‚Aus dem Nichts‘ (2017)

‚Aus dem Nichts‘ ist schon ein wenig ein Paradoxon bevor man ihn gesehen hat. Einerseits ist es der erste Film von Fatih Akin, der auch international auf großes Interesse gestoßen ist. Auf weit mehr, möchte man meinen, als sein eigentlich international gemeinter ‚The Cut‘, um den Völkermord an den Armeniern. In Deutschland hingegen wurde dem Film von der Kritik eine ungewöhnlich kalte Schulter gezeigt. Aus seinem Film, der vor Eindrücken aus der NSU Mordserie entstanden ist, habe Akin wenig mehr als einen Krimi auf TV Niveau gemacht, so liest man nicht selten. Doch woher dann das internationale Interesse? Liegt es an der Thematik? Nazi-Anschläge in Deutschland? Liegt es an der international bekannten Hauptdarstellerin Diane Kruger in ihrem ersten (größtenteils) deutschsprachigen Film? Es gibt natürlich einen recht einfachen Weg das herauszufinden, nämlich den Film zu schauen. Das habe ich jetzt, nur drei Jahre verspätet, auch gemacht.

Normalerweise würde hier jetzt ein kurzer Anriss der Handlung stehen. Doch Akin teilt seinen Film in drei Kapitel ein. Drei Kapitel sowohl in Personal als auch in Ästhetik distinkt genug, dass sie beinahe eigene Filme sein könnten. Ich will sie nicht gänzlich für sich besprechen, das würde dem Ganzen nicht gerecht, dennoch lohnt es sich zumindest einen Blick auf die einzelnen Teile zu werfen.

Das erste Kapitel, Familie genannt, beginnt mit einer Rückblende. Die hamburger Kunststudentin Katja (Kruger), heiratet im Gefängnis ihren Haschisch-Dealer, den Deutschkurden Nuri Sekerci (Numan Acar). Als wir sie einige Jahre später wiedertreffen ist Nuri, der im Gefängnis BWL studierte, lange entlassen, dealt nicht mehr und betreibt ein Übersetzungs-, Steuerhilfe- und Reisebüro speziell für türkischsprachige Kunden. Als Katja den gemeinsamen 5jährigen Sohn Rocco für den Nachmittag bei ihrem Mann abliefert, findet sie abends die Straße abgesperrt. Vor dem Büro ist eine Nagelbombe explodiert, ihr Mann und Sohn sind tot. Die kommende Zeit wird für Katja annähernd unerträglich. Die Polizei scheint mehr daran interessiert gegen Nuri zu ermitteln, eine Frau, die Katja dabei gesehen hat wie sie ihr Fahrrad vor der Tür des Büros abgestellt hat wird von der Presse grundlos zur „Osteuropäerin“ erklärt, selbst ihre Mutter kann sich rassistische Bemerkungen nicht verkneifen und Nuris Eltern wollen die Leichen ihres Sohnes und Enkels mit in die Türkei nehmen, wohin sie zurückkehren. Selbst das Mutterglück ihrer besten Freundin Birgit wird ihr unerträglich. Gerade noch rechtzeitig für sie nimmt die Polizei ein junges Nazi-Pärchen fest.

Der Beginn des Films ist unheimlich stark und führt für sich allein schon ‚Tatort‘-Vergleiche ad absurdum. Kruger liefert eine absolute Tour de Force ab. Kaum eine Einstellung gibt es, in der sie nicht zu sehen wäre, zahllose Nahaufnahmen, die ungeschönt die Verwüstung der Tat auf ihrem Gesicht zeigen. Das verstärkt Akin gekonnt mit dem Rest seines cinematischen Ausdrucks. Ihre anfängliche Wut wandelt sich immer mehr zu Verzweiflung. Der schöne Vorstadtbungalow der Sekercis wird dabei zum gläsernen Sarg, der seine unerträgliche Leere geradezu herausschreit. Polizei und Presse begegnen der Untat mit der (mehr oder weniger) unausgesprochenen Idee, dass Nuri die Tat doch irgendwie „verdient“ haben müsse. Akin verzichtet auf jegliche Darstellung der Gewalt, was eine filmische Metapher, die das emotionale Blutbad, das die Tat bei Katja angerichtet hat nur umso stärker wirken lässt.

