‚All Is Lost‘ (2014)

Robert Redford hat inzwischen schon mehrfach verkündet, dass sein letzter Film auch sein letzter Film wäre und er in den Ruhestand geht. Zuletzt sagte er das über ‚Ein Gauner & Gentleman‘, danach tauchte er allerdings bereits wieder in ‚Avengers: Endgame‘ auf. Zum ersten Mal ließ er einen möglichen Ruhestand bei ‚All Is Lost‘ vermuten. Das ist nicht ganz überraschend, erhält der Film doch durch seinen Aufbau eine sehr persönliche Note und einen würdigen Karriereabschluss hätte er ebenfalls bedeutet.

Die Geschichte ist schnell erzählt. Irgendwo auf dem Indischen Ozean wird ein älterer Mann (Redford) auf seiner Segelyacht jäh aus dem Schlaf gerissen, als Wasser in die Kabine strömt. Der Segler ist mit einem auf See treibenden Frachtcontainer havariert. In mühevoller Arbeit gelingt es dem Mann sein Schiff vom Container zu befreien und das Leck zu flicken. Allerdings sind Kommunikations- und Navigationsgerät durch das eingedrungene Salzwasser zerstört. Bald droht ein aufziehender Sturm Schiff und Segler den Rest zu geben.

In der heutigen Zeit der Origin-Stories, wo jeder Charakterzug begründet sein will, ist es beinahe schon außergewöhnlich, mit wie wenigen Strichen Autor/Regisseur J.C. Chandor hier seinen Hauptcharakter skizziert, der nicht einmal einen Namen bekommt. Den Großteil seines Textes absolviert der Charakter in den ersten Minuten in einem kurzen Monolog, vermutlich ein Ausschnitt aus einer Nachricht, die er später schreibt. Dort wird deutlich, dass er sich für etwas schuldig fühlt. Er trägt einen Ehering, ist aber allein auf dem Schiff. Überhaupt unternimmt er als Spätsiebziger hier eine Reise, die gefährlich genug scheint, dass alles was passiert nicht völlig überraschend kommen kann.

Das muss als Information ausreichen, denn der Rest des Films lässt kaum Platz für Charakterentwicklung. Es ist ein Ein-Mann-Katastrophenfilm, der fast völlig im Moment funktioniert. Es ist ein unaufhörlicher Kampf gegen die Elemente (okay, ein Element im Speziellen). Der Charakter löst ein tödliches Problem, nur um von einer gleichgültigen Welt mit drei neuen, noch schlimmeren konfrontiert zu werden. Es ist eine geriatrische Version von ‚Gravity‘, die auf dem Meer statt im Weltall spielt (und auf George Clooney als Mut zusprechendem Buzz Lightyear-Verschnitt verzichtet). Alles Mitgefühl, das wir für die Figur empfinden entspringt daher weniger dem weitgehend undefinierten Charakter selbst, sondern dem Spiel Redfords. Und das sorgt dafür, dass die Grenzen zwischen Schauspiel und Wirklichkeit ein wenig verschwimmen.

Wie viel ist noch Schauspiel, wenn Redford bis zu den Schultern im Wasser steht und vor Anstrengung stöhnend versucht zu retten, was aus dem Schiffsrumpf zu retten ist, während seine Finger blau vor Kälte werden? Hat sich der alte Mann vor der Kamera (der laut den Filmemachern mehr seiner Wasserstunts selbst gemacht hat als ihnen lieb war) ähnlich übernommen wie der auf dem Schiff? Wie kann das sein? Das ist doch Bob Woodward, dessen scharfe Feder Nixon stürzen ließ. Johnny Hooker, dem immer noch ein Betrug einfiel. Etwas Wasser kann doch Jeremiah Johnson nicht umbringen! Himmel, Sundance Kid, Du bist alt geworden! Und ich bin mir sicher, auf genau solche Assoziationen legt der Film es auch voll an.

