‚Tatis Schützenfest‘/‚Jour de fête‘ (1949)

Ich habe mich an dieser Stelle ja schon häufiger als großer Fan von Jacques Tati (‚Die Ferien des Monsieur Hulot‘, ‚Tatis Herrliche Zeiten‘) zu erkennen gegeben. Doch seinen ersten Spielfilm, den bevor er die Figur des M. Hulot erdacht hatte, kannte ich nicht. Ein ziemliches Versäumnis und somit höchste Zeit aufs Schützenfest zu gehen (Hinweis: der deutsche Titel ist irreführend, das Fest im Film ist ein Dorffest, kein Schützenfest. Der Titel bezieht sich stattdessen auf die „Kunst“ von Tatis Charakter an der Wurfbude). Fein, dann eben Zeit aufs Dorffest zu gehen.

In Sainte-Sévère, einem kleinen Dörfchen mitten im Herzen Frankreichs, stehen große Dinge bevor: ein Dorffest findet statt. Schon kommen die Schausteller, bauen Karussell und Buden auf, treffen sich mit dem Bürgermeister. Der Café-Besitzer lackiert, etwas spät, seine Stühle und man gibt sich größte Mühe auf dem Dorfplatz einen großen Fahnenmast mit Drapeau Tricolore aufzustellen. Mittendrin ist Briefträger Francois (Tati). Ein etwas simpler, aber hilfsbereiter Mann. Nie einem Glas Wein oder einem Gespräch abgeneigt. Nicht unbeliebt aber sicherlich nicht respektiert. Doch als das fahrende Volk später im Kinozelt des Festes einen Film über die US-amerikanische Post zeigt, ihre hochmodernen, schnellen Methoden und voraussagt, dass bald jeder amerikanische Postbote seinen eigenen Helikopter haben wird, da fühlt sich Francois dann doch ins einer Ehre verletzt. Was die blöden Yankees und ihre Flugmaschinen können, dass können Francois und sein altes Klapperrad schon längst! Für Francois steht fest: jetzt wird er effizient. Zumindest sobald er wieder nüchtern ist.

Tati lernte den Ort Sainte-Sévère 1943 kennen. Der Kabarettist, Pantomime und gelegentliche Filmdarsteller wollte der deutschen Besatzungsmacht in Paris aus dem Weg gehen. Und so bestellte er für etwa 1 ½ Jahre, gemeinsam mit dem befreundeten Drehbuchautor Henri Marquet einen kleinen Bauernhof in der Nähe des Ortes. Und er verliebte sich in die traumhafte kleine Ortschaft, wo die Welt in Ordnung und der Krieg weit weg schien. Falls er jemals selbst einen Film drehen sollte, dann hier, nahm er sich vor. Schon zwei Jahre nach dem Krieg war es soweit. 1947 drehte er den Kurzfilm ‚Die Schule der Briefträger‘. Knapp ein Jahr später folgte der Spielfilm ‚Jour de fête‘, der eine Reihe Szenen des Kurzfilms direkt übernahm.

Falls Ihr den Originaltrailer oben geschaut habt, dann macht der eigentlich bereits unmissverständlich klar, worum es sich hier handelt. Um Heile-Welt-Kino als direkte Antwort auf den Zweiten Weltkrieg. Quasi die französische Variante eines Heimatfilms. Hier wie dort wird die traditionelle Landwirtschaft romantisiert. Mit Pferdegespannen, familiärer Feldarbeit und stetem Sonnenschein. Eine Lebensweise, die, nüchtern betrachtet, auch 1947 bereits im Verschwinden begriffen war. Und natürlich selten so schön wie hier gezeigt. Aber darum ging es gar nicht. Das war Eskapismus und der wurde dringend gebraucht.

Doch während der Heimatfilm die pure Idylle heraufbeschwört, ist Tatis Blick bereits hier ein ironischer. Er betont die kleinen Marotten der Bewohner, zeigt ihre Imperfektionen freudig auf. Unsere Erzählerin ist eine sehr alte, gebeugte Frau, die das Geschehen distanziert-amüsiert für ihre kleine Ziege kommentiert. Da spielt die Musik des Karussells gegen den dörflichen Spielmannszug bis eine pure Kakophonie daraus wird. Wir sehen ein Tableau bukolischer Idylle, einige Felder mit einem kleinen Weg dazwischen, auf dem jeder anwesende Mensch nacheinander von einer Wespe angegriffen wird und sie mit wild rudernden Armen zum nächsten scheucht.