Dann folgt das zweite Kapitel, Gerechtigkeit. Quasi ein Gerichtsfilm. Hierbei muss gesagt werden, dass Akin an seinen Tätern und ihrer Motivation keinerlei Interesse zeigt. Ihre Schuld zweifelt der Film zu keiner Zeit an. Das ist an und für sich auch ein durchaus verständlicher Ansatz, allerdings ist das schwierig für einen Gerichtsfilm. Der besteht ja grundsätzlich aus einem rhetorischen Ballwechsel beider Seiten. Doch was tun, wenn die eine Seite gar keinen Ball hat? Die Antwort ist, wie so oft in Gerichtsdramen, die Karikatur eines Verteidigers. Anwalt Haberbeck (Johannes Krisch) scheint die Boshaftigkeit schon ins Gesicht geschrieben und jeden Zweifel räumt er aus, wenn er mit einer direkten Attacke auf Katja startet. Ich mag Gerichtsfilme grundsätzlich nicht gerne. Sie sind selten cinematisch. Akin gibt sich hier alle Mühe mit Overhead-Shots und Hitchcock-Zooms einen Film daraus zu machen, ganz gelingen will es ihm nicht. Das soll nicht heißen, dass es in diesem Teil keine funktionierenden Szenen gibt. Hier findet sich sogar eine stärksten, wenn eine medizinische Sachverständige emotionslos die Verletzungen von Rocco herunterliest und dabei viel zu häufig Phrasen wie „vollständige Ablösung“ verwendet und die Platzierung von Zimmermannsnägeln im Torso beschreibt. Akin hält die Kamera dabei die ganze Zeit auf Katja, bis es fast unerträglich zu werden droht. Einen starken Moment hat auch Ulrich Tukur als Vater eines der Täter, der sie bei der Polizei gemeldet hat. Er scheint vor den Kopf gestoßen und überfordert, dabei durchaus sympathisch. Allerdings fällt es uns als Zuschauer schon beinahe so schwer wie Katja seine plumpe Idee der Versöhnung, er lädt sie zu Kaffee und Kuchen, nicht mit einem gewissen Misstrauen zu begegnen.

Dieses Kapitel ist ein wenig plump und hat halt, zumindest für mich, das Problem, dass es ein Gerichtsfilm ist, die einfach selten funktionieren. Krugers Darstellung bleibt der starke Leitfaden auch in diesem Kapitel.

Das dritte Kapitel trägt den Titel Das Meer. Über dieses kann ich aus Spoilergründen nicht viel sagen. Das ist aber auch in Ordnung, ich hätte eh nicht allzu viel anzubringen. Akin will hier den Michael Kohlhaasschen Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit aufzeigen (womit ich, zugegeben, wohl auch den Ausgang des zweiten Kapitels indirekt gespoilert habe) und welch fatale Folgen dieser haben kann, landet letztlich aber in den sattsam bekannten Genregrenzen des Rachefilms. Krugers Spiel bleibt auch weiterhin die größte Stärke des Films, doch fand ich hier erstmals das Handeln der Figur weniger nachvollziehbar, was nicht an ihr, sondern eher am Buch lag. Dessen Antwort scheint in letzter Konsequenz ein verzweifeltes Schulterzucken zu bleiben.

Letztlich bleibt ‚Aus dem Nichts‘ für mich ein unebener Film. Ich denke den NSU Terror als reinen Hintergrund zu nehmen und in ein rein fiktives Szenario (wenn auch mit direkten Bezügen auf reales Geschehen) umzubauen war eine gute Idee. Dem Ganzen könnte ein einziger Film nie gerecht werden und eine Konzentration auf einzelne Geschehnisse wäre ebenfalls schwierig. Ein wenig fehlt mir vielleicht der gerechtfertigte Zorn im Film. Zorn nicht einmal so sehr über die Tatsache, dass Nazis über Jahre Morde begehen konnten, sondern über das Totalversagen der Ermittlungsbehörden und ihr selbstgerecht-feixender („Dönermorde“) Umgang damit. Henning Pekers Ermittler im Film verläuft sich in die falsche Richtung, scheint dabei aber fast überlegter und engagierter als ein Großteil des realen Personals. Dass der Film am Ende nicht wirklich Antworten hat, das kann und will ich ihm kaum vorwerfen. Antworten zu finden ist sicher nicht die Aufgabe von Fatih Akin. Dass wir jedoch Antworten brauchen, die über das bedauernde Kopfschütteln, dann aber auch weiter wie vorher von Ulrich Tukurs Charakter hinausgehen, das lässt sich, auch in der Post NSU Zeit, nicht wirklich abstreiten.

