‚Aufbruch zum Mond‘ (2018)

In diesem Sommer, am 21. Juli, jährte sich die Mondlandung der Apollo 11 Mission zum fünfzigsten Mal. Neben einigen Dokumentarfilmen widmete sich auch Damien Chazelles ‚Aufbruch zum Mond‘ diesem Thema. Nachdem ich mit der letzten Zusammenarbeit zwischen Darsteller Ryan Gosling und Chazelle, ‚La La Land‘, im Gegensatz zu vielen anderen nicht so viel anfangen konnte, war ich dennoch gespannt auf diesen Film. Umso überraschter war ich festzustellen, dass es in dem Film nicht wirklich um die Weltraummission ging…

1961 ist Neil Armstrong (Gosling) Testpilot, der Flüge aus der Atmosphäre der Erde heraus unternimmt. Als seine und Ehefrau Janets (Claire Foy) gemeinsame Tochter Karen noch vor ihrem dritten Geburtstag an einem Hirntumor stirbt, bewirbt sich der trauernde Armstrong erfolgreich bei der NASA, die für ihr Gemini Projekt Piloten mit Ingenieursausbildung sucht. Die Familie zieht mit ihren beiden Söhnen in ein „Astronauten-Wohngebiet“ bei Houston. Mit der Gemini 8 Mission erhält Armstrong 1966 sein erstes Kommando und nimmt ein Koppelungsmanöver mit einer unbemannten Agena Rakete vor. Das erste solche Manöver im Weltraum. Um ihn herum sterben immer mehr Astronauten bei Unfällen der, aufgrund der Konkurrenz zu den Sowjets, nicht immer ideal vorbereiteten Flüge. Trotz eines für ihn fast tödlich endenden, irdischen Testflugs mit der Mondlandefähre, bereiten sich Armstrong, Buzz Aldrin (Corey Stoll) und Mike Collins (Lukas Haas) 1969 auf die Apollo 11 Mission vor. Den großen Sprung für die Menschheit. Der bemannten Landung auf dem Mond.

Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass sich der letzte Satz meiner Einleitung und die Inhaltsangabe des Films deutlich widersprechen. Natürlich geht es um die Weltraummission. Aber es geht auch und vor allem um Trauer und ihre Verarbeitung. Gosling gibt seinen Armstrong als geradezu schmerzhaft introvertierten Menschen. Der Tod seiner kleinen Tochter führt ihn an den Abgrund und es scheint ihm beinahe unmöglich zu werden noch jemanden an sich heranzulassen. Nachdem er mehrere Kollegen schroff abgewiesen hat, fällt es immer wieder Claire Foys Janet zu auch dem Zuschauer Zugang zu diesem schwierigen Menschen zu geben. Insbesondere in einer Szene vor dem Mondflug, wo sie Neil geradezu zwingen muss, mit seinen beiden Söhnen zu sprechen, da er vielleicht nicht zurückkommen wird. Ein Gespräch, das er dann ausführt wie eine Pressekonferenz. Für diesen introvertierten Menschen wird die ultimative Abwendung von der Menschheit zur Chance seinen Schmerz zu überwinden und neue Bande zu knüpfen. Es wird von einem PR Erfolg im Kalten Krieg, von einem wissenschaftlichen Durchbruch zu einer hochpersönlichen Queste und dabei fast universell.

Deshalb fehlt dem Film auch beinahe jeglicher Hurra-Patriotismus, der normalerweise mit dem Thema verbunden ist (man erinnere sich an den Twitter-Trotzanfall des Boss Babies-in-Chief, weil das Setzen der US Flagge auf dem Mond nicht inszeniert wird). Wenn im Film Stimmen von außerhalb des Projektes zu hören sind, dann sind das durchaus auch einmal kritische. Ein Fernsehinterview mit Autor Kurt Vonnegut etwa, der fragt ob die Millionen für das Raumprogramm nicht in sozialen Projekten besser investiert wären. Oder Gil Scott-Herons Jazz Poem „Whitey On The Moon“, das auf soziale und rassistische Ungerechtigkeit der „fortschrittlichen“ USA hinweist.

