Louis Le Prince, der verschwundene Filmpionier

Wenn man ein bestimmtes Alter überschritten hat, dann erfolgt so um den eigenen Geburtstag herum grundsätzlich eine Betrachtung zum Thema Zeit. Dieses Jahr hat die sich bei mir ausnahmsweise mal auf ein Thema konzentriert, das ich hier auf dem Blog verwerten kann: der Frage was ist eigentlich der älteste Film der Welt und was ist seine Geschichte? Und die Antwort darauf stellte sich auch noch als veritabler Thriller heraus!

Mit 100%er Sicherheit lässt sich die Frage nach dem ältesten Film vermutlich nicht beantworten, aber allgemein wird angenommen, dass es ‚Roundhay Garden Scene‘ des Franzosen Louis Le Prince aus dem Jahr 1888 ist. Es ist nicht der erste Filmversuch, den Le Prince startete, doch vorherige Aufnahmen waren verwackelt. Hier filmt er mit seiner Einlinsenkamera auf Eastman Papierfilm.

Mit etwa 2 Sekunden Länge bietet der Film heute kaum genug Content für ein Tiktok-Video, seine Geschichte ist dennoch faszinierend. Also die um den Film an sich. Sein Inhalt ist, wie Ihr gesehen habt, simpel. Anfangs ganz links im Bild sehen wir Adolphe Le Prince, den Sohn von Louis und Ehefrau Elizabeth Le Prince-Whitley. In der Mitte Miss Harriet Hartley, eine Bekannte Le Princes. Und rechts im Hintergrund das Ehepaar Sarah und Joseph Whitley, die Schwiegereltern Le Princes, im Garten deren Hauses in Roundhay, einem Vorort von Leeds, die Aufnahme entstand. Und wir sehen wie sie ein wenig durch die Gegend wandern, bevor die Aufnahme auch schon wieder vorbei ist.

Le Prince war inspiriert vom Zoopraxiskop von Eadweard Muybridge und dessen Versuchen mit Bewegtbildern. Er besaß bereits ein Patent für eine Kamera, die mit 16 Objektiven schnell aufeinanderfolgende Aufnahmen machen konnte und so Bewegung abbildete. Allerdings nahm die natürlich zwangsläufig jedes Bild einer Bewegungsabfolge aus leicht anderer Perspektive auf. Also werkelte Le Prince über Jahre an einer Kamera, die dieses Problem beheben würde. Die obige Aufnahme war das „proof of concept“ seiner Einlinsenkamera. Damit befand er sich natürlich in einem inoffiziellen Wettstreit mit einer ganzen Reihe von Filmpionieren und war ihnen voraus. Seinen Landsleuten, den Brüdern Lumiere, Edison und Dickson aus den USA oder Donisthorpe aus dem Vereinigten Königreich. Merken solltet Ihr Euch die beiden Thomase Dickson und Edison, die kommen noch einmal vor. Tatsächlich aber würde Le Princes Kamera letztlich keinerlei Einfluss auf die Entwicklung des Filmgewerbes haben.

Doch kommen wir zunächst einmal zur Datierung des Films. Adolphe Le Prince, einer der ersten Filmschauspieler und Louis‘ Sohn, gab später an, die Aufnahme sei am 14. Oktober 1888 entstanden. Natürlich wissen wir nicht, ob das exakt ist. Viel später aber kann es jedoch nicht gewesen sein, da Mrs. Sarah Whitley am 28. Oktober desselben Jahres verstarb. Die Whitleys wurden so zur ersten Familie der Welt, die Filmaufnahmen einer verstorbenen Verwandten besaß. Kurz darauf entstand die obige Aufnahme an einer Kreuzung in Leeds.

Die technische Funktion seiner Kamera hielt Le Prince streng geheim. Er wollte sie und seine Aufnahmen der Welt zum ersten Mal 1890 in New York präsentieren. Am 12. September des Jahres reiste er mit dem Zug von Bourges nach Dijon und besuchte dort seinen älteren Bruder Albert. Von dort wollte er über Paris und Liverpool weiter nach New York reisen. Ankommen würde er dort nie. Zuletzt gesehen wurde er offiziell von Albert, als er am 16. September den Zug in Richtung Paris bestieg. Louis Le Prince verschwand scheinbar spurlos und tauchte niemals wieder auf. Sieben Jahre später wurde er für tot erklärt.