Der Slapstick sitzt hier noch nicht so perfekt, wie es bei Tati später der Fall sein sollte. Sicher, wenn Francois sein Fahrrad unter der Ladefläche eines fahrenden Lasters einklemmt und dann beginnt auf ihr, wie auf einem Schreibtisch zu arbeiten, dann ist das sehr komisch. Aber man kann sich auch nicht des Gedankens erwehren bei Buster Keaton ganz ähnliches gesehen zu haben. Tatis Hollywood-Vorbilder, Keaton und Chaplin, sind noch allzu erkennbar. Er hat seinen ganz persönlichen Slapstick-Stil noch nicht gefunden. Später würde er seine langen, schlaksigen Gliedmaßen, die fast von allein Chaos auszulösen scheinen, perfekt nutzen. Einen Stil schaffen, der seinerseits kaum zu kopieren ist.

Doch absurde audio-visuelle Gags, die beherrschte er damals schon zur absoluten Perfektion. Wenn sich etwa ein Schausteller und eine Dorfbewohnerin, die offensichtlich Gefühle füreinander hegen, schweigend gegenüberstehen, während aus dem Kinozelt der leiernde Ton einer romantischen Szene eines Westerns herüberweht und der Schaustelle am Ende einen Schraubenschlüssel wie einen Colt wegsteckt, dann funktioniert das wunderbar. Mein Favorit ist ein Moment, wenn eine Schaustellerin aus ihrem Wohnwagen tritt, und einem anderen zuruft, ob der wisse, wo die Hunde seien. Der Schausteller pfeift auf seinen Fingern und aus dem winzigen Wohnwagen der Schaustellerin brechen ein halbes Dutzend großer, lauter Hunde. Sie kommentiert das mit „ah, da sind sie ja.“. Das ist dann wirklich perfekt Tati.

Auch seine Philosophie lässt sich in dem Film bereits erkennen. Seien Filme setzen häufig den Menschen gegen die Technik. Für Tati war der Mensch ein chaotisches Wesen, dass sich an allzu rigiden Systemen immer scheuern wird. Baut der Mensch um sich herum nun eine Welt der Technik, wie es im 20ten Jahrhundert im Westen fraglos geschehen ist, dann spannt er sich selbst in das rigideste mögliche System ein, eine Maschine. Und dort wird und muss er zwischen die Zahnräder geraten. Bei Tati waren es stets die Maschinen, die daran zerbrochen sind. Man sollte daraus übrigens nicht ableiten, dass Tati ein reaktionärer Technikhasser war. ‚Tatis Schützenfest‘ war der erste französische Spielfilm, der neben schwarz-weiß auch in Farbe gedreht wurde. Bloß gab es kaum Kinos, die darauf ausgelegt waren solche zu zeigen, weswegen nur die sw Fassung veröffentlicht wurde (die Farbfassung wurde 1994 fertiggestellt und liegt auf der dt. BluRay vor!).

Doch, wie erwähnt, ‚Tatis Schützenfest‘ ist ein Heile Welt-Film. Daher sind es hier nicht Mähdrescher und Traktoren, die die traditionelle Landwirtschaft aus den Angeln heben. Sondern es ist nur ein Postbote mit „komm ich heut nicht, komm ich morgen“-Philosophie, der sich von einem völlig überzogenen Film über amerikanische Effizienz herausgefordert fühlt. So beginnt er die schönen Hügel und Kurven mit geraden Linien zu durschneiden, schleppt sein Rad bergauf und überholt Rennfahrer. Und am Ende geht er, wortwörtlich, baden. Viel geringer könnten die Einsätze kaum sein.  Nein, es ist nicht die Handlung, die den Film treibt. Ähnlich wie in ‚Die Ferien des Monsieur Hulot‘ erschafft Tati ein Panorama sympathisch-verschrobener Charaktere, die er vor wunderschöner Kulisse interagieren lässt. Und hier liegt in der Rückschau vielleicht eine der größten Stärken des Films. Tati schafft eine Chronik eines Momentes, in dem ein Dorf bereits ein Stück aus der Zeit gefallen scheint. Und 73 Jahre später können wir es immer noch besuchen. Das ist doch die Magie des Kinos. Das und Filme über Yankee-Postboten mit Hubschraubern, natürlich!

