Ich mag Julia Ducournaus ‚Raw‘ immer noch sehr gern. Kannibalismus als Metapher auf coming-of-age und Familienbande ist alles andere als offensichtlich, funktioniert allerdings, meiner Meinung nach, ganz hervorragend. Die Frage, die sich mir stellte war, ob sie in ihrem nächsten Film im Horrorgenre bleiben würde, oder etwas ganz anderes versuchen würde. Und ihre sehr deutliche… okay, vielleicht nicht deutliche, aber laute Antwort auf diese Frage ist: beides. Denn in ‚Titane‘ fickt eine Serienmörderin ein Auto und wird von ihm mechanisch schwanger. Und das ist bloß, was in der ersten halben Stunde passiert. Und das passt definitiv in kein Genre, das mir bekannt wäre. Fraglos ist aber, dass Ducournau weiterhin typische Tropen des Horrorfilms metaphorisch verwendet. Ebenso fraglos ist aber auch, dass sie sich vom Mainstream eher entfernt als auf ihn zubewegt. Deswegen ist ‚Titane‘ auch kein Film, dem man mit einem reinen Abriss seiner Handlung einen großen Gefallen tut. Ich bringe den hier erst einmal trotzdem. Würde mich aber freuen, wenn Ihr danach weiterlest, selbst wenn Ihr Euch abgestoßen fühlen solltet.
Als kleines Mädchen schnallte sich Alexia von ihrem Sitz los, woraufhin ihr ungeliebter Vater einen Autounfall baute. Zu ihrer Rettung wurde Alexia eine Titanplatte an den Schädel gesetzt, wodurch sie eine große Narbe zurückbehielt. Jahrzehnte später, als Erwachsene, arbeitet Alexia (Agathe Rouselle) als erotische Tänzerin auf Autoshows. Ihr Privatleben besteht aus freudlosen sexuellen Begegnungen mit Männern und Frauen, die meist mit deren Tod durch Alexias Hände enden. Als sie nach dem Mord an einem übergriffigen Fan allein zu einer geschlossenen Autoshow zurückkehrt, leuchten plötzlich die Lichter eines getunten Cadillacs auf. Es folgt eine bizarre sexuelle Begegnung, die für Alexia mit einer äußerst schnell voranschreitenden Schwangerschaft endet. Als ihre Morde sie einzuholen drohen, schneidet sie sich die Haare ab, bricht sich die Nase, bindet ihren Oberkörper mit Bandagen ab, um sich als der seit 10 Jahren verschwundene, inzwischen 17jährige Adrien, Sohn von Feuerwehrhauptmann Vincent (Vincent Lindon) auszugeben. Der einsame, alternde Mann akzeptiert sie sofort als seinen Sohn und verbietet jeglichem Verdacht aus seiner Mannschaft heraus direkt den Mund. Für Alexia, die nun zum ersten Mal – erzwungenermaßen – engen Kontakt zu einem anderen Menschen hat, ergibt sich bald eine neue Sichtweise auf die Welt und auf sich selbst.
Alexia, wenn wir sie treffen, scheint der Welt geradezu entrückt. Rouselle, phänomenal in ihrer ersten Spielfilmrolle, spielt sie stets gelangweilt, als wäre sie lieber irgendwo anders. Die Morde, die Mechanophilie scheinen wie Ersatzhandlungen, um ihrer gähnenden Einsamkeit für einen Moment zu entgehen. Wenn sie dann, zunächst aus Gründen der Flucht, ihre Persönlichkeit und Identität zerstört, um zu „Adrien“ zu werden, geht eine merkliche Veränderung mit ihr vor. Vincent seinerseits scheint an der Einsamkeit fast wahnsinnig geworden. Nach dem Verschwinden seines Sohnes hat ihn seine Frau verlassen. Als Mann in den 60ern versucht er nun durch Steroidinjektionen und nächtliches Training ein Bild starker Männlichkeit aufrechtzuerhalten, ohne das er fürchtet auch noch den Respekt seiner Männer, seinen letzten Zufluchtsort, zu verlieren.