Das soll aber nicht heißen, dass der Film in irgendeiner Weise die persönlichen Leistungen der Astronauten anzweifeln würde. Im Gegenteil ich glaube, ich habe den an Irrsinn grenzenden Mut, der notwendig ist, um in eine Blechdose mit weniger Rechenkapazität als ein Game Boy, die an das obere Ende einer gigantischen Explosion gedübelt ist zu steigen noch nie so intensiv inszeniert erlebt wie hier. Die Kapseln scheinen sich fast selbst auseinanderrütteln zu wollen. Chazelle hält uns dabei stets auf Augenhöhe mit den Insassen. Die Majestät des Weltalls erleben wir wie sie fast nur durch die kleinen Sichtfenster. Und sie wirkt dennoch. Ausnahmen gibt es, etwa das Dockmanöver zwischen Agena und Gemini 8, das aus einer Außenansicht inszeniert ist und das Komponist Justin Hurwitz mit einem, an Kubricks ‚2001‘ gemahnenden Walzer unterlegt. Allerdings wird das schnell ironisch gebrochen, wenn sich das Docking-Konstrukt durch eine defekte Düse in eine lebensbedrohliche Drehbewegung versetzt. Einen Todeswalzer sozusagen. Spätestens sämtliche Szenen des Mondfluges sind dann aber absolut packende Science Fiction. Nur dass sie eben keine Science Fiction sind!

Justin Hurwitz unterlegt diese Bilder mit einer Vermischung aus orchestraler Musik und elektronischen Tönen von Theremin und Moog Synthesizer. Aufgrund der Letztgenannten sollte man nun aber nicht erwarten, dass er sich dabei an den typischen Soundtracks von SciFi der 50er und 60er Jahre orientiert. Die Sounduntermalung ist zumeist sehr zurückhaltend und atmosphärisch. So sehr, dass der oben erwähnte Walzermoment klar hervorsticht.

Die darstellerischen Leistungen von Ryan Gosling und Claire Foy sind sicherlich ebenfalls viel zu zurückhaltend, um je bei irgendwelchen Preisverleihungen  ernsthaft in Betracht gezogen zu werden. Für diesen Film sind sie jedoch perfekt. Gosling transportiert den Schmerz über den Tod seiner Tochter beinahe physisch an den Zuschauer, ohne dass der Film dafür auf dramatische Nahaufnahmen zurückgreifen müsste. Foy hingegen vermittelt die stille Verzweiflung der Frau, die einerseits ihren Mann, der sich ihr immer mehr zu entfremden scheint, unterstützen will, andererseits sieht, wie immer mehr ihrer Nachbarinnen zu jungen Witwen werden. Wenn man dem Film etwas vorwerfen könnte, dann vielleicht, dass alle anderen Charaktere neben dem Ehepaar Armstrong etwas blass bleiben. Buzz Aldrin kommt vielleicht für 5 Minuten in dem Film vor und sagt ebenso viele Sätze. Das reicht, um ihn als jemanden zu zeichnen, der in kleiner Runde gern Dinge ausspricht, die niemand hören will, in der Öffentlichkeit aber weit gewandter ist als der introvertierte Armstrong. Beinahe alle Charaktere sind solche, durchaus funktionierenden aber notwendigerweise groben Skizzen. Der Originaltitel ‚First Man‘ ist da präziser, worum es in dem Film geht.

Ich denke, es ist deutlich geworden, dass ich den Film sehr, sehr mochte. Manchem wird er zu langsam sein, viele Szenen zu voll von technischem Jargon und insgesamt zu unspektakulär für sein Thema. Mir hat genau das gefallen. Die Gegenüberstellung der absoluten Ruhe und Professionalität der Astronauten in außergewöhnlichen Stressmomenten und der Betonung der Tatsache, dass natürlich auch sie nur Menschen sind, die nicht von rein rationalen Anforderungen getrieben sind. Wenn ich ehrlich bin, dann hat mir der Film so gut gefallen, dass ich mich fast frage, ob ich ‚La La Land‘ falsch eingeschätzt habe…

‚La La Land‘ (2016) – „Not a Spark in Sight“

Ich mag Musicals, ich mag Damien Chazelles ‚Whiplash‘, ich mag Filme die (wenn in diesem Fall auch nur am Rande) sich mit Filmemachen beschäftigen. Es ist also bestenfalls seltsam, dass es so lange gedauert hat, bis ich endlich zu ‚La La Land‘ gekommen bin. Jeder schien den Film zu mögen, dann gewann er bei den Oscars und plötzlich wurden Stimmen laut, dass er so toll doch nicht sei. Das kommt mir bekannt vor. Bei ‚Chicago‘ (2002) war es ganz ähnlich und den finde ich zumindest unterhaltsam. Also, mal sehen wie ‚La La Land‘ bei mir abschneidet (ich könnte die Songzeile in der Überschrift schließlich auch nur ganz zufällig gewählt haben…).