‚Tatis Herrliche Zeiten‘/‘Playtime‘ (1967)

Das letzte Mal, als ich Jacques Tati hier auf dem Blog besprochen habe, war für seinen großen Durchbruch mit ‚Die Ferien des M. Hulot‘. Nun bespreche ich den Film, der dafür gesorgt hat, dass er als kommerzieller Filmemacher am Ende war. Wie viele Filme hat er in der Zwischenzeit gedreht? Einen, ‚Mon Oncle‘. Natürlich hat er auch vor den Ferien Filme gedreht und würde auch nach ‚Playtime‘ mit ‚Trafic‘ noch wenigstens einen bedeutenden Film abliefern. Doch sind die drei Filme fraglos die Höhe seines Schaffens, was den brutalen Flop von ‚Playtime‘, in den Tati auch den größten Teil seines persönlichen Vermögens investiert hatte, umso tragischer macht.

War in ‚Mon Oncle‘ schon eine gewisse Modernismuskritik zu entdecken, so würde diese in ‚Playtime‘ ihren Höhepunkt erreichen. Tati wollte ein Paris zeigen, dass scheinbar nur noch aus Wolkenkratzern, aus Beton, Glas und Plastik besteht. Eine graue Stadt, durch die sich graue Menschen in schwer nachzuvollziehenden und maschinell vorgeschriebenen Bahnen bewegen. Dafür konstruierte er, unter großer Medienaufmerksamkeit, einige Kilometer von Paris entfernt „Tativille“. Eine riesige Filmstadt, eben aus Glas, Beton und Plastik. Entworfen wurde sie von Jacques Lagrange, der später die ersten Entwürfe für „La Défense“ erstellte, das Hochhausviertel von Paris und bis heute das größte Büroviertel Europas. Kurz, ‚Playtime‘ wurde recht fix von der Realität eingeholt.

Eine wirkliche Handlung gibt es in ‚Playtime‘ kaum. Wir begleiten sowohl Tatis M. Hulot, als auch eine Gruppe amerikanischer Touristen etwa 24 Stunden durch jenes futuristische Paris. Dabei gibt es mehrere ausführliche Szenen. Die Ankunft am Flughafen. Hulot, der ein wichtiges Treffen mit einem M. Giffard hat, doch durch allerlei Zufälle verpassen sie sich immer wieder. Sowohl Touristen als auch Hulot geraten auf eine Messe. Der Höhepunkt und quasi die gesamte zweite Filmhälfte spielen in einem Nobelrestaurant.

Dialoge sind meist schwer verständliches französisch-englisches (gelegentlich deutsches) Genuschel. Szenen in einem Appartementkomplex filmt Tati gar von der Straße aus, so dass wir gar nichts mehr verstehen, schafft allerdings eine Reihe gelungener Gags aus der scheinbaren Interaktion zweier getrennter Wohnungen. Und treffen sich Hulot und Giffard dann spät am Abend endlich zufällig auf der Straße, blendet der Film auf eine Baustellenszene um.

Nun aber stehe ich vor einem Problem. Man kann die Hintergründe von ‚Playtime‘ erklären. Man kann Tatis Modernismuskritik beschreiben, das bewusste Fehlen einer stringenten Handlung. Doch wie beschreibt man wie sich ‚Playtime‘ anfühlt? Kennt Ihr diesen Versuch, in dem Wissenschaftler Probanden ein Video zeigen, in dem sich mehrere Leute einen Ball zuwerfen? Die Probanden erhalten den Auftrag die Anzahl der Ballwürfe zu zählen. Am Ende werden sie gefragt, ob ihnen in dem Video etwas Besonderes aufgefallen sei. Den meisten Probanden ist entgangen, dass im Hintergrund ein Mann in einem Gorillakostüm umhergeturnt ist, weil sie auf den Ball fixiert waren. In ‚Playtime‘ hat man das Gefühl zu jedem Zeitpunkt eine ganze Affenbande zu übersehen.