Die seltsame Konstellation dieser beiden kaputten Figuren ist für beide eine sehr merkwürdige Chance. „Wenn dich irgendjemand verletzt“, sagt Vincent in seinen ersten Worten zu „Adrien“, „dann bringe ich ihn um. Und wenn ich dich verletzte, bringe ich mich selbst um!“ Eine überwältigende, beängstigende Aussage. Und Ducournaus Idee scheint zu sein, dass Liebe, die ehrliche, offene Verbindung zwischen zwei Menschen, immer wieder an imperfekten Worten scheitert. Liebe funktioniert am besten ohne Worte. Daher ist es auch immer wieder Tanz, der hier zum Ausdruck von Gefühl wird. Von Alexias bezahltem Geräkel auf Autoshows bis zum Rave der Feuerwehrmänner, der zwischen Homoerotik und Macho-Schlägerei changiert.
Ducournau arbeitet, wie bei ‚Raw‘, mit Kameramann Ruben Impens zusammen. Doch während sie dort häufig die Umgebung betont haben, das märchenhaft Verlorene der Schule, ist die Kamera hier immer ganz nahe am Menschen. Oft genug unangenehm nah, vor allem wenn sich der Bodyhorror von Alexias ungewöhnlicher Schwangerschaft Bahn bricht und nun neben ihrer Identität auch ihren Körper zu zerstören scheint. Ich sage mal, es gibt keine menschliche Körperöffnung aus der man Motoröl tropfen sehen möchte. Aus einigen dann aber noch weniger als aus anderen.
Und damit müssen wir dann über den Stil des Films sprechen. Ich habe ihn als „provokativ“ beschreiben gesehen. Ich weiß nicht, ob ich diese Meinung teile. Ducournau ist sicherlich völlig desinteressiert an Mainstreamerfolg, insofern ist er vielleicht provokativ im Sinne von Extremkino, aber sie zeigt keinen Ekel um seiner selbst willen. Insbesondere die erste Hälfte ist voll von den zwei großen Bs des Horrorfilms: Blut und Brüsten. Aber beide fühlen sich, jedenfalls für mich, keinesfalls exploitativ an. Der weibliche Körper taucht hier nicht als begehrenswertes Objekt auf, sondern als lebende Tatsache, außer natürlich beim bewusst grotesken Autotreff, wo die Grenzen zwischen menschlicher und maschineller Erotik zerfließen. David Cronenberg und sein Bodyhorror der 80er und 90er (insbesondere vermutlich ‚Crash‘) sind erkennbare Inspirationen für den Verlauf der Schwangerschaft. Auch hier wird der menschliche Körper zu einem extrem zerbrechlichen Etwas, das vor Metall (womöglich Titan) nachgeben muss mit unangenehmen Konsequenzen.
Die Highlights des Films sind aber fraglos die Darsteller. Newcomerin Agathe Rouselle (die die Stimmung am Set im Übrigen als sehr fürsorglich beschrieben hat) ist schlicht grandios. Hätte mir irgendwer in der ersten Hälfte des Films gesagt, dass ich irgendetwas, was ihr absolut furchtbarer, der Welt entrückter Charakter tut, später glaubhaft als „herzerwärmend“ beschreiben würde, hätte ich es nicht geglaubt. Und dann rettet sie jemandem das Leben zum Rhythmus des Macarena… Vincent Lindon ist ein ebenbürtiger Gegenpart. Hat sich extrem in die Rolle reingehängt und sogar ein Jahr körperliches Training aufgewendet. Er gibt den Mann, der es nicht schafft seine Gefühle auszudrücken und darüber in Einsamkeit so sehr versinkt, dass er sich sogar an eine offensichtliche Lüge klammert mit der nötigen Tragik. Übrigens taucht in einer kurzen Nebenrolle Garance Marillier auf, mit dem Rollennamen Justine, wie in ‚Raw‘. Nette Hommage, oder doch CINEMATIC UNIVERSE?
Mir hat der Film wirklich, WIRKLICH gut gefallen. Ich ringe mit mir, ob ich ihn besser oder etwas schwächer als ‚Raw‘ finde. Vielleicht ist die Antwort auch hier: beides. ‚Raw‘ ist zugänglicher, geradliniger, in seiner Metapher leichter nachzuvollziehen. Und wenn jemand den Raum betritt, während Ihr den Film schaut, klingt das „was schaust DU denn da?!“ vielleicht etwas weniger schockiert. Will sagen, wer noch nix von Julia Ducournau gesehen hat, sollte mit ‚Raw‘ anfangen. Der ist leichter… verdaulich. Aber für mich landet ‚Titane‘ absolut unter den Besten des letzten Jahres.