Mia (Emma Stone) und Sebastian (Ryan Gosling) begegnen sich das erste Mal am Ende eines Verkehrsstaus in Los Angeles. Diese erste Begegnung besteht aus aggressivem Hupen und erhobenen Mittelfingern. Einige weitere zufällige Begegnungen sind nötig, damit Funken fliegen können. Mia ist angehende Schauspielerin die sich durch die zermürbenden Mühlen erfolgloser Vorsprechen quält. Sebastian ist Musiker und Jazzfanatiker, der allerlei Musik-Gelegenheitsjobs annehmen muss. Sein eigentlicher Traum ist aber ein eigener Jazzclub. Mia hingegen beginnt an einem eigenen Ein-Frau-Theaterstück zu arbeiten. Werden die beiden, nicht eben zu Kompromissen bereiten, Charaktere, ihre professionellen Träume und ihre Beziehung vereinbaren können?

Der Film beginnt mit einer großartigen Szene: ein Stau auf einem gigantischen Freeway-Overpass irgendwo in L.A.. Plötzlich beginnen Menschen, alt und jung, aus den Autos zu steigen, zu singen und zu tanzen. Eine Explosion von Bewegung und Farbe gegen das stehende Grau der Blechlawine mit einer Kamera, die hierhin und dorthin saust. Eine Reminiszenz und Brücke zu den Musicals der 50er, als hätten die niemals aufgehört. Es sollte die beste Szene des Films bleiben.

Das liegt keineswegs daran, dass Chazelles Inszenierung nachließe. Was er in Sachen Farbgebung und Bildkomposition abliefert ist durchaus beeindruckend. Auch die die Gesangs- und Tanznummern bleiben gut inszeniert, den Höhepunkt bietet vielleicht eine Sequenz im Griffith Observatorium, die im wahrsten Sinne des Wortes die Schwerkraft außer Kraft setzt. Nein das Problem liegt weder an Technik noch Inszenierung, sondern an anderer Stelle. Etwa an der Tatsache, dass der Film gelegentlich beinahe betrunken an seiner eigenen Nostalgie wirkt. Nicht nur auf Musicals wird Bezug genommen, nein das ganze „goldene Hollywood“ bekommt den Bauch gepinselt, von ‚Casablanca‘ bis ‚… denn sie wissen nicht, was sie tun‘. Das kann gelegentlich etwas anstrengen. Weit größer ist aber das Problem beim „Gefühl“, bei den Charakteren.

Chazelle ist interessiert an Charakteren mit einer absolut zielstrebigen kreativen Ambition (man könnte wohl auch Besessenheit sagen) und was das mit ihrem Leben macht. In ‚Whiplash‘ war das Miles Tellers Charakter, der sich die Finger blutig trommelt, hier sind es sowohl Stone, die sich wieder und wieder in die seelenvernichtenden Vorsprechen stürzt und Gosling, der Musik spielen muss, die er nicht als reinen Jazz betrachtet. Das Problem für mich ist hier, dass die Charaktere nicht genug Charaktere sind. Sie sind Chiffren, Symbole, die nur im Moment der Szene zu existieren scheinen. Insbesondere über Mia erfahren wir absolut nichts, was über ihre Ambition hinausgehen würde. Sie schreibt, produziert, inszeniert ein Ein-Frau-Theaterstück. Wir sehen, wie sie ein paar Worte schreibt und ein paar Szenen später die Nachwirkungen des Stücks. Wir sehen sie zu Hause bei ihrer Familie und erfahren nichts über das Familienleben. Alles was nicht direkt mit ihrer Ambition oder ihrer Beziehung mit Sebastian zu tun hat wird rigoros ignoriert.

Sebastian selbst kommt etwas besser weg. In einer Szene taucht seine Schwester auf, die uns ein wenig Exposition gibt und dann aus dem Film verschwindet. Aber Sebastian redet viel, sehr viel. Fast immer über Jazz. Dabei gleitet der Film gelegentlich ins Komische ab, anscheinend ohne es zu merken: Mia sagt, bei ihr zu Hause würde Jazz nur als Hintergrundberieselung für Gespräche auf Parties verwendet. Seb ist empört und schleppt sie in einen Jazzclub. Hier erklärt er lang und breit den Jazz. Und eine Band spielt dazu – als Hintergrundberieselung. Als Gag wird das dabei nicht inszeniert. Dadurch, dass die Charaktere eben nur wie Symbole wirken, wurde zumindest mir der Film vor allem sehr, sehr langweilig.