Tati hat in riesigen 70-mm Bildern gedreht. Seine Szenen sind Wimmelbilder, oft gibt es drei oder vier Handlungsebenen in einem Bild, in denen etwas geschieht. Tati spielt dabei mit unseren Erwartungen. Natürlich wird dort etwas Wichtiges geschehen, wo ein Dialog stattfindet, so belanglos und unverständlich er auch ist, oder? Auch weiß er natürlich, dass wir am Anfang nach dem schlaksigen Mann mit dem langen Pfeifenstiel, Hulot, Ausschau halten. Mehrere Doppelgänger lässt er am Flughafen auftauchen. Einem Mann fällt weit im Hintergrund lautstark ein Regenschirm herunter. Hulot? Wer weiß. Auch im weiteren Film bleibt die Verwechslung Hulots ein stetiges Element. Auch mit dem Mangel seiner Mittel weiß Tati noch etwas anzufangen. Bei den späteren Dreharbeiten konnte er sich nicht mehr genug Statisten leisten, um alle verglasten Gebäude im Hintergrund zu besetzen. So benutze er lebensgroße Fotografien. Natürlich war ihm klar, dass seine Zuschauer beim Absuchen der Wimmelbilder irgendwann darauf stoßen mussten und machte sich einen Gag daraus. Teilweise platziert er unbewegliche Darsteller bei den Fotografien, die sich dann unvermittelt doch bewegen.

 Die Modernismuskritik Tatis ist unübersehbar. Die Touristen laufen durch die Glasblöcke von Paris machen Fotos die so überall entstehen könnten. Sprichwörtlich überall, denn Torismusplakate für andere Orte werben alle mit denselben Hochhäusern nur einige örtliche Klischees um sie herum drapiert. Auch die „Klischees“, die Sehenswürdigkeiten von Paris, Eiffelturm, Sacre-Coeur oder Triumphbogen tauchen höchstens mal als Reflexionen in einer Glastür auf. Die Touristengruppe begegnet anderen, exakt gleichen Touristengruppen, etwa aus Japan. Die Welt, die Tati hier entwirft ist gleichgemacht. Die griechische Säule ist hier nurmehr ein Mülleimer mit verstecktem Knopf zum öffnen, elegantes(?) Accessoire in der Welt aus Plastik und Glas. Und es ist eine Amerikanisierte Welt. Man geht zum Drugstore oder in die Bar.

Manche wollen in dieser Kritik einen Zorn Tatis gesehen haben. Eine Wut auf das Moderne, auf kulturelle US-Hegemonie. Ich muss sagen, ich sehe das nicht. Hulot ist ganz und gar keine Figur, die sich für Zorn eignet. Er ist ein höflicher, zurückhaltender Mann, der versucht alles richtig zu machen und oft genau dadurch Chaos anrichtet. Nein, das hier ist eher ein leichter Hackentritt für allzu Fortschrittsgläubige. Ein versehentlicher Hackentritt, bien sur, man will ja nicht unhöflich sein. Tati stellt klar, dass man die Welt so sehr vereinheitlichen kann wie man will, solange das chaotischste Element von allen, der Mensch selber, in ihr umgeht, lebt auch der menschliche Geist.

Das Nobelrestaurant am Ende ist derart nobel, dass es noch gebaut wird, als die ersten Gäste eintreffen. Menschenfeindliche Architektur und Pfusch am ach so eleganten Bau drohen zur Katastrophe zu werden. Hulot selbst zertrümmert, versehentlich die gläserne Eingangstür. Der Portier hält nun den Türgriff in die Luft und öffnet den Gästen eine imaginäre Tür. Doch kommen so auch immer mehr „unerwünschte“ Gäste ins Restaurant. Die Innenarchitektur beginnt sich aufzulösen und der menschliche Geist, fröhlich singend und reichlich besoffen, bricht sich letztlich in einer kleinen Revolution Bahn. Dabei kommen sich dann auch der stets auf Abwegen laufende Hulot und die US-Touristin Barbara, die auch von ihrem Reiseführer stets wieder eingefangen werden musste, näher.

