‚Moonlight‘ (2016)

Ändert ein Oscar, egal für wie bedeutungslos man ihn halten mag, die Art wie man einen Film schaut? Schaut man einen Oscargewinner immer mit einem kritischeren Auge, ob er den Preis denn auch verdient habe? Ich hätte das ehrlich gesagt immer verneint und ich fand ‚Moonlight‘, als ich ihn das erste Mal ein paar Monate nach der Oscarverleihung 2017 gesehen habe einen durchaus guten Film und einen würdigen Gewinner. Aber als ich ihn jetzt, ein paar Jahre später mit keinem Gedanken mehr an Oscars als das geschaut habe was er letztlich ist, ein kleiner Indie-Arthouse-Film, hat er mich allerdings geradezu umgehauen. Hatte ich also wieder einmal unrecht. Aber um mich oder Oscars soll es hier nicht gehen, sondern um den Film.

Der Film ist in drei distinkte Kapitel unterteilt, die alle verschiedene Lebensabschnitte von Hauptcharakter Chiron zeigen. Im ersten Kapitel „Little“ findet der afro-kubanische Drogendealer Juan (Mahershala Ali) den kleinen Chiron (Alex Hibbert), Spitzname Little, der sich in einem Crackhouse in Miami vor Schulschlägern versteckt. Die beiden freunden sich an und Juan wird zu einer Art Vaterfigur für den zurückgezogenen, stillen Chiron, der bei seiner alleinerziehenden, drogenabhängigen Mutter Paula (Naomie Harris) lebt.
Im zweiten Kapitel „Chiron“ sehen wir den Hauptcharakter (Ashton Sanders) zum Teenager herangewachsen. Nicht mehr „little“ sondern im Gegenteil ziemlich schlacksig, ist er immer noch sehr still und immer noch beliebtes Ziel von Bullies. Er hat seine erste sexuelle Erfahrung mit Schulkamerad Kevin (Jharrel Jerome), die sehr schnell von einem traumatischen Ereignis gefolgt wird.
Im dritten Kapitel „Black“ sehen wir Chiron (Trevante Rhodes) als Drogendealer in seinen 20ern. Von Miami nach Atlanta gezogen hat er sich ein hartes Image, einen Panzer aus Bling und Muskeln zugelegt. Ein Panzer, der sehr schnell Risse bekommt, als er einen Anruf aus einem vergangenen Leben erhält.

Der Film basiert auf einem nie veröffentlichten Theaterstück von Tarell Alvin McCraney. Im Stück würde man je 24 Stunden aus den drei Lebensabschnitten sehen, die alle parallel auf der Bühne stattfinden. Dass es sich bei allen drei gezeigten Charakteren um dieselbe Person handelt, würde erst im Laufe des Stücks deutlich. Die Herkunft von einem Theaterstück ist ‚Moonlight‘ quasi nicht mehr anzumerken. Absolut fühlt er sich wie ein Film an. Barry Jenkins betont jedoch, dass hier autobiografische Elemente beider Männer verarbeitet wurden. So ist etwa McCraney schwul, Jenkins nicht. Die Mutter Paula ist ein Amalgam ihrer beider Mütter und jede Szene mit ihr beruht auf einer realen Begebenheit, die einer von beiden so erlebt hat.

Paula ist auch ein guter Punkt, um eine Diskussion über den Film zu beginnen. Naomie Harris wollte die Rolle eigentlich nicht übernehmen, weil sie sich geschworen hatte nie das Klischee der Crack-süchtigen, schwarzen Prostituierten zu spielen. Tatsächlich aber wird sie hier nie wirklich ein Klischee, ebenso wenig wie Drogendealer Juan. Nirgends wird das deutlicher als in einer Szene, wo der um Chiron besorgte Juan, die in ihrem Auto Crack rauchende Paula konfrontiert… keine fünf Meter entfernt von der Ecke, an der einer seiner Jungs ihr die Droge verkauft hat. Vor allem aber ist Jenkins Film nie wirklich ein „Problemfilm“. Er ist ein Charakterstück durch und durch und alles, jeder Moment, ist darauf ausgelegt uns Chirons Charakter erfahrbarer zu machen.

