, tatsächlich auch die, bei denen man gar nicht damit rechnen würde, bekommen ihren Moment um zu glänzen. Auch hier möchte ich noch einmal Tommy-Darsteller und Vinterberg-Stamm-Schauspieler Thomas Bo Larsen erwähnen, der mit einem Blick Geschichten erzählen kann. Doch alle vier Hauptdarsteller beherrschen auf absolut faszinierende Weise, was ich nur als „internen Zusammenbruch“ bezeichnen kann. Innerhalb einer langen Nahaufnahme ihres Gesichtes, ohne extreme Gefühlsregung, die Zerstörung ihres Charakters zu transportieren. Das ist nuanciertes Filmschauspiel in seiner höchsten Form. Jedenfalls für mich.

Es gäbe noch sehr viel mehr, worüber ich hier Schreiben könnte. Einschließlich eines Magenhiebs von einem Finale, dass in einem schlicht brillanten Freeze Frame endet. Aber damit würde ich mich allzu weit auf Spoiler-Territorium vorwagen und das hat der Film nun wahrlich nicht verdient. Und Ihr auch nicht, falls Ihr ihn noch nicht gesehen habt. Das ist allerdings ein Zustand, den Ihr unbedingt ändern solltet. Ich hoffe, ich konnte meine Begeisterung wenigstens ein Stück weit transportieren.