Ich könnte jetzt Vergleiche ziehen, etwa zu dem anderen One Man Show Film ‚No Turning Back‘, zu dem thematisch ähnlichen ‚Life of Pi‘ oder dem oben erwähnten ‚Gravity‘. ‚All Is Lost‘ wirkt aber grundlegend anders als irgendeiner dieser Filme, was tatsächlich weniger an den Bildern als am Ton liegt. Es ist beinahe ein Stummfilm, so wenig gesprochener Text kommt darin vor. Es ist für die Hörgewohnheit heutiger Filme ein bewusst anderes Sounddesign. Der Anfang wird definiert vom Knirschen der geborstenen Bordwand an der Ecke des Containers. Die kurze Zeit, wenn der Trip wieder in eine gute Richtung zu laufen scheint vom Schlagen der Wellen an den Rumpf und sanften Windgeräuschen. Wenn dann aber der Sturm zu heulen beginnt, der Rumpf knirscht, das Segel schlägt, dann brauchen wir gar keinen Dialog um zu wissen was los ist. Und falls wir es doch nicht verstehen genügt ein Blick in Redfords Gesicht.

Dieses exakte Sounddesign wird durch den Soundtrack von Alex Ebert nur unterstützt. Weitgehend Ambient mit wenigen erkennbaren Melodien, lässt er stets dem Sound den Vortritt. Ich wage zu bezweifeln, ob er abseits des Films in irgendeiner Weise funktioniert, aber im Film erfüllt er voll seine Funktion.

‚All Is Lost‘ ist ein faszinierender, kleiner Film mit einem faszinierenden, großen Darsteller, der hoffentlich noch viele „letzte Filme“ drehen wird. Ich vermute, dass ‚All Is Lost‘ um so besser funktioniert, je mehr Redford „Vorbildung“ man mit hineinbringt. Das wirklich Überraschende ist, dass J.C. Chandor, nach diesem gelungenen Film, die hochkonzentrierte Langeweile geschaffen hat, als die ich ‚A Most Violent Year‘ erlebt habe…

 

PS: ich möchte kurz auf die extreme Zurückhaltung hinweisen, die es erforderte auf spaßige(?) Überschriften wie „Der alte Mann und das Meer“, oder „Schiffbruch mit Container“, oder „Gravity: jetzt auch unter Wasser“ zu verzichten. Doch ich bin mir sicher, damit im Sinner aller gehandelt zu haben. Danke.

Gestern (mal wieder) Gesehen: ‚Lake Mungo‘ (2008)

Ich beschreibe hier mal nicht, wie lange ich nach einem vernünftigen Trailer suchen musste, der nicht versucht diesen Film als MEGAHORRORSCHOCKER, SO GRUSELIG, OHHHH MEIN GOOOTTTT!!!! zu verkaufen und damit Enttäuschung garantiert…

‚Lake Mungo‘ ist ein Film, der es alles andere als einfach macht über ihn zu schreiben. Ich habe keine Ahnung wem dieser Film gefallen könnte und ich habe nicht die geringste Idee, wie ich ihn irgendjemandem schmackhaft machen könnte.  Ich liebe diesen Film, auch wenn es keiner ist, den ich häufig ansehen würde. Insofern kann ich nur bitten: vertraut mir!

Der Film ist eine Pseudodokumentation, die die fiktiven Erlebnisse der australischen Familie Palmer nachzeichnet. 2005 ertrank die 15jährige Alice Parker beim Baden in einem Stausee. Wenig später beginnen im Haus der Palmers seltsame Vorkommnisse und Alices Bruder Matthew zeichnet mit seiner Kamera eine schemenhafte Gestalt auf, die an Alice erinnert. Doch auch auf den Aufnahmen eines völlig unbeteiligten Touristenpärchens taucht im Hintergrund eine Gestalt auf, die Alice sein könnte. Ein gefundenes Fressen für die Presse und eine schwere Prüfung für Alices Eltern, die eine Exhumierung der Leiche in Auftrag geben. Doch es kommt alles ganz anders als man jetzt denkt. Seltsamer und letztlich schlimmer.