Jenkins erzählt denn auch wunderbar, mit warmen Farben im ersten Kapitel, wie trotz zerrütteter Familie noch die ganze Welt für Chiron offen scheint. Im zweiten Kapitel gewinnen dann die kalten Farben, die grüns und blaus die Oberhand, wenn das Ringen um die schwule Identität, die unauslöschliche Bedeutung von Rasse und Klasse Chiron geradezu zu erdrücken scheinen. Das dritte Kapitel ist so ausgeleuchtet, dass es die Oberflächen betont und so ist auch Chirons Leben zu einer Präsentation der Oberflächen geworden. Zu einem wahren Klischee aus aufgemotzter Dealerkarre, goldenen Grillz und aggressivem Hiphop. Er ist ein Klischee geworden, weil das einfacher ist als er selbst zu sein. Er hat diese Form angenommen, weil es die ist, in die die Welt ihn zwingen will. Das lässt natürlich Gedanken an Juan aufkommen und die Frage, ob der wohl auch einmal ein „Little“ gewesen ist. Das daher seine Empathie für den Jungen kam. Und was uns Jenkins über Generationen sagen will. Wasser zeigt Jenkins hierbei jedenfalls als ein Element des Wandels. Der Ozean und sei es nur seine Brise oder das Geräusch der Wellen, steht für positive Wandlung, Wasser eingemauert in Waschbecken oder Badewannen für eine Wandlung zum Schlechteren.

Vor allem aber erzählt Jenkins durch die Auslassung. Chiron ist ein schweigsamer Charakter, der mehr dadurch sagt, dass er nichts sagt. Aber vieles passiert auch zwischen den Schnitten. Oder dort wo die Kamera nicht hinschaut (aber durchaus die Charaktere). Vieles wird angedeutet und nie wirklich ausgesprochen, steht doch als zentrales, unausgesprochenes Geheimnis seine Sexualität in Chirons Leben. Und so ist ‚Moonlight‘ ein Coming-of-Age/Coming-Out Film, er ist ein Ghettofilm, doch genau wie er seinen Charakteren niemals erlaubt zu Klischees zu werden (und wenn doch, dann eben aus einem bestimmten Grund), so erfüllt er selbst auch nie die Klischees dieser Genres.

Für den Hauptcharakter war Jenkins sehr darauf bedacht, drei weitgehend unbekannte Darsteller zu besetzen, um nicht vom Charakter selbst abzulenken. Das ist ganz hervorragend gelungen. Er hat mit Alex Hibbert einen sehr ausdrucksstarken Kinderdarsteller gefunden, mit Ashton Sanders einen Teenager, der glaubhaft das Gewicht der Welt auf seinen schmalen Schultern zu tragen scheint und mit Trevante Rhodes einen Mann, der sowohl den harten Hund spielen kann, als auch eine glaubhafte, erwachsene Version der anderen Charaktere. Und genau diese Kontinuität ist ebenso wichtig, wie gelungen. Zu keinem Moment denkt man auch nur darüber nach, es mit drei Darstellern zu tun zu haben, sondern nur mit einem Charakter. Dies wird auch dadurch unterstützt, dass etwa Naomie Harris mit nur minimalem Make-Up Paula als eine Frau in drei sehr unterschiedlichen Phasen ihres Lebens darstellt.

Wieder einmal komme ich zurück, zu dem berühmten Roger Ebert Zitat, der Film als eine Maschine bezeichnete, die Empathie schafft. Das ist richtig und ich würde ergänzen, dass diese Maschine Wahrhaftigkeit, Authentizität als Treibstoff benötigt. Authentisch dargestellt kann ein solcher Film in jedem Empathie für eine schwule, afroamerikanische Jugend in Miami erwecken, ganz egal, wo die Zuschauer herkommen oder was ihr Hintergrund ist. Es ist gerade eines der seltsamen Paradoxa des Mediums Films, dass das Abhobeln aller Ecken und Kanten, das Sicherstellen, dass keine Zielgruppe irgendein Problem mit dem Film haben könnte, dem vor allem Blockbuster unterzogen werden, diese empathisch gerade weniger effektiv machen.