Selbstverständlich zieht ein solch mysteriöses Verschwinden eines Pioniers des Films allerlei Theorien nach sich. Einige wilder als andere. Le Prince war, nicht zuletzt aufgrund seiner jahrelangen Erfinderarbeit, hoch verschuldet. Womöglich hat er diese Chance genutzt, um sich einer möglichen Haftstrafe zu entziehen. Vielleicht aber hat ihn auch seine Familie zum Verschwinden aufgefordert, wie manche vermuten. Oder aber er hat sich das Leben genommen. 2004 wurde die Fotografie einer männlichen Leiche entdeckt, die kurz nach Le Princes Verschwinden in Paris aus der Seine gefischt wurde und ihm zum Verwechseln ähnlich sehen soll. Ein Beweis ist das keinesfalls. Nicht zuletzt, weil die Leiche einige Zentimeter kleiner war, als Le Prince gewesen sein soll. Andere sagen, sein freiwilliges oder unfreiwilliges Verschwinden habe nichts mit den Schulden zu tun gehabt, sondern mit der Tatsache, dass er homosexuell gewesen sei.

Aus heutiger Sicht sensationalistischer ist da die Vermutung, Albert habe seinen Bruder ermordet. Ganz auszuschließen ist das nicht. Albert konnte wohl noch schlechter mit Geld umgehen als Louis und schuldete seinem jüngeren Bruder noch eine große Summe aus dem Erbe ihrer Eltern. Man darf durchaus annehmen, dass die Brüder bei diesem Besuch über Geld gestritten haben. Und anscheinend ist Albert der einzige, der Louis‘ Abfahrt bezeugt hat. Aber daraus kann man selbstverständlich keinen Mord schlussfolgern.

Die dramatischste Theorie schließlich lautet, dass Thomas Edison Le Prince hat ermorden lassen, um dessen Kamera-Demonstration in New York zu verhindern. Edison nahm später für sich in Anspruch erster und alleiniger Erfinder der Bewegtbildkamera zu sein. Edison war durchaus berüchtigt dafür, mit Konkurrenten rücksichtslos umzugehen, keine Geschichte über Nikola Tesla kommt ohne Edison als Schurken aus. Angeblich soll Le Princes Witwe kurz nach seinem Verschwinden einen entsprechenden Verdacht geäußert haben. Belegen konnte das aber weder sie, noch irgendjemand sonst, der diese Vermutung geäußert hat. Tatsächlich sollten sich Le Prince und Edison noch einmal indirekt und – vermutlich – posthum begegnen.

Adoplphe Le Prince, hier nicht als Zeuge, sondern als Akkordeonspieler. Die Aufnahme entstand womöglich am gleichen Tag wie die ‚Roundhay Garden Scene‘

Thomas Dickson, der für Edison an dessen Kamera gearbeitet hatte und mindestens Miterfinder, vermutlich aber alleiniger Entwickler war, gründete 1895 sein eigenes Filmstudio American Mutoscope Company. Mit seinem Mutoskop als direkt Konkurrenz zu Edisons Kinetoskop Guckkastenkino. Auch verwendete die Firma andere Filme als Edisons Kameras, um dessen Patente nicht zu verletzen. Thomas Edison verklagte sie selbstverständlich dennoch. Die Verteidiger beriefen Adolphe Le Prince als Zeugen, um Edisons Anspruch „erster und alleiniger Erfinder“ der Bewegtbildkamera zu sein, zu widerlegen. Geholfen hat es wenig, das Gericht entschied, wie so oft, im Sinne Edisons. Dennoch wurde Mutoscope, später Biograph Company, für kurze Zeit zum erfolgreichsten Filmstudio der USA, was aber spätestens mit dem Umzug der US-Filmindustrie von der Ost- an die Westküste, also als sie wirklich lukrativ wurde, endete.

Es entbehrt sicherlich nicht einer gewissen Ironie, dass Louis Le Prince selbst nie in seinen Filmen zu sehen ist und das so einer der ersten Menschen, die Bewegtbilder unsterblich machen konnten, ohne jede Spur aus der Geschichte verschwunden ist.

Das ist auf Youtube! Eine Handvoll Filme von Alice Guy-Blaché

Wenn man sich mit der Frühgeschichte des Kinos befasst landet man fraglos in Frankreich. Hier haben die Gebrüder Lumiere 1895 zum ersten Mal öffentlich einen Film vorgeführt. Aus dem Bereich der Fotografie kommend, sahen sie im Film eine neue Möglichkeit die Realität abzubilden. Im Gegensatz zu ihnen stand der Bühnenmagier Georges Méliès, der im Film die Möglichkeit sah die Realität zu verändern.