Ja, ich weiß die Inhaltsangabe könnte genauso auch aus einer dieser reißerischen „Geisterdokus“ stammen denen man zu später Stunde im Privatfernsehen gelegentlich begegnet. Und  als genau das geriert sich der Film, zumindest anfangs. Allerdings hat der Film bereits im ersten Drittel einen Twist, den diese Dokus niemals (freiwillig) machen würden. Und das ist nur der erste von mehreren. Eigentlich hat sich Regisseur Joel Anderson den Film ganz anders vorgestellt. Doch als er merkte, dass er für den Film, den er drehen wollte nicht das Budget zusammenbekommen würde änderte er das Drehbuch grundlegend bis das herauskam, was jetzt vorliegt. Ohne das originale Buch zu kennen, kann ich nur sagen: manchmal bringt eine äußere Einschränkung die größte Kreativität zum Vorschein. und genau das scheint hier geschehen zu sein. In verschiedenen Videoformaten gedreht, besitzt der Film eine typische Fernsehoptik, die er jedoch perfekt für sich zu nutzen weiß. Selbst die weitgehend unbekannten Darsteller, die nur einen groben Umriss der Handlung hatten und alle Dialoge (oder, in den meisten Fällen, Monologe zur Kamera) improvisierten,  wirken für die Illusion nur förderlich. Und gelegentlich rutscht ihm sogar eine höchst gelungene Landschaftsaufnahme in die nur scheinbar rein zweckmäßigen Szenen. ‚Lake Mungo‘ ist ein Musterbeispiel für den Umgang mit minimalem Budget (unter 30.000 australische Dollar).  Nicht zuletzt deshalb findet sich auf der Hülle der DVD ein Hinweis auf ‚Paranormal Activity‘, den megaerfolgreichen Low-Budget-Horror aus den USA, den ich persönlich unerträglich langweilig fand. Wem es da so geht wie mir sollte sich von dem Hinweis also bitte nicht abschrecken lassen.

‚Lake Mungo‘ ist genau genommen über weite Strecken gar kein Horrorfilm, obwohl er über seine gesamte Spieldauer mit unheimlichen Bildern arbeitet. Er enthält nur einen einzigen – allerdings perfekt platzierten – „Jumpscare“. Es ist ein Familiendrama, dass sich über die Abwesenheit des zentralen Charakters, eben Alice, definiert. Der Name der Familie, Palmer, ist sicherlich keinesfalls zufällig gewählt und weckt sofort Assoziationen zur Familie Palmer aus ‚Twin Peaks‘, die ein ähnliches Schicksal erlitt wie ihre australischen Namensvettern. Und ähnlich, wie Laura stellt sich Alice nach ihrem Tod als eine ganz andere Person heraus, als alle die sie kannten je vermutet hätten. Vielleicht ist ‚Lake Mungo‘ als „Variation auf die Themen von ‚Fire Walk With Me‘ aber letztlich ganz anders“ genauso treffend, wie wenig hilfreich umschrieben. Doch genau, wie in dem Film überwiegt ein Gefühl von Traurigkeit jedes Gefühl von Horror. Und eben das sorgt dafür, dass ich den Film nicht unbedingt oft sehen möchte und kann. Ein weiterer Vergleich der gezogen werden muss, nicht nur aufgrund der australischen Herkunft, ist meiner Meinung nach ‚Picknick am Valentinstag‘. Ähnlich wie in Peter Weirs Film, über das Verschwinden einiger Schülerinnen, vermischt sich hier Profanes mit Mystischem, etwas, dass in der ebenso schönen, wie lebensfeindlichen Natur Australiens nur allzu leicht zu geschehen scheint.

Eine Meditation auf die Tatsache, dass sich Teenager oft genug nicht nur selbst nicht kennen, sondern auch Eltern und Verwandte große Schwierigkeiten haben sich wirklich in sie einzufühlen und ihre Bedürfnisse und Wünsche nachzuvollziehen. Aber auch über die oftmals ebenso schwierige, wie merkwürdige Bewältigung von Trauer. Allerdings eingebettet in einen großartig gelungenen Film, der ein weitaus größeres Publikum verdienen würde, als die Plattheit eines ‚Paranormal Activity‘. Auch wenn er vermutlich einen guten Teil dieses putativen Publikums enttäuscht zutiefst zurücklassen würde.

See me. See me. See me… ‚May‘ (2002)

‚May‘ ist ein Film, bei dem ich thesenmäßig mit Martin Luther gleichziehen könnte. Doch keine Sorge, es ist ja noch nicht Luther-Jahr und so habe ich nicht vor euch an allen 95 teilhaben zu lassen. Hier sind aber die wichtigsten drei:

  1. ‚May‘ ist einer der besten Horrorfilme (wenn ich der Beste) der 2000er Jahre!
  2. ‚May‘ ist eigentlich gar kein Horrorfilm!
  3. Hätte Angela Bettis ihre schauspielerische Leistung in einem „respektablen Genre“ erbracht, wäre sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden!

