‚Mord im Orient Express‘ (2017) – der Film hat ‘nen Bart

Vor etwas mehr als einem Jahr kam Kenneth Branaghs Verfilmung des Agatha Christie Romans in die Kinos und erhielt zum größten Teil eher mäßige Rezensionen. Nun, da ich den Film, brandaktuell wie immer, auch gesehen habe, muss ich sagen, dass ich das irgendwie verstehe, irgendwie aber auch nicht. Um meine mangelnde Vorbildung direkt klar zu machen: ich habe den Sidney Lumet Film des gleichen Stoffes vor einer halben Ewigkeit gesehen und kann mich nicht mehr wirklich dran erinnern. Das Buch habe ich vor vermutlich noch längerer Zeit gelesen, weiß also nicht wie getreu diese Umsetzung ist, kann aber sicher sagen, die Auflösung zumindest wurde direkt adaptiert. Die Serie mit David Suchet, die für viele als der beste mögliche Hercule Poirot gilt, kenne ich leider gar nicht. Ich bewerte den Branagh-Poirot also zwangsläufig vor allem aufgrund seiner eigenen Meriten.

Der Film beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem wir Hercule Poirot (Kenneth Branagh) 1934 in Jerusalem treffen und ihm nicht nur bei der Lösung eines Falles zuschauen, sondern auch eine Gelegenheit bekommen, die beiden größten Hürden des Films zu nehmen. Zum einen, den doch rescht übersogenen Accent, miet demm Branagh seinen Detective schpriescht, n’est-ce pas. Zum anderen seinen Schnauzbart, oder eher die Schnauzbärte, die er im Gesicht hat und deren Aufbau und Statik eine höhere Bildung in Bartologie benötigen, als ich mitbringe. Wir lernen hier allerdings auch schon, was Poirot ausmacht und was im folgenden Film von höherer Bedeutung wird: er sieht die Welt so, wie sie seiner Meinung nach sein sollte. Ist etwas falsch daran, ist das für ihn unerträglich. Das quält ihn im normalen Leben, wo er zwei nicht gleich große Frühstückseier nicht verzehren kann und ein schief sitzender Schlips eines Polizisten ihm körperliche Schmerzen bereitet. Zur Aufklärung von Verbrechen ist es allerdings sehr nützlich.

Genau davon möchte er aber eine Pause, bei einer Fahrt mit dem Orientexpress bis nach Frankreich. Daraus wird natürlich, aufgrund seiner illustren Mitreisenden nicht. Da wäre etwa Caroline Hubbard (Michelle Pfeiffer), die die Welt auf der Suche nach ihrem soundsovielten Ehemann bereist. Die Gouvernante Mary Debenham (Daisy Ridley), die eine heimliche Beziehung zum Arzt Arbuthnot (Leslie Odom jr.) pflegt. Mit der Hautfarbe des Letztgenannten hat der österreichische Professor Hartmann (Willem Dafoe), dessen Forschung Deutschland zu neuer Größe führen soll, ein Problem. Dazu noch eine russische Fürstin (Judi Dench), ein halbseidener Kunsthändler (Johnny Depp), eine hochchristliche Missionarin (Penélope Cruz) und ein halbes Dutzend mehr, die demnächst alle hochverdächtig werden. Aber mehr über die Handlung zu verraten wäre dem Film gegenüber unfair.

Denn die Handlung ist geradezu ein wohlgeöltes Uhrwerk, das exakt von Szene zu Szene und damit von „Gaststar“ zu „Gaststar“ führt. Der Film ist insofern ein wenig altmodisch, als dass er quasi ein Varieté-Film ist. Allerlei Stars, die der Zuschauer hoffentlich gern sieht, geben sich die Ehre und interagieren mit dem zentralen Charakter. Das heißt im Umkehrschluss allerdings auch, dass die meisten Rollen sehr klein bleiben. Penélope Cruzs Auftritt etwa, wäre wenig mehr als ein Cameo, wenn sie sich nicht in anderen Szenen im Hintergrund aufhielte und dabei verdächtig aussieht. Alle Darsteller liefern reichlich theatralische Vorstellungen ab, allerdings scheint es mir auch beinahe unmöglich Branagh mit diesem Akzent und dieser Behaarung im Gesicht gegenüberzusitzen und nicht ein wenig zu overacten. Aber auch bei diesen kleinen Auftritten gibt es deutliche Unterschiede. Die meisten haben erkennbaren Spaß an ihren Rollen und insbesondere Michelle Pfeiffer gibt als Mrs. Hubbard (hinter der natürlich mehr steckt) alles. Im Gegenzug scheint Depp durch seine Handvoll Szenen geradezu zu schlafwandeln. Die Handlung ist aber eben auch nicht mehr als ein Uhrwerk. Wenn sie am Ende einen emotionalen Twist probiert, muss ich sagen, dass mich Branaghs doch recht überdrehter Poirot dafür nicht wirklich genug mitgenommen hat.

Ähnlich widersprüchlich zeigt sich Branagh, der auch Regie geführt hat,  auf der technischen Seite. Der Film ist am besten, wenn er im abgeschlossenen Raum des Zuges spielt. Anfänglich etabliert Branagh hier sehr gut die Räumlichkeiten, bevor er die Kamera durch Abteile und Speisewagen fliegen und um Milchglasfenster herumlinsen lässt, dass man sich fühlt wie die sprichwörtliche Fliege an der Wand. Immer wieder zeigt die Kamera das Geschehen auch aus einer Aufsicht-Perspektive, die augenzwinkernd die Verwandtschaft zu „Cluedo“ (dem Brettspiel, nicht dem Film) anzuerkennen scheint. Außerhalb des Zuges wird es dagegen beinahe peinlich. Im ersten Drittel des Films sehen wir den Express immer wieder durch leere Computerlandschaften fahren, die mich an den bald 15 Jahre alten ‚Polar Express‘ erinnert haben. Auch eine „Actionszene“ auf einer Brücke, ist so unklar gefilmt und verwirrend geschnitten, dass sie mehr aufgesetzt als spannend wirkt.

Aber ich müsste lügen, würde ich behaupten, der Film habe mich nicht wunderbar unterhalten. Ich habe die knapp 2 Stunden in Gesellschaft dieses Poirots, trotz erkennbarer Unzulänglichkeiten,  wirklich genossen. Vielleicht stimmt mich die Vorweihnachtszeit gnädig, vielleicht mag ich einfach Filme, die in Zügen spielen, vielleicht bin ich auch Poirot-technisch nicht genug vorgebildet. Ich würde den Film als das ideale Material bezeichnen, um ihn nach einem reichhaltigen (Vor-)Weihnachtsessen mit der ganzen Familie zu schauen. Ja, sogar mit Tante Ingeborg, die eigentlich mit den Filmen von heute nichts mehr anfangen kann. Denn Branagh hat dem Film einen Schuss geradezu altmodischen Charme verpasst. Ob der Film wirklich eine Fortsetzung benötigt, wie wir sie mit ‚Tod auf dem Nil‘ wohl bekommen, weiß ich nicht so recht. Aber das ist wohl auch eher eine finanzielle als künstlerische Frage.