Und wenn sich dann am Ende der endlose Verkehr zur Karussellmusik einer Dampforgel durch einen Kreisverkehr dreht, dann ist das für mich nicht das Ende des Films eines zornigen Ewiggestrigen und entschlossenen Antiamerikaners. Es ist ein äußerst elegantes Nasedrehen, ein notwendiges Hinterfragen kaiserlicher Kleider eines freundlichen Mahners. Wenn nicht gar das Entsecken einer Utopie in der Dystopie.

Das Problem des Films war zum einen, dass ihn nicht viele sehen wollten. Die Kritiken überschlugen sich. Alle sahen Tatis Kritik, manche entdeckten seine Utopie in der Dystopie. Doch ist es vor allem die Form, die begeisterte. Truffaut beschrieb den Film als von einem anderen Planeten, wo man andere Filme dreht. Und es ist korrekt, es ist Tatis absolut eigene Vision, eine Vision, die Filmemacher so unterschiedlich wie Loriot und David Lynch inspiriert hat. Aber es ist eben auch, wenn schon kein Experimentalfilm, so doch ein filmisches Experiment. Mit verdammt hohem Budget. Und dann kam dazu, dass Tati sich strikt weigerte andere Kopien als 70-mm Kopien zu ziehen. Einem Maler sage man doch auch nicht, er solle sein Bild nochmal halb so groß malen, empörte der sich. Naja und es gab halt nicht so viele Kinos die mit 70-mm Projektoren ausgestattet waren. Der Flop war ein Stück weit auch hausgemacht.

Lohnt sich ‚Playtime‘ heute noch? Da es nichts gibt, was dem Film auch nur ähnlich wäre, ist die Antwort ein offensichtliches Ja. Gerade heute in Zeiten des qualitativen Heimmediums (auch wenn es natürlich keine 70-mm Kopien sind) kann man dem Film das häufige Ansehen, das er verdient zukommen lassen. Auch wenn das ein Film ist, den ich unbedingt mindestens einmal auf der großen Leinwand sehen will. Tati hat hier ein Loblied auf den Stolperer statt den entschlossenen Schritt geschaffen, auf den ungeraden Weg. Vielleicht war es so nur folgerichtig, dass der Film floppen musste. Vielleicht hätte es ihn seiner Wirkung beraubt, wäre er ein Riesenerfolg geworden. Und doch hätte ich diesen Riesenerfolg Tati nicht nur gegönnt, ich frage mich, was wir sonst noch von ihm zu sehen bekommen hätten.

‚Die Ferien des Monsieur Hulot‘ (1953)

Film, es lohnt sich das immer wieder einmal zu wiederholen, ist ein visuelles Medium. In seiner Frühzeit des nachträglich so getauften Stummfilms galt das noch mehr als heute. Genau daher rührte wohl auch der Erfolg des Films: er war für jeden, unabhängig von Sprache oder Kultur verständlich, nur durch hinschauen. Immigranten in die USA wurde lange Zeit auf Ellis Island ein Stummfilm über das Leben in ihrer neuen Heimat gezeigt. Der war für jeden nachvollziehbar, ob aus Irland, Ungarn oder Arabien. Und aus dieser Universalität rührt auch der große, frühe Erfolg der Slapstick-Komödie. Wenn ein großer, starker Mistkerl einem deutlich kleineren Mann in den Hintern treten will, der sich aber im exakt richtigen Moment bückt um eine Münze aufzuheben und der Mistkerl von seinem eigenen Schwung getrieben eine Treppe hinunterkugelt, dann ist das universell verständlich und universell komisch. In der Mitte des letzten Jahrhunderts war der Tonfilm dann schon lange Standard. Slapstick war weitgehend verschwunden und Film schon lange nicht mehr universell, sondern der jeweiligen Sprache und Kultur angepasst.

