Seit den 70er Jahren versucht das experimentierfreudige Pop/Rock Duo Sparks, bestehend aus den kalifornischen Brüdern Ron und Russel Mael, ein Filmmusical zu realisieren (Edgar Wright hat letztes Jahr mit ‚The Sparks Brothers‘ eine Doku über sie veröffentlicht). Zuerst mit Jacques Tati, später in den 90ern mit Tim Burton. Geklappt hat es nicht. Auch ihr neuester Versuch hatte beste Chancen zu scheitern, haben sie ihre Idee doch ausgerechnet an Leos Carax geschickt, der seit 1991 und ‚Die Liebenden von Pont Neuf‘ im Durchschnitt nur alle 10 Jahre einen neuen Film veröffentlicht. Und so liefert der Franzose Carax hier nicht nur sein erstes Musical, sondern auch seinen ersten englischsprachigen Film ab. Man könnte sagen, hier treffen zwei künstlerische Welten aufeinander, und das wäre sehr passend, geht es doch auch im Film um zwei künstlerische Welten, die aufeinander treffen.
Henry McHenry (Adam Driver) ist ein Stand-up Comedian. In seinem provokativen Programm „The Ape Of God“ gibt er sich bewusst misanthropisch, schreit seine Verachtung für sein Publikum heraus, kurz, gibt sich größte Mühe „Anti-Kultur“ zu präsentieren und beendet sein Programm mit einem inszenierten Anschlag auf sein Leben. Ann Defrasnoux (Marion Cotillard) ist eine gefeierte Opernsängerin. Die feinfühlige Wahrhaftigkeit in der Darstellung ihrer Charaktere und deren Tode, macht sie zu einem gefeierten Star der Hochkultur. Kein Wunder, dass die Klatschpresse förmlich explodiert, als die beiden ihre Beziehung öffentlich machen. Doch was soll’s, solange sie gemeinsam glücklich sind. Alsbald wird Annette geboren. Doch mit der Geburt des Kindes gehen die Karrieren der beiden Künstler plötzlich in scharf unterschiedliche Richtungen. Henry überreizt seine Provokation, wenn er auf der Bühne vorspielt, wie er seine Frau ermordet und niemand will ihn mehr sehen. Anns Kariere erreicht gleichzeitig neue Höhen. Doch dann geschieht ein Unglück und Ann stirbt. Als sich herausstellt, dass Baby Annette mit besonderen Begabungen geboren wurde, sieht Henry eine letzte Chance auf Ruhm gekommen.
Carax erforscht mit seinem neuesten Film ähnliche Themen wie mit ‚Holy Motors‘, seinem wilden, episodenhaften Trip durch Paris. Wahnhafter Durst nach Bestätigung, Ruhm und Erfolg, der Umgang damit und vor allem mit deren Verlust. Das Genre des Musicals nimmt er dabei sehr ernst, nicht zuletzt, indem er fast vollständig auf gesprochene Passagen verzichtet. Dies bedeutet aber auch, dass er über fast zweieinhalb Stunden immer neue visuelle Interpretationen für die eingängigen Melodien von Sparks finden muss. Und genau hier glänzen Carax und Kamerafrau Caroline Champetier. Sie spielen mit der Künstlichkeit vieler Settings, stellen sie direkt der Realität gegenüber. Arbeiten mit Parallelmontagen und sich überlagernden Bildern. Wechseln von intimen Nahaufnahmen zu wilden Massenszenen, vermischen das Private und das Öffentliche. Ann wechselt von der Opernbühne in einen echten Wald und zurück. Das Audiovisuelle des Films ist nichts weniger als magnetisch. Und das ist dringend nötig, denn jetzt gilt es über Annette selbst zu sprechen.