Es spricht sicherlich für Emma Stones Talent, dass es ihr beinahe gelingt aus diesem absoluten Nichts etwas zu machen. In einigen Szenen wirkt sie lebendiger und wahrhaftiger als alles um sie herum. Und ihre Vorsprechen sind kleine Meisterwerke der Schauspielerei. Überrascht hat mich hingegen Ryan Gosling. Dem habe ich hier ja schon häufiger 50er Jahre Hollywoodstar-Qualitäten unterstellt, so müsste er gerade in diesem Film eigentlich wie in seinem Element sein. Doch bleibt sein Sebastian absolut flach. Er legt einige Manierismen an den Tag, die einfach nur merkwürdig aufgesetzt wirken, bei diesem Charakter, den man problemlos auch durch ein Jazzlexikon ersetzen könnte. Beide sind sicherlich nicht Fred Astaire und Ginger Rogers was Tanz angeht, aber das ist völlig in Ordnung, sie sollen ja auch nur ganz „normale“ Menschen darstellen. Ihr Gesang ist ebenfalls durchgehend mindestens passabel.

Ach ja, das erinnert mich an etwas, das ist ja ein Musicalfilm. Wie sind also die Songs? Wenn ich ganz ehrlich bin, ich weiß es nicht. Während ich das schreibe ist es vier Tage her, dass ich den Film gesehen habe. Würde mir jemand eine Pistole an den Kopf halten und mich zwingen einen der Songs aus dem Film zu summen, müsste ich mich wohl meinem Schicksal ergeben. Während ich sie gehört habe waren sie völlig in Ordnung, aber hängengeblieben ist absolut nichts. Das kann an meiner Unmusikalität liegen, doch normalerweise bleiben wenigstens ein oder zwei Songs eines guten Musicalfilms bei mir hängen.

Was bleibt ist ein sehr hübscher, sehr langweiliger Film mit einer Hauptdarstellerin, die das Beste aus dem Gegebenen macht und einem talentierten Hauptdarsteller, der völlig im Material untergeht. Mit Songs, die zumindest ich mir nicht merken kann. Nein, ich kann die Begeisterung leider nicht nachvollziehen und das ist wirklich schade.

‚The Place Beyond The Pines‘ (2013) – epische Intimität

Kann der Spagat eines hochpersönlichen Epos gelingen? Diese Frage scheint Regisseur Derek Cianfrance mit seinem weitreichenden Drama beantworten zu wollen. Meine Antwort wäre, beinahe, aber die Gründe warum es am Ende nicht ganz funktioniert sind andere als ich erwartet hätte. Aber vielleicht sollte ich nicht direkt mit meinem Fazit anfangen, denn dann liest ja Niemand weiter. Fangen wir stattdessen klassisch mit einem Blick auf die Handlung an.

Luke Glanton (Ryan Gosling) ist Stuntmotorradfahrer auf einem Jahrmarkt. Als er herausfindet, dass aus seiner früheren Beziehung mit Romina (Eva Mendes) ein Sohn hervorgegangen ist, verläßt er den Jahrmarkt und besteht darauf sich um den Sohn zu kümmern, obwohl Romina eine neue, glückliche Beziehung hat. Dafür braucht er Geld. Daher überfällt er mit Hilfe seines nicht immer willigen Komplizen Robin (Ben Mendelsohn) eine Reihe von Banken. Avery Cross (Bradley Cooper) steht nominell auf der anderen Seite des Gesetzes. Der Polizist mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und Streben nach Höherem gerät dennoch in die korrupten Machenschaften seines Dezernates hinein.  Der Film beschreibt die Leben und Zusammentreffen der beiden Männer und ihrer Söhne Jason (Dane DeHaan) und AJ (Emory Cohen) in drei distinkten Segmenten über einen Zeitraum von gut 16 Jahren.

Mehr über die Handlung zu verraten wäre dem Film gegenüber unfair, denn Cianfrance weiß durchaus in einigen Momenten zu überraschen. Die Geschichte, die er erzählt ist letztlich eine mythologische. Die Sünden der Väter sind es, die hier eine Generation später zurückkehren und ihre Auswirkung zeigen. Die Inszenierung hingegen ist das Gegenteil von mythologisch. Das hier ist nicht ‚Der Pate‘, der in jedem Moment größer als das Leben selbst sein will, Cianfrance arbeitet mit einer sehr intimen, manchmal schon klaustrophobischen Kamera. Der Film beginnt mit einem langen Trackingshot, der Luke von seinem Trailer über den Jahrmarkt bis in das Zelt, wo er seine Motorradtricks zeigt, begleitet. Wir sollen direkt in den Film hineingezogen werden. Auch bei späteren Verfolgungsjagden etwa, filmt die Kamera aus der Perspektive der Dashboardcams von Polizeiwagen, um den realistischen Effekt zu erhöhen. Zu meinem Erstaunen biss sich dieser „realistische“ Ansatz an den jeweiligen Moment nicht besonders mit dem mythologischen Ansatz der Geschichte, der Begebenheiten und Verwicklungen beinhaltet, die einer rein realistischen Betrachtung vermutlich nicht standhalten würden.