Und so bin ich derzeit sehr gespannt darauf, endlich Jenkins ‚Beale Street‘ nachzuholen und schaue mit einiger Sorge darauf, dass er für den ultimativen Kantenhobler Disney ein („Realfilm“) ‚König der Löwen‘ Prequel inszenieren wird.

‚Shape of Water‘ (2017)

Und heute aus der Kategorie „Filmlichter holt Filme viel zu spät nach“: Guillermo Del Toros vierfacher Oscargewinner von 2017, ‚Shape of Water‘. Eine gute Ausrede, warum es so lange gedauert hat, habe ich nicht, bin ich doch üblicherweise ein großer Freund von seiner Arbeit. Aber was soll’s. aufgeschoben ist nicht aufgehoben und hier ist meine Besprechung.

In den frühen 60er Jahren arbeitet die stumme Elisa (Sally Hawkins) nachts als Putzfrau in einem geheimen Regierungslabor in Baltimore. Ihre einzigen Freunde sind ihr Nachbar, der alternde homosexuelle Plakatzeichner Giles (Richard Jenkins) und ihre Kollegin, die Afroamerikanerin Zelda (Octavia Spencer), die meist das Reden für beide übernimmt. Eines Nachts bringt Colonel Strickland (Michael Shannon) ein neues „Asset“ ins Labor. Einen Amphibienmenschen (Doug Jones) aus dem Amazonas, von dessen Physiologie man sich Vorteile im Rennen in den Weltraum, dem derzeitigen Austragungsort des Kalten Krieges, erhofft. Elisa fühlt sofort eine Seelenverwandtschaft zu der, von Strickland übel misshandelten, Kreatur. Sie bringt ihm hartgekochte Eier mit, spielt ihm Musik vor und beginnt via Gebärdensprache mit ihm zu kommunizieren. Als sie erfährt, dass eine Vivisektion an dem Wesen vorgenommen werden soll, ist für sie klar, dass sie und ihre Freunde ihn befreien müssen. Unerwartete Hilfe erhalten sie dabei vom Wissenschaftler Hoffstetler (Michael Stuhlbarg).

‚Shape of Water‘ ist vermutlich Del Toros bester Film seit ‚Pans Labyrinth‘. Tatsächlich lassen sich Ähnlichkeiten erkennen, in der Vermischung des Realismus und des Fantastischen. Doch anders als bei ‚Pans Labyrinth‘, wo die Übergänge meist genau und erkennbar waren, sind sie hier fließend. Tatsächlich „fließt“ der Film zwischen allerlei Genres hin und her: Romanze, Kalter Kriegs Thriller, „Creature Feature“, Märchenfilm, Musical und allgemeiner Hommage an den klassischen Hollywoodfilm. Abwesend hingegen sind die Horrorelemente, die in ‚Pans Labyrinth‘ noch ein zentraler Bestandteil waren.

„Fließend“ ist ohnehin eine gute Beschreibung für beinahe alles im Film, passend zum zentralen Symbol des Wassers. Sei es Alexandre Desplats Filmmusik, die oft genug an murmelnde Bächlein, oder Meeresbrandung erinnert und häufig dazu dient der stummen Elisa eine Stimme zu geben. Oder sei es die flüssige Bewegung der Kamera des Dänen Dan Laustsen, die über wie unter Wasser schwerelos zu gleiten scheint. Er verbindet so nicht nur Genres, die eigentlich nicht zueinander passen sollten, sondern auch Orte, die der Film widersprüchlich erscheinen lässt. Da sind die Apartments von Elisa und Giles, ihres sparsam eingerichtet, seines vollgestopft mit Erinnerungen, über einem bröckelnden Kinopalast, die alle in grün-blauen Farben erstrahlen und selbst im 60er Jahre Setting schon aus der Zeit gefallen wirken. Demgegenüber steht der Brutalismus des Geheimlabors mit seinen grau-weißen Farben, den rohen Beton- und Metallflächen und kalten Linoleumböden. Das Haus von Strickland und das Apartment von Hoffstetler hingegen erscheinen in gänzlich naturalistischem Licht und für die Zeit passendem Dekor.