Bis ein Franzose namens Jaques Tati auftauchte. Der war ein Individualist mit einer sehr eigenen Einstellung zu Film und Fortschritt. 1947 hatte er mit ‚Tatis Schützenfest‘ den ersten französischen Farbfilm gedreht… und veröffentlichte ihn in schwarz-weiß. 1953 sollte zur Geburtsstunde seiner bekanntesten Schöpfung werden, des Monsieur Hulot. Eine Stummfilmfigur von ihm selbst verkörpert, quasi dialoglos, langgliedrig und ungelenk, mit Hut und langer Pfeife als Erkennungsmerkmale. Er verkörperte Tatis stille Zivilisationskritik, das leise, slapstickhafte Zweifeln an Technik und Fortschritt. Doch zunächst einmal wollte er einfach nur Ferien machen.

Die Handlung des Films hier nacherzählen zu wollen ist weitgehend sinnfrei, ist sie doch nicht sonderlich stringent und ähnelt eher einer Reihe von Skizzen und Schnappschüssen, in denen Hulot mit den anderen Feriengästen eines sonnigen, französischen Badeortes interagiert. Auf Dialoge verzichtet Tati dabei weitgehend und wenn sie doch vorkommen, werden sie meist durch Umgebungsgeräusche übertönt oder Tati blendet sie einfach im fertigen Film aus. Hulot kommt mit seinem Wagen in den Badeort. Das allein unterscheidet ihn noch nicht von den anderen Gästen, die auch mit dem Auto oder dem überfüllten Zug ankommen. Doch ist Hulots Fahrzeug sicherlich auch 1953 schon 30 Jahre alt. Es hustet, sprotzt und kracht und klappert die Straßen hinunter und das leiseste an ihm ist die Hupe, die nicht einmal einen dösenden Hund aus dem Weg vertreibt. Wenn sich dann der viel zu große Hulot Origami-artig aus dem winzigen Fahrzeug entfaltet, dann hält mit ihm liebenswürdiges Chaos Einzug in die heile Urlaubswelt.

Die 50er waren der Beginn des Massentourismus. Hier hat er noch nicht vollständig Einzug gehalten, hier ist es noch der Hotelchef persönlich, der beim Mittagessen aus der Leibesfülle des Gastes die Dicke der Bratenscheibe entscheidet. Und doch macht der Film klar, dies sind Kleinbürger, für die ein Urlaub durchaus etwas Besonderes ist. Daraus leitet Tati jedoch keineswegs einen elitären, herablassenden Blick ab. Tatsächlich lacht er sehr wenig über das Personal seines Films, er lacht und lässt uns Zuschauer vielmehr mit ihnen lachen. Am auffälligsten ist das vielleicht an der Figur des deutschen Feriengastes. Mit seinem dicken Bauch und noch dickeren Brillengläsern wirkt er wie eine Karikatur und wenn sein Name auch noch „Schmutz“ lautet, dann lässt das revanchistische Dresche für den 1953 keineswegs vergessenen Zweiten Weltkrieg befürchten. Was Tati dann aber mit dieser Figur tut ist erstaunlich. Er zeigt die Schattenseite des deutschen Wirtschaftswunders, wenn Schmutz andauernd geschäftlich am Telefon verlangt wird und daher nicht an Freizeitaktivitäten, wie einem Picknick, teilnehmen kann. Tatsächlich macht Schmutz als einziger Gast obsessiv Fotos, als wolle er seinen Urlaub vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, wenn er endlich einmal Zeit hat, nachgenießen. Damit fühlt er sich wie ein geradezu erschreckend modernes Element in diesem Film an.

Der Rest des Films besteht daraus, dass sich Hulot mit seinem Unverständnis gesellschaftlicher Gepflogenheiten, aber auch seiner Hilfsbereitschaft in bizarr-komische Situationen bringt. So ist es für ihn völlig klar, dass man einer Dame mit einem schweren Gepäckstück hilft. Für ihn heißt das dann aber auch einer Frau bei einer Wanderung (an der er nicht teilnehmen wollte) ihren Rucksack hinterher zu schleppen (und letztlich in einem Saufgelage zu landen). Oder er möchte einem Mann helfen seinen verpassten Bus zu erreichen und verfolgt den mit seiner alten Karre, mit dem Effekt, dass beide auf einer Beerdigung landen, wo Hulot sein mit Blättern verklebter Ersatzreifen als Trauerkranz abgenommen wird. Dazu kommen exakt inszenierte Slapstickszenen, etwa eine, in der Hulot ein Boot streicht und die Brandung seinen Farbeimer in wunderbar getimten Intervallen vor- und zurückbewegt.