Das Problem von ‚May‘ macht die DVD Verpackung wunderbar deutlich: „Zieht euch warm an, Freddy, Chucky und ihr anderen – hier kommt May!“, ruft der Klappentext potentiellen Käufern freudig entgegen. Wer den Film mit dieser Erwartungshaltung schaut muss zwangsläufig enttäuscht werden (oder spult vor zum „guten Teil“), denn von seinen 90 Minuten Laufzeit sind etwa 70 eher dem Genre des Drama als das Horrors zuzuordnen. Wer einen Slasher sehen möchte ist andernorts sicher besser aufgehoben. Aber kommen wir zunächst einmal zum wichtigsten, der Handlung.

May Canady war ein sehr schüchternes junges Mädchen. Als sie aufgrund ihres Schielens eine Augenklappe tragen muss und von den anderen Kindern ausgegrenzt wird, steigert sich diese Schüchternheit zu beinahe schmerzhafter Introversion. Ihre Mutter schenkt dem Mädchen eine Puppe, Suzie, mit dem Hinweis „wenn du keinen Freund findest, mach dir einen“. Suzie sitzt in einem Glaskasten, ewig unerreichbar für May.

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Meetcute mit 2 Metern dazwischen

Jahre später, als junge Frau, kann May (Angela Bettis) ihr Leben in einem Satz zusammenfassen: „ich arbeite in der Tierklinik und ich nähe“. Sie wünscht sich eine bedeutsame Beziehung, irgendeine Beziehung, zu irgendjemanden. Ihr Augenmerk fällt dabei auf den Automechaniker Adam (Jeremy Sisto). Der erweist sich, trotz mehrerer eher schrulliger Annäherungsversuche Mays, als sehr freundlich und die beiden gehen miteinander aus. Eines Abends lädt er sie zu sich ein und zeigt ihr einen Film, den er für sein Studium gedreht hat. Dieser zeigt ein Paar, dass sich bei einem Picknick gegenseitig aufisst. May ist begeistert und als sie sich später küssen, beißt sie Adam derart heftig in die Unterlippe, dass das Blut spritzt. Adam will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Und so enden alle ihre Beziehungen jeglicher Art, sei es zu Arbeitskollegin Polly (Anna Faris), einer Gruppe blinder Kinder, die sie ehrenamtlich betreut oder auch Katze Lupe. Immer steht ihre eigene Seltsamkeit oder die Oberflächlichkeit der anderen in Weg. Jeder Mensch gefällt ihr immer nur zum Teil, nicht nur von der Persönlichkeit sondern auch körperlich, seien es Adams Hände oder Pollys Hals, doch der ganze Mensch erweist sich für May immer als problematisch. Bis Suzies Glaskasten bricht, May sich an den Tipp ihrer Mutter erinnert und an Halloween, aufgemacht wie ihre Puppe mit einer Kühltruhe im Schlepptau und Skalpellen in der Tasche aufbricht, um die guten Teile gescheiterter Beziehungen zu sammeln und in Richtung eines frankensteinschen Finales zu steuern.

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Anna Faris scheint im falschen Film

Angela Bettis große Leistung ist, wie menschlich sie den Charakter der May macht. Ihr Wunsch nach einer Beziehung, ihre Sehnsucht nach Intimität, das sind Dinge mit denen jeder Zuschauer sich identifizieren kann. So beginnt der Film dann auch, wie eine typische romantische Komödie. Mays unsichere Annäherungsversuche zu Adam muten komisch an nehmen aber bald eine Wendung zum Seltsamen. Wenn sie ihren Kopf in die Hand des schlafenden Adam legt, bevor sie jemals mit ihm gesprochen hat, dann ahnen wir als Zuschauer bereits, dass das nicht gut enden kann. Adam, der nach eigener Aussage Seltsamkeit mag, bekommt einen ersten Hinweis darauf, dass May ihm zu seltsam sein könnte, als ihre einzige Reaktion auf seinen kannibalistischen Studentenfilm (neben erkennbarer Begeisterung) die Bemerkung ist: „Ich glaube nicht dass sie seinen Finger mit einem Biss abbekommen hätte. Das erscheint mir unrealistisch.“