Vor allem aber ist der Film, wie die meisten von Del Toros Filmen, eine Außenseiterballade. Ohne das es je direkt ausgesprochen würde sind es die Außenseiter der Gesellschaft, die Stumme, der Schwule, die Schwarze, der Kommunist die hier ein arrogantes, rassistisches, faschistisches, chauvinistisches Arschloch besiegen. Ein Arschloch, gilt es zu erwähnen, das, wäre der Film zur Zeit seiner Handlung entstanden, fraglos der Held gewesen wäre. Unter seinen wunderschönen Bildern und der ungewöhnlichen Romanze hat Del Toro also einen Befreiungsfilm versteckt, der eine Solidarität der Schwachen beschwört und zum Erfolg führt.

Filmisch kann man sicherlich Verwandtschaften ausmachen. Die gesättigten Farben und die exzentrische Romanze lassen direkt an die fabelhafte Amélie denken, wobei Del Toro seine Elisa direkt in der ersten Szene, durch eine angedeutete Selbstbefriedigung, mehr zur Erwachsenen macht, als das ätherisch-kindliche Geschöpf der Amélie. Der Film evoziert fraglos ‚Die Schöne und das Biest‘, Cocteau ebenso wie Disney. Und die Kreatur selbst ist irgendwo zwischen ‚Der Schrecken vom Amazonas‘ und Del Toros eigenem Ape Sapien aus den ‚Hellboy‘ Filmen. Allerdings liegt der Fokus hier weit weniger auf dem „Schrecken“ und mehr auf dem „Sapien“. Der Amphibienmensch ist kein Monster, er ist eine Kreatur, ein intelligentes Lebewesen. Und wenn es später im Film zum Sex zwischen dem Amphibienmensch und Elisa kommt, dann fühlt sich das nicht fragwürdig oder seltsam, sondern schön und folgerichtig an.

Sally Hawkins trägt den Film beeindruckend und ohne Worte auf ihren Schultern. Der Sprache beraubt (wortwörtlich, als Waisenkind wurden ihrem Charakter die Stimmbänder durchtrennt) interagiert sie mit Gebärdensprache, vor allem aber mit roher und direkter Emotionalität und einer Empathie, die über jede Sprache hinweg funktioniert. Obwohl sicher ein gewisses Maß des Lobes den Anzugbauern und Tricktechnikern gebührt, ist Doug Jones ein Kreaturendarsteller, der einem Andy Serkis in nichts nachsteht und gemeinsam schaffen er und die Techniker hier einen Charakter, den man so schnell nicht vergessen wird. Michael Shannon ist am besten, wenn er Arschlöcher spielt. Und hier spielt er ein derart vollkommenes Arschloch, dass es einem beinahe kindliche Freude bereitet, wenn jemand eine Beule in sein neues Auto fährt, doch scheint gelegentlich ein Schmerz in seinem Blick, der tiefere Gründe hinter diesem Mount Everest der Arschlocherie vermuten lässt. Richard Jenkins und Octavia Spencer füllen ihre Nebenrollen in ihren kurzen Auftritten mit so viel Hintergrund und Leben, dass es eine Freude ist.

Ich hoffe es ist klar geworden, dass ich den Film sehr mochte. Manchmal liegen die Oscars dann wohl also doch richtig. ‚Pans Labyrinth‘ mag mein Favorit aus Guillermo Del Toros Filmografie bleiben, doch kommt dieser Film ziemlich nahe dran.