Ein echtes Fazit zum Film fällt mir schwer. Ich fand ihn keinesfalls schlecht, aber zu meinem Lieblings-Akin wird er es auch kaum bringen. Getragen wird er, das lohnt es zu wiederholen, von der rohen, ungeschönten Darstellung durch Diane Kruger, die hier möglicherweise ihre beste Arbeit abliefert und zum absoluten Herzstück des Films wird. Das allein, lässt mich ob des allgemeinen Tonfalls des deutschen Feuilletons von wegen „TV Krimi“ die Stirn runzeln. Da macht mich die Tatsache, dass Akins Neuester, ‚Der Goldene Handschuh‘, die Kritik geradezu in zorniges Brüllen versetzt hat ja schon fast wieder neugierig…

‚Tschick‘ (2016) – „Ich fahr doch jetzt nicht zurück!“

‚Tschick‘ von Regisseur Fatih Akin ist eine Literaturverfilmung des gleichnamigen Romans von Wolfgang Herrndorf. Ich kenne den zu Grunde liegenden Roman nicht. Ich kann den Film daher nur als Film beurteilen. Ich habe das Gefühl, ich muss das gleich am Anfang einführen. Denn ich habe mir nach dem Film noch den Audiokommentar zu einigen Szenen angesehen und aus diesem wurde sehr deutlich, dass es Akin und Kollegen sehr wichtig war, dem beliebten Roman gerecht zu werden. Man wollte nicht nur Herrndorfs Inhalt wiedergeben, man war offenkundig bemüht seine Prosa selbst in entsprechende Bilder zu fassen. Ich werde den Roman sicherlich demnächst nachholen (womit ich vermutlich schon meine Bewertung des Films vorweg genommen habe), doch im Moment beurteile ich ihn eben „nur“ als Film.

Der 14-jährige Maik (Tristan Göbel) stammt aus scheinbar gut situiertem Elternhaus. Hinter dieser Fassade bröckelt es aber gewaltig. Seine Mutter (Anja Schneider) ist alkoholkrank und sucht jeden Sommer eine Entzugsklinik auf. Maiks Vater (Uwe Bohm), vorgeblich erfolgreicher Immobilienmakler, hat die Grenze zur Insolvenz in Wahrheit längst überquert und verbringt den Sommer auf „Geschäftsreise“ mit seiner jungen Assistentin. Zur Schule geht Maik in Berlin Marzahn, wo er aufgrund seiner in sich gekehrten Art als „Psycho“ gilt. Dann kommt  der Russlanddeutsche Andrej „Tschick“ Tschichatschow (Anand Batbileg) in Maiks Klasse. Aus offenbar verwahrlosten Verhältnissen gilt der Junge mit den geklebten Schuhen und der Wodkaflasche in der Tasche sofort als „Assi“. Allerdings scheint mehr in ihm zu stecken. So schreibt er die einzige 1 der Klasse in einer Mathearbeit und bringt einen Schulhof-Bully durch einen geflüsterten Satz zum Schweigen. Die Sommerferien beginnen und zu seinem Entsetzen hat Maiks große Flamme ihn nicht zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen. Dabei hat er nächtelang an einem Portrait von ihr gearbeitet. Plötzlich steht Tschick mit einem „geliehenen“ Lada vor der Tür und schlägt dem verdutzten Maik vor einfach auf die Party zu gehen, schon damit Maik sein Geschenk übergeben kann. Gesagt, getan. Danach stellt sich die Frage: warum nach Hause fahren, wo auf beide nichts wartet? Warum nicht in die Walachei? Tschick hat da einen Großvater. Und er weiß (so in etwa) wie man fahren muss.

Der Film beginnt dramatisch. Auf einer nächtlichen Landstraße mit umgestürztem Tiertransporter, einem brennenden Autowrack, koordiniert agierenden Feuerwehrleuten, unkoordiniert herumirrenden Schweinen und einem blutüberströmten Jungen, der nach „Tschick!“ ruft. So schafft Akin eine finstere Grundlage, bevor er uns in einen weit freundlicheren Film entlässt. Sattes grün, gelb und blau lässt an Sommerferien denken. Zwei Außenseiter begeben sich in ein Abenteuer, das ist die Grundlage nicht weniger Jugendbücher. Und es gibt viele Szenen, die genau damit spielen. Die Jungen spekulieren unter dem weiten Sternenhimmel, ob gerade auf einem fernen Planeten zwei Alien-Jungen dasselbe erleben wie sie. Haben Tiefkühlpizzen und Konservendosen (aber keinen Öffner) als Proviant mitgenommen. Fliehen vor wütenden Bauern und Dorf-Sheriffs. Haben bizarre Begegnungen mit „Adel auf dem Radel“ oder einer Familie, in der man sich den Nachtisch mit Antworten auf Fragen des Allgemeinwissens verdienen muss. Doch sind Traurigkeit und Finsternis nie ganz weit weg. Und sie scheinen immer dann schlagartig näher zu kommen, wenn die Jungs sich zu weit in die unverständliche Welt der Erwachsenen wagen. Wenn etwa Tschick in einer Nebelbank den Lada versehentlich auf die Autobahn lenkt, inszeniert Akin das wie einen Horrorfilm.