Bettis bringt die stille Besessenheit ihrer Figur mit Bravour in den Film. Das Konfliktpotenzial ist schnell deutlich: wo Adam und Polly Mays Seltsamkeit unterhaltsam finden und May für sie eine Zufallsbekanntschaft darstellt, sind diese Beziehungen für May von absolut fundamentaler Bedeutsamkeit. Die Artefakte dieser Beziehung, eine Packung Zigaretten von Adam, Pollys Katze Lupe oder einen Aschenbecher, den ein blindes Mädchen für sie gemacht hat bewahrt sie mit ähnlicher Sorgfalt auf, wie ihre einzige Bezugs“Person“, Puppe Suzie. Das alles kann kein gutes Ende nehmen und tut es auch nicht. Doch wenn May zu ihrer mörderischen Nacht aufbricht, dann wünschen wir uns als Zuschauer es würde eine andere, bessere Lösung für sie geben. Das ist weit mehr als Freddy Krüger oder Jason Vorhees jemals von sich behaupten konnten und macht das Ende nur umso schrecklicher. Ist überhaupt schwer im Bereich des Horrorfilms einen angemessenen Vergleich für May zu finden. Dass das „Monster“ eine vollständige, runde Person ist, ebenso leidensfähig wie seine Opfer, das gibt es selten genug. Mögliche Vergleiche wären ‚Carrie‘ oder vielleicht tatsächlich ‚Frankenstein‘.

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Wenn ihr einen Film mit kannibalistischem Inhalt schaut und Eure Sitznachbarin hat diesen Gesichtsausdruck, untersucht den Raum nach nahegelegenen Ausgängen!

Regisseur Lucky McKee kleidet seine Handlung in elegante Bilder, die ihr Vorbild, zumindest in Sachen intensiver Farbgebung, beim italienischen Altmeister Dario Argento haben. Er weiß allerdings, dass sie die Schauspieler, allen voran Angela Bettis die erste Geige spielen müssen. Die gewalttätigen Handlungen der späteren Szenen sind gut inszeniert und wirken überzeugend. Der einzige Fehltritt hier, ist eine Szene mit dem splitternden Glaskasten der Puppe und der Gruppe blinder Kinder, in einer Szene, die aufgesetzt und etwas exploitativ wirkt. Der Soundtrack von Jammes Luckett, irgendwo zwischen Electro und Rock, passt sich hervorragend und ebenso unauffällig in das Gesamtbild ein.

Ich möchte natürlich nicht den Eindruck erwecken der Film wäre perfekt, das ist der keineswegs. Die meisten Nebendarsteller machen ihre Sache sehr gut, allerdings scheint Anna Faris direkt vom Set der ‚Scary Movie‘-Reihe gekommen zu sein und spielt ihre Rolle als wäre sie in einem anderen, deutlich komischeren Film. Ähnliches gilt für andere, kleinere Rollen, wie Mays Chef in der Tierklinik oder einen Punk. Ich bin allerdings der Meinung das dieser Erstlingsfilm der beste Film ist den Lucky McKee gemacht hat. Und auch für Bettis ist dies mit Abstand die beste Leistung die sie je in einem Film gezeigt hat. Gerade in späteren Zusammenarbeiten der beiden spielt sie häufig übermäßig affektiert und ihre Charaktere wirken fast wie Karikaturen, etwas das man bei May befürchten könnte, das aber zum Glück nicht eintritt. Möglicherweise war dies der eine fast perfekte Film, den die beiden in sich hatten. McKees zweitbester Film, der feministische geprägte Vertreter der so unsympathischen Folterfilm-Welle der späten 2000er, ‚The Woman‘ hat zudem den kleinen Nachteil für mich fast unansehbar zu sein. Angela Bettis ist allerdings auch in dem Film sehr gut.

Wem würde ich May also empfehlen? Jedem, bei dem der obige Text zumindest leichtes Interesse geweckt hat, ganz unabhängig davon, ob man normalerweise Horrorfilme mag oder nicht. Denn wenn man sie nicht mag, greift natürlich die obige These 2. Das funktioniert für ‚Das Schweigen der Lämmer‘ ja immerhin auch ganz wunderbar.

PS.: Den deutschen Untertitel des Films „die Schneiderin des Todes“ habe ich hier bewusst ignoriert. Das klingt mir dann doch etwas zu sehr nach „John Sinclair“.