‚La La Land‘ (2016) – „Not a Spark in Sight“

Ich mag Musicals, ich mag Damien Chazelles ‚Whiplash‘, ich mag Filme die (wenn in diesem Fall auch nur am Rande) sich mit Filmemachen beschäftigen. Es ist also bestenfalls seltsam, dass es so lange gedauert hat, bis ich endlich zu ‚La La Land‘ gekommen bin. Jeder schien den Film zu mögen, dann gewann er bei den Oscars und plötzlich wurden Stimmen laut, dass er so toll doch nicht sei. Das kommt mir bekannt vor. Bei ‚Chicago‘ (2002) war es ganz ähnlich und den finde ich zumindest unterhaltsam. Also, mal sehen wie ‚La La Land‘ bei mir abschneidet (ich könnte die Songzeile in der Überschrift schließlich auch nur ganz zufällig gewählt haben…).

Mia (Emma Stone) und Sebastian (Ryan Gosling) begegnen sich das erste Mal am Ende eines Verkehrsstaus in Los Angeles. Diese erste Begegnung besteht aus aggressivem Hupen und erhobenen Mittelfingern. Einige weitere zufällige Begegnungen sind nötig, damit Funken fliegen können. Mia ist angehende Schauspielerin die sich durch die zermürbenden Mühlen erfolgloser Vorsprechen quält. Sebastian ist Musiker und Jazzfanatiker, der allerlei Musik-Gelegenheitsjobs annehmen muss. Sein eigentlicher Traum ist aber ein eigener Jazzclub. Mia hingegen beginnt an einem eigenen Ein-Frau-Theaterstück zu arbeiten. Werden die beiden, nicht eben zu Kompromissen bereiten, Charaktere, ihre professionellen Träume und ihre Beziehung vereinbaren können?

Der Film beginnt mit einer großartigen Szene: ein Stau auf einem gigantischen Freeway-Overpass irgendwo in L.A.. Plötzlich beginnen Menschen, alt und jung, aus den Autos zu steigen, zu singen und zu tanzen. Eine Explosion von Bewegung und Farbe gegen das stehende Grau der Blechlawine mit einer Kamera, die hierhin und dorthin saust. Eine Reminiszenz und Brücke zu den Musicals der 50er, als hätten die niemals aufgehört. Es sollte die beste Szene des Films bleiben.

Das liegt keineswegs daran, dass Chazelles Inszenierung nachließe. Was er in Sachen Farbgebung und Bildkomposition abliefert ist durchaus beeindruckend. Auch die die Gesangs- und Tanznummern bleiben gut inszeniert, den Höhepunkt bietet vielleicht eine Sequenz im Griffith Observatorium, die im wahrsten Sinne des Wortes die Schwerkraft außer Kraft setzt. Nein das Problem liegt weder an Technik noch Inszenierung, sondern an anderer Stelle. Etwa an der Tatsache, dass der Film gelegentlich beinahe betrunken an seiner eigenen Nostalgie wirkt. Nicht nur auf Musicals wird Bezug genommen, nein das ganze „goldene Hollywood“ bekommt den Bauch gepinselt, von ‚Casablanca‘ bis ‚… denn sie wissen nicht, was sie tun‘. Das kann gelegentlich etwas anstrengen. Weit größer ist aber das Problem beim „Gefühl“, bei den Charakteren.

Chazelle ist interessiert an Charakteren mit einer absolut zielstrebigen kreativen Ambition (man könnte wohl auch Besessenheit sagen) und was das mit ihrem Leben macht. In ‚Whiplash‘ war das Miles Tellers Charakter, der sich die Finger blutig trommelt, hier sind es sowohl Stone, die sich wieder und wieder in die seelenvernichtenden Vorsprechen stürzt und Gosling, der Musik spielen muss, die er nicht als reinen Jazz betrachtet. Das Problem für mich ist hier, dass die Charaktere nicht genug Charaktere sind. Sie sind Chiffren, Symbole, die nur im Moment der Szene zu existieren scheinen. Insbesondere über Mia erfahren wir absolut nichts, was über ihre Ambition hinausgehen würde. Sie schreibt, produziert, inszeniert ein Ein-Frau-Theaterstück. Wir sehen, wie sie ein paar Worte schreibt und ein paar Szenen später die Nachwirkungen des Stücks. Wir sehen sie zu Hause bei ihrer Familie und erfahren nichts über das Familienleben. Alles was nicht direkt mit ihrer Ambition oder ihrer Beziehung mit Sebastian zu tun hat wird rigoros ignoriert.