Wie in jedem guten Road Movie begegnen die Protagonisten einer ganzen Reihe von interessanten Charakteren. Die wichtigste darunter ist sicherlich die obdachlose Jugendliche Isa (Mercedes Müller), die, anders als die beiden Jungen, mit Prag ein sehr präzises Ziel hat. Anfangs wirft man sich Beleidigungen an den Kopf (die Jungs seien Idioten und Isa stinkt), doch ist sie nicht nur insofern hilfreich, als dass sie weiß, wie man Benzin aus dem Tank stiehlt. Sie wird zu einer mysteriösen Begleiterin, visuell repräsentiert durch eine Holzbox, die sie nie öffnet. Bald ist sie aus dem Film auch wieder verschwunden, ohne viele Fragen zu beantworten. Und doch ist danach wenig so wie vorher, was man womöglich auch über die Reise in die Walachei im Allgemeinen sagen kann. Im Zentrum des Films steht allerdings die Beziehung zwischen Maik und Tschick, die diese in beinahe jeder Szene neu evaluieren und neu justieren. Und genau hier liegt, meiner Meinung nach, Fatih Akins größte Stärke.

Seien es Sibel und Cahit aus ‚Gegen die Wand‘ oder Zinos und Illias aus ‚Soul Kitchen‘. Wenn Akin komplexe Beziehungen zweier Menschen beleuchtet, dann schafft er herausragendes Kino. Und in diese Reihe seiner besten Filme reihen sich auch Maik und Tschick problemlos ein.

Unterlegt wird das einerseits mit mehr oder weniger leiernden Richard-Claydermann-Kassetten, die die Jungen im Lada finden und vor allem vom Soundtrack des Briten Vince Pope. Dem gelingt es ähnlich wie Akin, in seinen oft leicht nach Italo-Western klingenden Melodien fröhliche Leichtigkeit mit einer immer vorhandenen Traurigkeit zu verbinden.

‚Tschick‘ scheint ein Film der glücklichen Fügungen zu sein. Akin hat sich bereits vor Jahren, noch zu Lebzeiten des 2013 durch Selbsttötung verstorbenen Herrndorf, um die Filmrechte bemüht, sie aber nicht bekommen. Der geplante Regisseur sprang aber 7 Wochen vor Drehbeginn ab, woraufhin Akin einen Anruf erhielt und begeistert annahm. Die Suche nach dem Darsteller des Tschick gestaltete sich als so schwierig, dass man unter anderem die mongolische Botschaft um Hilfe bat. Dort arbeitete Anands Vater, der seinem Sohn den ausgedruckten Castingaufruf ins Zimmer legte. Der hielt den für Müll und warf ihn weg. Ein Missverständnis, dass sich erst eine Woche später klärte. Eine Woche vor Drehbeginn war es auch, dass Fatih Akin mit seinem Sohn Tristan Göbel in einem Film sah und überzeugt war, dass der sein Maik sei. Durch den Darstellerwechsel hatte man nun das Problem, dass etwa 40 cm Unterschied in der Körpergröße zwischen Tristan und Anand herrschten. Daher musste das Bildformat des Films, trotz epischer Landschaftsaufnahmen, von 2,35:1 auf 1,85:1 ändern, um nicht einem von beiden immer im Bild den Kopf abzuschneiden.

Das war es allerdings wert. Tristan Göbel stellt die Verletzlichkeit, aber auch den tief sitzenden Zorn seines Maik ganz wunderbar dar. Wandelt von kindlicher Naivität zu erwachsener Skepsis mit scheinbarer Mühelosigkeit. Eine noch schwerere Aufgabe hat Anand Batbileg als Tschick, über den wir weit weniger erfahren, den wir in seinen Sätzen, oftmals aber auch dem Ungesagten dazwischen und in seinen Haltungen und Taten finden müssen, was er hier phänomenal  transportiert. Wenn ich das Buch lese, wird es mir vermutlich schwer fallen, andere Gesichter als diese zu sehen.

Wer sich übrigens, wie ich, an den Jugendfilm-Klassiker ‚Nordsee ist Mordsee‘ erinnert fühlt und, anders als ich, nicht bis zum Abspann warten möchte, ob es etwaige Verbindungen gibt: Hark Bohm, Regisseur von ‚Nordsee ist Mordsee‘ ist einer der Koautoren der Drehbuchadaption und sein Sohn Uwe, Hauptdarsteller in ‚Mordsee‘ spielt hier Maiks Vater. Die Parallelen sind folglich absolut gewollt.

Ein rundum gelungener Sommerfilm, ohne dabei finstere Töne gänzlich zu ignorieren. Akin gelingt hier genau das, was jedes gute Roadmovie erreichen möchte: dass man sich wünscht, die Fahrt möge noch etwas länger dauern, dass man noch etwas mehr Zeit mit diesen Charakteren verbringen darf. Und nicht nur weil man von Anfang an ahnt, was am Ende wartet. Die bestmögliche Fahrt in die Walachei.