Gestern Gesehen: Mr. Holmes (2015)

Die letzten Jahre haben uns eine ganze Reihe neuer filmischer Interpretationen von Arthur Conan Doyles berühmter Detektivfigur Sherlock Holmes gebracht. In der Fernsehserie ‚Sherlock‘ gibt Benedict Cumberbatch den Holmes als hochfunktionalen Autisten in der Neuzeit, während im Kino Robert Downey Jr. ihn als eine Art zerebralen, viktorianischen Actionhelden präsentiert. ‚Mr. Holmes‘ greift eher auf den klassischen Holmes zurück (wie ihn für mich stets Jeremy Brett repräsentieren wird), setzt diesen allerdings in eine völlig neue Situation. Mit ‚Mr. Holmes‘ darf sich Gandalf und Magneto Darsteller Ian McKellen an einer weiteren Popkultur-Ikone ausprobieren und erweist sich als absoluter Glücksgriff.

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„The game is afoot“

In ‚Mr. Holmes‘ treffen wir den Meisterdetektiv 1947 mit 93 Jahren auf seiner Farm in Sussex, wo er Bienen züchtet. Er lebt hier völlig zurückgezogen mit seiner Haushälterin Mrs. Munro (Laura Linney) und deren Sohn Roger (Milo Parker). Sein größtes Problem aber ist, dass seine Erinnerung verblasst. So stellt er eines Tages fest, dass er sich nicht mehr erinnern kann warum sein letzter Fall ihn dazu gebracht hat sich aus der Welt zurückzuziehen. Er ist überzeugt es muss etwas Furchtbares gewesen sein. Die Fiktion des verstorbenen Dr. Watson kann jedenfalls nicht stimmen, stellt sie doch nur einen üblichen Triumph des Logikers dar. Holmes beschließt die wahre Geschichte vor seinem Tod zu rekonstruieren und selbst zu Papier zu bringen. Neben dieser Handlungsebene gibt es noch zwei Rückblenden, einmal zu eben jenem letzten Fall, den Holmes aufschreibt und zum anderen, zu einer Reise nach Japan, wo Holmes hofft eine Pflanze zu finden, die seine Demenz aufhalten oder umkehren kann.

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Man kann seinen Ruhestand vermutlich schlechter verbringen

Das Thema des Films ist der Widerstreit zwischen Fakt und Fiktion. Der Holmes des Films hat niemals eine Deerstalker Kappe getragen und mag keine Pfeifen. Die Geschichten und Filme über ihn findet er lächerlich. Er ist der perfekte Logiker, der keine Geduld mit Fantasie oder überbordender Emotion hat. Er leidet zutiefst daran, dass sein schärfstes Werkzeug, sein Verstand, weniger und weniger nützlich ist, ist aber auf der anderen Seite unwillig sich den Fiktionen seines besten Freundes zu unterwerfen. Man kann sagen der Film behandelt die Menschwerdung des Sherlock Holmes, wenn er erkennen muss, dass in manchen Situationen eine liebevolle Fiktion wertvoller sein kann als harte Fakten.

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Ein Wendepunkt für Sherlock Holmes

Ian McKellen ist großartig in quasi einer Doppelrolle. Einerseits der Mann in den 90ern, der wie aus der Zeit gefallen wirkt sobald er seine Farm verlässt, der mit seinem Verstand ringt und versucht neben seinen Bienen einen emotionalen Kontakt mit Menschen – insbesondere eine großväterliche Freundschaft zu Roger – aufzubauen. Andererseits als 30 Jahre jüngerer Mann, der typische Holmes, dessen messerscharfer Verstand alle Fakten aufdecken kann, ohne die Konsequenzen für die Menschen hinter den Problemen zu beachten (oder vielleicht auch nur zu verstehen).

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Der Verfall macht auch vor dem größten Geist nicht Halt

Wer auf der Suche nach einem klassischen Holmes Fall ist, den wird der Film nicht unbedingt befriedigen. Ein Fall ist zwar da, doch tritt er in der Bedeutung weit hinter das zwischenmenschliche Drama zurück und wird in der stückhaften Erzählweise einer versuchten Erinnerung präsentiert . Auch ist der Film in manchen Passagen etwas langsam und ich kann nicht vorhersagen wie gut er für Leute funktioniert, die keinerlei vorherige Bindung an den Charakter des Sherlock Holmes haben.

FAZIT: stilles, elegantes Altersadrama um den größten Detektiv der Welt, das scheinbar mühelos von einem großartigen Ian Mckellen getragen wird

7/10