Ich habe eine von Tati 1978 überarbeitete ca. 89 Minuten lange Version gesehen. Die ursprüngliche Fassung soll 114 Minuten gelaufen sein. Ohne diese zu kennen, behaupte ich die kürzere ist die bessere, denn aufgrund der fehlenden Zentralhandlung läuft der Film gegen Ende Gefahr die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer zu verlieren. Selbst wenn er mit einem Knalleffekt endet, wenn Hulot versehentlich ein ganzes Feuerwerk abbrennt und sich selbst (und Tati tatsächlich) dabei die Nase versengt. Auch wirken manche soundtechnischen Entscheidungen verstörend, wenn eine Tür etwa mit einem erkennbar künstlichen Geräusch unterlegt wird, oder in einer Szene Charaktere erkennbar sprechen oder sogar rufen, jedoch nur die Umgebungsgeräusche zu hören sind. Das hatte allerdings 1953 sicherlich bereits die gleiche Wirkung und war von Tati exakt so gewollt.

In meiner Kindheit kannte ich Hulot nicht. Keine Ahnung, ob seine Filme nicht gezeigt wurden, oder ich sie einfach verpasst habe. Als Slapstick-Freund hätte ich sie zweifellos gemocht. Den Höhepunkt seines Erfolges erreichte Tati übrigens mit dem nächsten Hulot Film ‚Mon Oncle‘ (1957), der gar den Fremdsprachen-Oscar gewann. Doch als er für das Riesenprojekt ‚Tatis herrliche Zeiten‘ zehn Jahre später einen ganzen modernistischen Pariser Stadtteil bauen ließ, in dem sein Antiheld sich verirren konnte, verhob er sich, trotz herausragender Kritiken, in einer Weise finanziell von der er sich nie erholen sollte.

Hulot hat dennoch unauslöschliche Spuren in der europäischen Komik hinterlassen. Von Rowan Atkinsons britischem Sonderling „Mr. Bean“ etwa lässt sich eine schnurgerade genealogische Linie zu Hulot ziehen. Etwas schwieriger wird das bei Loriot, weil der erstens keinen einen, zentralen Charakter verkörpert hat und zweitens Dialoge immer ein wesentliches Element seines Humors waren. Doch war er auch dem körperlichen Humor nie ganz abgeneigt und viel davon bestand darin, dass seine schlacksig-langbeinigen Charaktere durch zu vollgeplüschte 70er Jahre-Wohnzimmer tölpelten. Sein Klassiker „das Bild hängt schief“ ist gar direkt von einer Szene aus ‚Die Ferien des M. Hulot‘ inspiriert (er hat sie aber nicht „geklaut“, wie man im Internet gerne liest). Und fast alle seine Charaktere verzweifelten an richtigen Umgangsformen und gesellschaftlichen Normen. Und richteten durch den Versuch das Richtige zu tun immer nur noch mehr Chaos an. Auch bei Monty Python lassen sich Hulot Einflüsse ausmachen (der „Ministry of Silly Walks“ Sketch etwa), doch vor allem bei John Cleese kommt, nicht zuletzt ob der ähnlichen Physis, oft ein ähnlicher Humor zum tragen (man könnte sagen ‚Fawlty Towers‘ ist eine weit bösartigere Version der ‚Ferien‘).

Und doch wusste keiner von ihnen die visuellen Stärken des Mediums Film auf so kreative Weise zu verwenden wie Tati. Chaplin und Keaton befanden sich zu ihrer Hochzeit in einem inoffiziellen Wettstreit, wer von ihnen mit den wenigsten Dialogkarten in seinen Stummfilmen auskäme. Hulot hätte ihnen vermutlich erklärt, dass sämtliche Dialoge überflüssiger Ballast sind. Aber Türenquietschen, das kann lustig sein!

‚Die Ferien des Monsieur Hulot‘ ist ein hervorragender Einstieg in das zu Unrecht ein wenig vergessene Werk Tatis. Wenn der einem nicht gefällt, dann kann man es dabei belassen. Wenn man ihn aber mag, dann gibt es eine überschaubare aber gelungene und definitiv einzigartige Filmografie, die einen noch erwartet.