Sebastian selbst kommt etwas besser weg. In einer Szene taucht seine Schwester auf, die uns ein wenig Exposition gibt und dann aus dem Film verschwindet. Aber Sebastian redet viel, sehr viel. Fast immer über Jazz. Dabei gleitet der Film gelegentlich ins Komische ab, anscheinend ohne es zu merken: Mia sagt, bei ihr zu Hause würde Jazz nur als Hintergrundberieselung für Gespräche auf Parties verwendet. Seb ist empört und schleppt sie in einen Jazzclub. Hier erklärt er lang und breit den Jazz. Und eine Band spielt dazu – als Hintergrundberieselung. Als Gag wird das dabei nicht inszeniert. Dadurch, dass die Charaktere eben nur wie Symbole wirken, wurde zumindest mir der Film vor allem sehr, sehr langweilig.

Es spricht sicherlich für Emma Stones Talent, dass es ihr beinahe gelingt aus diesem absoluten Nichts etwas zu machen. In einigen Szenen wirkt sie lebendiger und wahrhaftiger als alles um sie herum. Und ihre Vorsprechen sind kleine Meisterwerke der Schauspielerei. Überrascht hat mich hingegen Ryan Gosling. Dem habe ich hier ja schon häufiger 50er Jahre Hollywoodstar-Qualitäten unterstellt, so müsste er gerade in diesem Film eigentlich wie in seinem Element sein. Doch bleibt sein Sebastian absolut flach. Er legt einige Manierismen an den Tag, die einfach nur merkwürdig aufgesetzt wirken, bei diesem Charakter, den man problemlos auch durch ein Jazzlexikon ersetzen könnte. Beide sind sicherlich nicht Fred Astaire und Ginger Rogers was Tanz angeht, aber das ist völlig in Ordnung, sie sollen ja auch nur ganz „normale“ Menschen darstellen. Ihr Gesang ist ebenfalls durchgehend mindestens passabel.

Ach ja, das erinnert mich an etwas, das ist ja ein Musicalfilm. Wie sind also die Songs? Wenn ich ganz ehrlich bin, ich weiß es nicht. Während ich das schreibe ist es vier Tage her, dass ich den Film gesehen habe. Würde mir jemand eine Pistole an den Kopf halten und mich zwingen einen der Songs aus dem Film zu summen, müsste ich mich wohl meinem Schicksal ergeben. Während ich sie gehört habe waren sie völlig in Ordnung, aber hängengeblieben ist absolut nichts. Das kann an meiner Unmusikalität liegen, doch normalerweise bleiben wenigstens ein oder zwei Songs eines guten Musicalfilms bei mir hängen.

Was bleibt ist ein sehr hübscher, sehr langweiliger Film mit einer Hauptdarstellerin, die das Beste aus dem Gegebenen macht und einem talentierten Hauptdarsteller, der völlig im Material untergeht. Mit Songs, die zumindest ich mir nicht merken kann. Nein, ich kann die Begeisterung leider nicht nachvollziehen und das ist wirklich schade.

Newslichter Extrablatt: die Oscars werden „kurz“ und „populär“

Das erste Extrablatt des Newslichters steht ganz im Zeichen von Hollywoods liebstem Goldjungen. Ich bin ja mehr oder weniger einer von den Leuten, denen der Oscar ziemlich egal ist. Letztlich feiert sich die Filmindustrie da halt mal besonders auffällig selbst. Und vor allem bin ich der Meinung (und Ihr könnt gerne so tun, als würde ich das in Euer Poesiealbum schreiben, während Ihr mit den Augen rollt und halbherzig versucht es mir wegzuziehen), dass Kunst kein Wettkampf sein sollte. Aber für die Gewinner hat ein Oscar natürlich schon meist positive Folgen. Mehr und größere Filme sind die Folge. „Mit Oscargewinner XY“ macht sich im Trailer und auf dem Poster halt besser bei zukünftigen Projekten. Ganz bedeutungslos ist er also nicht.

