Vorbemerkung: manchmal ist es eindeutig, wenn ein Film um ein zentrales Bild herum konstruiert wurde. Bespricht man den Film, kommt man kaum umhin dieses Bild zu erwähnen. Blöderweise wäre genau das in diesem Fall ein ziemlicher Spoiler und der Film ist dafür noch etwas zu neu. Also werde ich jenes zentrale Bild nur in einem extra als SPOILER markiertem Absatz ansprechen und ansonsten drumherumreden.
James Wan ist ein Regisseur, den ich nach meiner eigenen Einschätzung eigentlich lieben müsste. Der Mann hat den Studio-Horror mit Budget wiederbelebt. Alles was er anfasst wird zu Gold, sei es ‚Saw‘, ‚Conjuring‘ oder ‚Insidious‘. Aber ich muss gestehen, ich mochte noch nie einen Film von ihm wirklich gern. Der erste ‚Saw‘ ist gelungen für das, was er ist. Aber die anschließende „torture porn“-Welle hat jegliches Wohlwollen für den Film bei mir ausgelöscht. ‚Conjuring‘ ist eine ziemlich widerliche Hagiografie auf zwei reichlich miese Betrüger. ‚Insidious‘ war nahe dran mir zu gefallen, allerdings knirschte der Film unter den Widersprüchen eines atmosphärischen Spukhaus-Films und dem Irrsinn einer Parallelwelt, bevölkert von Darth Mauls, die als Freddy Krüger verkleidet sind. Wenn Wan doch nur diesem Irrsinn einfach mal freien Lauf lassen könnte… Gute Nachricht, er tut genau das in ‚Malignant‘. Und wie!
Die schwangere Madison Lake-Mitchell (Annabelle Wallis) lebt mit ihrem gewalttätigen Ehemann Derek (Jake Abel) in Seattle. Derek wirft Madison vor, für mehrere vorhergegangene Fehlgeburten verantwortlich zu sein und attackiert sie körperlich. In der darauffolgenden Nacht wird er von einem unbekannten Eindringling ermordet, laut Ermittlern mit einer Gewalteinwirkung, wie man sie sonst nur bei Verkehrsunfällen erlebt. Madison ist schockiert, erhält aber Unterstützung von ihrer Schwester Sydney (Maddy Hasson). Doch bald mordet der Unbekannte weiter, eine Reihe Ärzte fallen ihm zum Opfer. Doch damit nicht genug, Madison empfängt Visionen der Gewalttaten. Eine Tatsache, die sie für die ermittelnden Polizisten Regina Moss (Michole Briana White) und Kekoa Shaw (Goerge Young), beide eher Rationalisten als Fox Mulder, zur Verdächtigen macht. Tatsächlich beginnt sich Madison an Dinge aus einer längst vergangenen Zeit zu erinnern. Dinge, die sie bald an sich selbst zweifeln lassen.
Meine obige Zusammenfassung gibt in keiner Weise die vollständig überdrehte Atmosphäre des Films wieder. Wan erzählt hier mit der Subtilität eines Vorschlaghammers auf den kleinen Zeh. Wir brauchen fünf Sekunden, um zu erkennen, dass Derek ein Dreckskerl ist. 20 weitere Sekunden später stufen wir ihn auf der Drecksack-Skala deutlich weiter nach oben. Zwei Minuten später ist er tot. Das ist ein Erzähltempo, das der Film natürlich nicht über seine ganze Laufzeit halten kann, aber er bleibt über lange Zeit erstaunlich atemlos für einen Horrorfilm.
Was natürlich bedeutet, dass Atmosphäre möglichst unmittelbar aufgebaut werden muss. Und so dräuen unvermittelt gothische Gebäude im modernen Seattle, ist jede Nacht entweder von Nebel verhangen oder von Gewitter erhellt. Und wenn wir einen chirurgischen Preis in Form einer langen goldenen Klinge(!) auf einem Kaminsims sehen, nun, sagen wir Anton Tschechow wär vermutlich glücklich, wie schnell der seiner allzu offensichtlichen Bestimmung zugeführt wird.
Das klingt jetzt vermutlich wie ein Film, der überhaupt nicht funktioniert und das wird vermutlich für manche auch der Fall sein, doch für mich funktioniert es ganz wunderbar. Denn Wan erschafft hier eine Welt, die seltsam ihre eigene Künstlichkeit unterstreicht. Da sind Häuser, deren Äußeres offensichtlich nicht mit ihrem Innenleben übereinstimmt, wenn man ein Auto parkt, dann selbstverständlich am äußersten Rand einer Klippe, einfach weil sie da ist. Und wenn Madison festgenommen wird, dann ist die Wartezelle randvoll gefüllt mit Frauen, die wie Klischees aus 70er und 80er Jahren Exploitation Filmen aussehen, angeführt von Zoe Bell mit dem alpha und omega aller Vokuhilas.