Annette ist eine Puppe. Ohne dass irgendeiner der Charaktere diese doch recht erstaunliche Tatsache je zur Kenntnis nehmen würde. Ich hatte ernsthaft überlegt, ob ich das hier überhaupt erwähnen sollte. Denn ich wusste es vorher nicht, weil ich bewusst allen Informationen über den Film ausgewichen bin. Und, ich sag mal, das kam überraschend. Nun muss man bei Carax auf Überraschungen gefasst sein, aber ich gebe zu, ich brauchte eine ganze Weile, bis ich verstand, was das sollte. Warum besetzt Carax seinen namensgebenden Charakter mit einer merkwürdigen Puppe, die dank ihrer roten Haare in manchen Szenen verdammt nochmal wie Chucky aussieht? Ist es, weil Baby Annette Dinge tun muss, die ein echtes Baby/Kleinkind nicht könnte und kein Budget für CGI da war? Ist das einer von diesen postmodernen Scherzen, die ich nie kapiere? Es hat eine Weile gedauert, bis ich es verstanden habe, doch es wird klar. Und nein, der Grund für die Besetzung mit einer Puppe ist weder zynisch, noch ein Gag. Es lohnt sich Carax das Vertrauen und die Geduld entgegenzubringen. Denn zum Finale hin führt er sämtliche teilweise inkongruent scheinenden Elemente des Films zusammen, einschließlich Annette selbst. Und seine Aussage ist eine deutliche, eine gute und eine wichtige. Im Zentrum des Films steht nämlich letztendlich eine arg problembehaftete Vater-Tochter-Beziehung. In gewisser Weise wirft George Franjus ‚Augen ohne Gesicht‘ seinen Schatten also auch auf diesen Film, genau wie schon auf ‚Holy Motors‘.
Adam Driver stellt hier seine extreme darstellerische Bandbreite unter Beweis. Von der sympathischen Nerdigkeit aus ‚Paterson‘ bis zum körperlichen Dräuen eines Star Wars Schurken. Sein Henry ist ein Mann, der seine Misanthropie zum Schutz- und sogar Aushängeschild gemacht hat, aber nicht davor gefeit ist, wieder und wieder in (selbst-)zerstörerische Muster zu verfallen. Auch mit den besten Vorsätzen hat er am Ende immer nur die wichtigste Person vor Augen: sich selbst. Cotillards Ann ist schwerer greifbar. Sie scheint noch weniger losgelöst von ihrer Kunst zu existieren als Henry. Wirkt oft genug fast ätherisch. Cotillard gibt ihr Feinfühligkeit aber auch Zerbrechlichkeit. Wenn sie Henry später als Rachedämon heimsucht, scheint der fast eher wie etwas, was aus Henrys zerstörerischem Geist erwächst. Driver und Cotillard sind hervorragend in diesem Film, das ist schön, aber keine große Überraschung. Positiv überrascht hat mich allerdings wie gut ‚Big Bang Theory‘ Darsteller Simon Helberg war. Sein Dirigent (einen Namen bekommt er nicht) ist keine ganz leichte Rolle. Verzweifelt und sich selbst erniedrigend, findet er sich schließlich auch in einem selbstzerstörenden Kreislauf wieder, wie es die oft um ihn kreisende Kamera schon andeutet.
‚Annette‘ ist kein Film für jeden. Das ist eine extrem nutzlose Aussage, ich weiß. Wem sich die Zehennägel jedes Mal aufrollen, wenn jemand in einem Musical zu singen beginnt, dann bleibt dem Film lieber gleich fern. Sonst rollen die bis unters Knie. Ich vermute auch, ich kann es niemandem übel nehmen, der irgendwo während der gut 140 Minuten aufgibt, ich kann nicht bestreiten, dass der Film in der Mitte ein paar Längen hat. Ich bin aber der Meinung, dass das Finale den gesamten Film noch einmal ein ganzes Stück höher hebt. Nicht das die originelle Inszenierung, die darstellerischen Leistungen und die eingängigen Melodien nicht an sich schon genug wären. Für mich jedenfalls schlägt der Film Carax ‚Holy Motors‘ und wird zu meinem neuen Lieblingsfilm von ihm. Und zu einem der besten, die ich dieses Jahr bislang gesehen habe.