Doch haben die Oscars ein Problem: immer weniger Leute interessieren sich für sie. Denn zu allererst sind die Oscars erst einmal eine (beinahe) weltweit übertragene Fernsehshow. Und deren Publikum geht seit Jahren zurück. In diesem Jahr gar um ganz besonders schmerzhafte 20 Prozent. Und ausgerechnet die jungen Leute bleiben als Zuschauer aus. Dem muss natürlich gegengesteuert werden und dafür hat die Academy of Motion Picture Arts and Sciences nun einige Neuerungen verkündet. Weiterlesen

Gestern Gesehen: ‚Under The Shadow‘ (2016)

Das ist mal ein Debut: der Erstlingsfilm des Exil-Iraners Babak Anvari war als britischer Kandidat für den Fremdsprachen-Oscar angedacht. Denn trotz komplexer Zusammensetzung des minimalen Budgets von Geldgebern aus Jordanien, Katar und eben Großbritannien gilt der Film als britische Produktion. Zur Nominierung ist es zwar nicht gekommen aber für einen ersten Film (und dann noch einen Low Budget Horrorfilm) eine sehr erstaunliche Leistung. Stellt sich die Frage, ob der Film wirklich so gut ist.

Mitte der 80er erreicht der Iran-Irak-Krieg eine neue Phase. Die irakische Seite nimmt gezielt iranische Städte, darunter auch die Hauptstadt Teheran, unter Raketenbeschuss. Vor diesem Hintergrund erfährt Shideh (Narges Rashidi), dass sie ihr lange unterbrochenes Medizinstudium nicht wieder aufnehmen kann, da sie zur Zeit der Revolution in „linke Umtriebe“ verwickelt war. Dann wird auch noch Shidehs Mann als Arzt zum Militärdienst eingezogen. Der möchte Shideh und die gemeinsame, kleine Tochter Dorsa (Avin Manshadi) eigentlich zu seinen Eltern aufs Land schicken. Doch in einem Versuch einen wenig Selbstbestimmung zu behalten besteht Shideh darauf in ihrem teheranischen  Apartmenthaus zu bleiben. Wenige Tage später schlägt eine irakische Blindgänger-Rakete durchs Dach. Für die abergläubischen Nachbarn steht schnell fest, dass die Waffe einen bösartigen Dschinn (im Sinne einer dämonischen Wesenheit, nix mit drei Wünschen) ins Haus gebracht hat. Shideh hält das für Unsinn, doch als Dorsa mit fremden Personen in der Wohnung zu sprechen beginnt, kommen Zweifel in ihr auf.

‚Under The Shadow‘ ist ein übernatürlicher Horrorfilm. Das ist glaube ich ganz wichtig in dieser Deutlichkeit zu sagen, denn Anvari gelingt es meisterhaft  den Bogen vom Drama hin zum Dschinnenspuk so elegant, so unauffällig zu gestalten, dass man eine ganze Weile braucht, bis man sich klarmacht, was eigentlich passiert. Denn der Film spart von Anfang an nicht mit Schrecken. Die sind allerdings noch alles andere als übernatürlich. Shideh wird, als Frau, als Mensch zweiter Klasse gesehen, dass sie auch noch, auf Seiten der Intelektuellen, in die Revolution verwickelt war, macht ihre Situation nicht besser. Nicht einmal ihr Mann kann dafür Verständnis aufbringen. Das Leben in einem Kriegsgebiet, die ständige Sorge um Ehemann, Tochter und das eigene Leben. Es sind persönliche, gesellschaftliche und politische Ängste die Shideh umtreiben. So steht sie von Anfang an im Schatten. Im Schatten der Ayatollahs, im Schatten ihre Mannes, im Schatten ihrer Mutter und nicht zuletzt im Schatten ihrer eigenen Depression. Mit dem Dschinn kommt dann noch ein weiteres kulturelles Bruchstück hinzu, ein mythologisches Wesen, dass ihr den letzten Rückzugsort streitig macht: ihre eigene Wohnung.

