‚Raw‘ (2017) – Na dann Mahlzeit

Da ist doch glatt schon Halloween ausgebrochen und ich habe den ganzen Oktober über nicht einen aktuellen Horrorfilm besprochen. Bevor das eine Abmahnung gibt oder mir, noch schlimmer, die Blogausschanklizenz und Knarre entzogen werden, sei hiermit quasi auf den letzten Drücker eine zumindest halbgare Rezension zu Julia Ducournaus wunderbar gelungenem ‚Raw‘ serviert.

Justine (Garance Marillier) beginnt, ganz in der Tradition ihrer Familie, ein Studium zur Veterinärin. Das ist für die Studienanfänger mit erniedrigenden Initiationsriten (oder französisch „Bizutage“, was allerdings viel zu freundlich klingt) verbunden. Nicht nur werden sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und gezwungen zu einer Party zu kriechen, sie werden auch in bester ‚Carrie‘-Tradition mit Schweineblut übergossen. Als von ihr verlangt wird eine rohe Hasenniere zu essen ist für die lebenslange Vegetarierin Justine eigentlich die Schmerzgrenze erreicht. Auf Zureden ihrer älteren Schwester Alexia (Ella Rumpf), die schon länger im Studium ist und zu den „Prüfern“ gehört, tut sie es aber doch. Es folgt zunächst eine derart heftige allergische Reaktion, dass es an cronenbergschen Bodyhorror grenzt, bevor in Justine ein immer extremerer Hunger erwacht…

Gerade für ein Erstlingswerk ist Ducournaus Film stilistisch geradezu erstaunlich elegant. Im Inneren der Hochschule finden primärfarbenbeleuchtete (vor allem rot natürlich) Partys a la Dario Argento statt und kontrastieren mit den stillen Außenaufnahmen hässlicher Betonbauten und trüber, verregneter Natur. Die Schule wirkt nicht nur vom Rest der Welt getrennt, sie scheint auch in sich ein geradezu alptraumhaftes Labyrinth. Der psychedelische Soundtrack von Ben Wheatley Stammkomponist Jim Williams unterstreicht diesen Eindruck noch. „Ich habe mich schon verlaufen“, bemerkt Justine keine zwei Minuten nachdem sie in der Schule angekommen ist, als wir Zuschauer uns noch Sorgen um ihre Sicherheit, statt der derer um sie herum machen.

Garance Marillier, die schon seit sie dreizehn Jahre alt war mit Regisseurin Ducournau an Kurzfilmen arbeitet, gelingt hier ein kleines Kunststück. Gibt sie anfangs noch die brave Musterschülerin, die von den fleischlichen Gelüsten (in jeder Hinsicht) um sie herum verwirrt bis abgestoßen ist, so wird sie im Laufe des Films zu einem immer mehr von teils gefährlichen Instinkten getriebenen beinahe animalischen Wesen. Dabei büßt sie vielleicht die Sympathie von mir als Zuschauer ein, nie jedoch das Interesse. Wenn sie dann wie ein Hund nach der Hand einer Leiche schnappt, die ihre Schwester vor ihrer Nase baumeln lässt, dann ahnt man, dass hier einiges Vertrauen zwischen Regisseurin und Darstellerin nötig war. Ella Rumpf als die rotzige, ältere Schwester, sowohl Rivalin als auch Antreiberin Justines gibt einen gleichstarken Gegenpart ab. Die Beziehung der beiden Schwestern erinnert so nicht selten an die der Schwestern im ähnlich gelungenen ‚Ginger Snaps‘.

Einige kleinere, erzählerische Schwächen, gerade zum Ende hin, wenn der Film ein paar Karten mehr auf den Tisch legt als vielleicht klug wäre, fallen da eigentlich kaum noch ins Gewicht und können der Eleganz des Gesamtproduktes nichts mehr anhaben. Die Themen weiblicher Sexualität, gefährlicher, sinnloser Traditionen, dem Wunsch nach Ausbrechen aber auch dem Streben nach unauffälliger Durchschnittlichkeit transportiert der Film mit scheinbar so spielerischer Leichtigkeit, dass er sich gelegentlich anfühlt wie ein Grimmsches Märchen, wenn auch erzählt aus der Sicht der Knusperhexe.

Und nun ist es mir gelungen so viel zu schreiben und ein wichtiges Thema, das Thema, welches für Viele der Grund sein wird sich den Film nicht ansehen zu wollen, nicht einmal anzuschneiden: Kannibalismus ist der offensichtliche heiße Brei, um den ich hier herumgeschrieben habe. Die Gerüchte um Leute, die von Sanitätern aus Vorführungen des Films gebracht werden mussten betrachte ich zwar einfach mal als typisch übertriebenes Horrorfilm-Blah-Blah, allerdings ist der Film für Leute mit empfindlicherem Magen vermutlich wirklich nicht gut geeignet. Ähnlich wie in ‚Green Room‘ liegt das aber gerade nicht an überzogenen Gore-Effekten, sondern daran, dass das was geschieht mit geradezu schmerzhaftem Realismus dargestellt wird. Seinen immer mal wieder aufblitzenden tiefschwarzen Humor legt der Film in diesen Momenten meist ab und weist dagegen ein Sounddesign auf, das schon die Kratzgeräusche auf Justines allergischem Ausschlag unerträglich werden lässt, ganz zu schweigen von dem was später passiert. Eine Ausnahme davon ist eine wunderbar bizarre Szene um einen Mittelfinger, autsch. Ein offensichtlicher Beweis wie sehr sich die Wertungen der FSK in den letzen Jahren gewandelt haben ist wohl, dass der Film ab 16 freigegeben wurde.

Wer sich davon allerdings nicht abschrecken lässt, der bekommt hier einen echten Leckerbissen an europäischem Horror geboten, ein frankobelgisches Amuse-Gueule für Julia Ducournaus zukünftige Karriere. Und das waren jetzt mindestens zwei Essensanspielungen zu viel, darum wünsche ich Euch jetzt ein Happy Halloween und einen schönen, freien Reformationstag!