Cianfrance wiederholt häufig  Szenen in neuem Kontext, mit neuen Teilnehmern und damit neuer Bedeutung, zeigt damit das Zyklische der Handlung. Er zeigt aber auch welche Auswirkung Herkunft und Klasse auf die Konsequenzen haben, die dumme, undurchdachte Handlungen haben können, die alle Charaktere in diesem Film treffen. Ich weiß nicht genau wie es ihm gelungen ist, aber sein mythisches Bildnis von Amerika, als Ort hinter dem Pinienwald (die Bedeutung des Mohawk Wortes Schenectady, wo die Handlung spielt), der von Wirtschaftskrise und Ungleichheit gezeichnet ist und der Menschen darin, wirkt vollständig aus einem Guss.

Das Problem liegt an anderer Stelle. Das mittlere Segment des filmischen Triptychons, das Polizist Avery begleitet fühlt sich unglaublich formelhaft an. Die Korruptionsgeschichte hat man genau so schon dutzende Male gesehen. Und wenn dann noch Ray Liotta als korrupter Oberbulle auftaucht und seine drohenden Echsenblicke mit der Routine eines Schauspielers um sich wirft, der genau diese Rolle, dank Jahrzehnte-langer Übung,  aus dem Effeff beherrscht, dann fühlt es sich nur noch bekannter an. Aber auch Avery selbst ist der wohl am widersprüchlichsten gezeichnete Charakter. Er hat einen starken Gerechtigkeitssinn, außer wenn es um sein eigenes Vorankommen geht, dann ist er rücksichtsloser als er sich selbst gegenüber zuzugeben bereit ist. Hier treibt der Film seinen Spagat vielleicht etwas weit.

Es kann aber durchaus auch ein persönliches Problem von mir sein, bin ich doch so ziemlich das Gegenteil eines Fans von Bradley Cooper. Ihm bei irgendetwas zuzusehen hat für mich die gleiche Spannung, wie Farbe beim trocknen. Und genau ihm nehme ich diese komplexe Rolle nicht wirklich ab. Seine blasse Darstellung fällt hier um so mehr auf, da er Gosling gegenübersteht, der seinen tätowierten, blondierten Schausteller/Gangster mit der coolen Verletzlichkeit eines James Dean versieht und einmal mehr wie ein Star aus einer längst vergangenen Hollywood-Ära wirkt. Er trifft exakt den Ton zwischen Mythos und Bodenständigkeit, den der Filmbraucht, ohne dabei, trotz der Ähnlichkeit der Rollen, den Luke zu einer Zweiradversion seines Charakters aus ‚Drive‘ zu machen. Die Söhne, Dane DeHaan als abweisender aber einsamer Außenseiter und Emory Cohen als umherstolzierendes Großmaul sind ebenfalls sehr gut. Auch die Nebendarsteller holen aus ihren Rollen heraus, was geht. Allen voran Ben Mendelsohn, der schäbige Charaktere derzeit wohl besser verkörpern kann, als irgendwer sonst in Hollywood. Aber auch Eva Mendes macht das Beste aus ihrer leidgeprüften Mutterrolle und gibt ihr eine tiefe Stärke, ebenso Mahershala Ali, als ihr neuer Partner, der den in arg wenigen Szenen sehr sympathisch zu machen weiß.

‚The Place Beyond The Pines‘ ist ein unglaublich ambitionierter, erstaunlich weitreichender Film, der dafür letztlich ziemlich gut funktioniert. Ein faszinierender Anfang und ein interessantes Ende umfassen einen vielleicht zu routinierten Mittelteil, wobei auch der das ein oder andere Interessante über den typischen „All-American Hero“ zu sagen hat. Der Film läuft beinahe 150 Minuten und ich würde lügen, würde ich behaupten, dass man gegen Ende nicht jede einzelne davon auch spürt. Doch würde er vermutlich nicht mehr funktionieren, wenn man anfinge ihn zu beschneiden. Somit erhält er von mir eine eingeschränkte Empfehlung, man darf nur nicht herangehen und ein zweites ‚Drive‘ erwarten, was die Werbung gelegentlich suggerierte. Das hier ist mehr griechische Tragödie, ‚Der Pate‘ oder vielleicht am ehestens ‚Les Miserables‘ aber erzählt mit der Bodenständigkeit eines ‚The Wire‘.