Filmisch unterstreicht Anvari diese Entwicklung äußerst geschickt. Die Außenwelt von Teheran wirkt von Anfang an bedrohlich und ist in unübersichtlichen Perspektiven gefilmt, wenn die Kamera sich nicht ohnehin auf Shideh fixiert und alles andere wie Fremdkörper wirken lässt. Die Wohnung hingegen ist ein, auch für den Zuschauer schnell nachzuvollziehender, Rückzugsort. Der Film stellt sicher, dass wir wissen, wo z.B. die Küche in Bezug aufs Kinderzimmer ist. Wie das Wohnzimmer aufgeteilt ist, in dem Shideh zu ihren illegalen Aerobic Videos turnt. In der zweiten Hälfte heben neue, verwirrende Kameraperspektiven diese sicher geglaubte Ordnung perfide wieder auf, der Rückzugsort wird bedrohlich, undurchschaubar.

Und Rationalistin Shideh hat größte Probleme mit der offenkundig übernatürlichen Bedrohung umzugehen. Als sie bei einer Freundin nach einem Buch über Dschinne fragt gibt die ihr zwar eines, sagt ihr jedoch direkt, dass es ein anthropologisches Werk sei und sie die gewünschten Antworten dort nicht finden wird (das ist sicherlich ebenfalls wieder symbolisch zu sehen, für die Hilflosigkeit mit der die intellektuelle Elite dem religiösen Furor der islamischen Revolution gegenüberstand). So kommt es in der zweiten Hälfte des Filmes beinahe zu einer Rollenumkehrung zwischen Mutter und Tochter, die ihren Höhepunkt in einer Szene erreicht, in der Shideh in einer hilflosen Geste Dorsas Kinderzimmer verwüstet, während die fassungslos im Türrahmen steht.

Narges Rashidi als Shideh liefert in diesem Film eine beachtliche Vorstellung ab. Sie gibt die komplexe Mixtur ihres Charakters aus viel zu lange heruntergeschlucktem Zorn, Versagensängsten, ganz „alltäglichen“ Todesängsten eines Kriegsgebietes und der ständigen, stillen Drohung des Aufgebens, des Triumphes der Depression aber auch einer stillen Würde und eines eisernen Willens mit großem Geschick wieder. Ihr wichtigster Widerpart hierbei ist Avin Manshadi als Tochter Dorsa, die ebenfalls eine, gerade für eine Kinderdarstellerin, sehr gute Leistung abliefert.

‚Under The Shadow‘ ist ein großartiger Film, der sich nahtlos in die Reihe hervorragender Horrorfilme der letzten Jahre einreiht. Am ehesten vergleichbar ist er sicherlich mit Jennifer Kents ‚Der Babadook‘, auch wenn hier die Metapher des Monsters deutlich komplexer ist, als das bei dem australischen Film der Fall war. Auch Elemente aus der rigiden Glaubensgemeinschaft von ‚The Witch‘ lassen sich hier wiederentdecken, wenn auch in einen anderen kulturellen Kontext gebracht.

Jeder Freund gepflegten Horrors sollte sich diesen Film auf gar keinen Fall entgehen lassen, ich würde ihn sogar Leuten empfehlen, die normalerweise wenig mit Horror am Hute haben. Anvaris Inszenierung ist derart geschickt und elegant, dass man glatt vergessen könnte, dass man gerade einen Horrorfilm sieht. Bis er einen daran erinnert, dass in den Händen eines Könners, ein Fetzen Baufolie gruseliger sein kann als jedes CGI-Monster.

Der Film scheint bisher nur auf einer – vollständig Extras-freien – UK-DVD erschienen zu sein. Die ist dafür immerhin preiswert (bei Amazon während ich dies schreibe unter 5€). Ob ihr Euch die bestellt oder auf eine vernünftige Veröffentlichung wartet, bitte lasst Euch ‚Under The Shadow‘ nicht entgehen!