Der Film fühlt sich an wie das gewollte Gegenteil von Horror eines großen Studios. Dort weiß man zumeist in welche Richtung es gehen wird und weiß, dass man in sicheren Händen ist. Wie bei einer Achterbahn in einem großen Freizeitpark. Dieser Film fühlt sich an, als wäre er von einem Frank Henenlotter erdacht, man weiß nie was als nächstes geschehen wird, eine Stunde in den Film hinein, weiß man immer noch nicht in welche Richtung es gehen wird. Das wirkt wie eine Achterbahn, die über Nacht von drei zumindest leicht angetrunkenen Handwerkern nach Augenmaß zusammengezimmert wurde. Daher ist nun Zeit für den oben erwähnten
SPOILER SPOILER SPOILER
Also, Gabriel ist Madisons craniopager, parasitischer Zwilling und ein zutiefst bösartiger Mörder. Und er kann, nachdem er ihre Föten getötet und deren Stärke übernommen hat(!), gelegentlich die Kontrolle über Madisons Körper übernehmen, allerdings ist sein Gesicht auf ihrem Hinterkopf, weswegen sie sich „rückwärts“ bewegt, wenn er sich vorwärts bewegt. Und für Madison wirkt das Geschehen später wie Visionen. Diese Idee, des sich rückwärts bewegenden Mörders im Frauenkörper, mit dem monströsen Gesicht hinter ihrer Frisur, war sicherlich das Urbild des Films, um das herum alles konstruiert wurde. Und wenn sich „Gabriel“ zum Ende hin durch eine Polizeistation mordet, wie vor ihm wohl zuletzt höchstens der Terminator, dann ist das nicht nur eine durch und durch irrsinnige Szene (mit dem besten filmischen Stuhlwurf seit der Fraser Mumie!!!), sondern vor allem auch, dank der Rückwärtsbewegung, eine beeindruckende Stuntleistung von Tänzerin Marina Mazepa, die die Rolle der „besessenen“ Madison übernimmt. Tatsächlich wird der Film so fast zu einer Variation auf Frank Henenlotters ‚Basket Case‘, denn wie Belial dort, will sich Gabriel vor allem den an Ärzten rächen, die eher nicht ganz ethisch gehandelt haben, als sie ihn „ausgeschaltet“ haben. Hier kommen wir denn auch zu meinem Problem mit dem Film, aber das kann und sollte man spoilerfrei besprechen, also
SPOILER ENDE SPOILER ENDE SPOILER ENDE
Ich habe oben den Vergleich zu Henenlotter gezogen, doch wo der billigste B-Movies produzierte, hat Wan New Line hierfür 40 Millionen Dollar aus dem Kreuz gelabert. Für einen absolut irrsinnigen Film, was die ganze Sache noch einmal ein ganzes Stück lustiger macht. Der Mann für absolut Sicherheit, der einst das ‚Conjuring‘ Fließband gestartet hat, von dem nun Gruselpuppen, Gruselnonnen oder Grusel-wasauchimmers laufen, hat einen komplett eigenwilligen Film gemacht. Einen, der, man glaubt es kaum, gar Verlust eingefahren hat. All das macht mir den Film hochsympathisch. Ein Problem habe ich allerdings dennoch.
Bei Henenlotter konnte man stets die Sympathie für das Groteske fühlen. Henenlotter war auf der Seite der Außenseiter, nicht zuletzt, weil er selbst ein Außenseiter war. Wans Sympathien liegen allzu eindeutig beim „Normalen“. Und dadurch geht er für mich ein Stück zu weit jenen Weg, den Horrorfilme nur allzu gern gehen. Im psychisch und physisch Kranken, im „Hässlichen“ das Böse entdecken zu wollen. Das betrifft nicht nur den zentralen Killer des Films, sondern auch die oben erwähnten grotesken Frauen in der Gefängniszelle, die sich sofort böswillig gegen die „normale“ Madison zusammenrotten.
Herr Wan und ich sind uns philosophisch also vermutlich immer noch nicht sonderlich nah. Allerdings ist das hier weniger zentral als etwa bei einem ‚Conjuring‘. Und vor allem ist sein Film derart unterhaltsam und derart wild, dass ich absolut bereit bin, darüber hinwegzusehen.
Ich empfehle den Film auf jeden Fall. Er wird nicht jedem gefallen, aber auf jeden Fall ist er ein Film, den man gesehen haben muss, um zu glauben, dass hierfür ein Studio 40 Millionen gezahlt hat, wohl mit der Hoffnung, das Geld wieder reinzukriegen. Ich habe oft Henenlotter erwähnt, aber die Inspiration hier waren nicht nur amerikanische B-Movies der 70er und 80er, sondern sicherlich auch italienischer Giallo. Man könnte sogar eine gewisse (gewollte) Selbstparodie Wans vermuten.