Doch im Publikum der ersten Filmvorführung der Lumieres, im Keller des Grand Café in Paris, befand sich eine weitere Pionierin des Films deren Arbeit häufig übersehen wird: die zu diesem Zeitpunkt 21jährige Sekretärin Alice Guy. Sie bestürmte ihren Chef, den Industriellen Léon Gaumont, ihr die Möglichkeit zu geben in ihrer Freizeit ihre eigenen Filme zu drehen. Gaumont war einverstanden, vermutlich vor allem deshalb weil er das finanzielle Potential des neuen Mediums noch nicht sah. So entstand 1896 Guys erster Film ‚La Fée aux Choux‘, in dem eine Fee Babies in Kohl heranzieht (ja, so hab ich auch geguckt) und der möglicherweise der erste fiktive Film überhaupt sein könnte.

Für die nächsten 10 Jahre wurde Guy die filmische Produktionschefin von Gaumont und war als Regisseurin oder Produzentin für 700 bis 1000 Filme verantwortlich. Dabei behandelte sie aktuelle Themen, z.B. Feminismus in ‚Les resultats du feminisme‘, in dem Männer sich schminken und Kaffekränzchen abhalten und von biertrinkenden Frauen belästigt werden (das mag nicht sehr progressiv scheinen, aber allein die Tatsache, dass 1906 eine Frau öffentlich in einem Film über das Thema sinnieren konnte ist außergewöhnlich):

Sie suchte aber auch nach Möglichkeiten den Film weiter zu entwickeln, z.B. mittels Handeinfärbung in ‚Le départ d’Arlequin et de Pierrette‘:

Und sie zeichnet definitiv verantwortlich für die ersten ‚Musikvideos‘ mittels Chronophone-Verfahrens, bei dem Schallplatten mit dem Film synchronisiert werden mussten. Hier Armand Dranem 1905 mit einem Lied über Jiu-Jitsu (22 Jahre vor ‚The Jazz Singer‘!):

Hier ‚Making of‘ Aufnahmen einer solchen Chronophone-Sitzung, Guy ist im Vordergrund/Mitte zu sehen:

Als eines ihrer Meisterwerke gilt die damalige Großproduktion ‚Le vie de Christ‘ von 1906, der – mit über 300 Statisten – Stationen aus dem Leben Jesus‘ von Nazareth zeigt:

1907 heiratete Guy den Kameramann Herbert Blaché, der bald eine leitende Position bei Gaumonts Niederlassung in New York erhielt. 1910 gründeten die Beiden ihre eigene Filmproduktion ‚Solax‘ und ließen ein großes, modernes Produktionsgelände in Fort Lee, New Jersey bauen. Herbert sollte die finanzielle Seite übernehmen, Alice die kreative. Nach anfänglichen finanziellen Erfolgen (‚Solax‘ war das größte Prä-Hollywood Studio der USA) gingen die Dinge nicht gut. 1918 produzierte Guy-Blaché ihren ersten Flop und Herbert Blaché war entweder nicht gut im Umgang mit Geld oder betrachtete seine Frau als Rivalin und wollte ihr schaden. Wie dem auch sei, als ein bankrott absehbar war setzte er sich mit einer Schauspielerin nach Hollywood ab. Guy-Blaché drehte 1920 ihren letzten Film ‚Tarnished Reputations‘, arbeitete dann 2 Jahre für William Randolph Hearst, ließ sich 1922 scheiden und kehrte nach Frankreich zurück.

Niemand wollte mehr eine Frau Filme drehen lassen. Gaumont veröffentlichte 1930 die Geschichte seiner Firma und erwähnte keine Filme vor 1907. Viele von Alices Filmen wurden männlichen Filmemachern angedichtet. Sie selbst zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.

1952 veröffentlichte sie ihre Memoiren. Ein leicht beschämtes Frankreich nahm sie 1953 in die Ehrenlegion auf. Das Gefühl hielt nicht lange an. Als sie 1957 von der Cinématheque Française geehrt wurde, ignorierten Presse und Öffentlichkeit dies völlig. 1964 zog sie zu ihrer Tochter in die USA, wo sie 1968 94jährig in einem Altenheim starb. Ihre Karriere von 1896 bis 1920 war die längste aller Filmpioniere.

350 ihrer Filme sind erhalten, davon 22 Langfilme.