Neulich habe ich hier über das Problem geschrieben, dass ich manchmal bei Filmen einfach nicht sagen kann, warum sie mir gefallen. Das gilt natürlich auch für Serien. Und nun habe ich in, für mich, Rekordzeit beide Staffeln der Serie ‚Castle Rock‘ durchgeschaut und kann nicht direkt sagen, was mich so gefesselt hat. Aber vielleicht hilft es dem Erkenntnisgewinn ja, wenn ich hier eine Besprechung schreibe. Und falls ich nebenbei jemanden überzeuge diese ziemlich übersehene Serie zu schauen, umso besser.
Die Idee der Serie ist es, Geschichten zu schreiben, die in Stephen Kings fiktiver Version des Staates Maine spielen. Vor allem eben im namensgebenden Castle Rock, das neben Jerusalem’s Lot und Derry eine der großen Kleinstädte seiner Fiktion ist. Die Staffeln sind dabei weitgehend in sich abgeschlossen und arbeiten mit großteils eigenen Darstellern. Wobei es durchaus Zusammenhänge gibt. Während also J.J. Abrams Name neben dem von King groß auf der Serie prangt, hat er eigentlich wohl wenig damit zu tun und kann schon aufgrund der Struktur hier auch nicht seine Mystery-Box der vielen Fragen ohne Antworten nicht ausspielen.
Man muss kein King Experte sein, um die Serie zu genießen. Es gibt zwar einige Charaktere, die direkt seinen Geschichten entnommen sind und eine Menge Anspielungen, aber die sind meistens nicht handlungsentscheidend. Das Shawshank Gefängnis kennt man aus der Kurzgeschichte „Frühlingserwachen: Pin-up“ bzw. der Verfilmung ‚Die Verurteilten‘ (man kann im Büro des Direktors sogar noch das Einschussloch sehen…). Den hier im Ruhestand befindlichen, ehemaligen Sheriff Pangborn aus ‚In einer kleinen Stadt‘. Jackie Torrance erzählt von ihrem Onkel, der seine Familie in einem Ski Ressort mit einer Axt töten wollte (‚Shining‘). Eine Immobilienmaklerin hat Shining-artige Fähigkeiten. King Kenner können nicken, bei Anspielungen wie „die Sache mit dem Hund“ (‚Cujo‘) oder „Das war damals, kurz nachdem diese Kinder die Leiche gefunden haben.“ (‚Stand by me‘) und sicherlich zahllosen weiteren, die ich übersehen habe/mir nicht bekannt waren.
Die Handlung aber ist sehr eigenständig. In der ersten Staffel begeht Gefängnisdirektor Lacey (Terry O’Quinn) spektakulär Selbstmord. Seine Nachfolgerin ist erschüttert, als sie erfährt, dass Lacey einen ganzen Flügel im „for profit“ Gefängnis Shawshank, nach einem Feuer, über Jahrzehnte hat leer stehen lassen. Bei der Untersuchung des Trakts wird ein unterirdischer Käfig entdeckt, darin ein junger Mann (Bill Skarsgård), der nur den Namen „Henry Deaver“ sagt. Unterlagen gibt es keine über ihn. Wachmann Dennis (Noel Fisher) weiß, dass der Mann nicht Henry Deaver ist, denn Deaver (André Holland) ist das afroamerikanische Adoptivkind des ehemaligen Pfarrers von Castle Rock. Der hat die Stadt lange verlassen und ist nun Strafverteidiger. Der Unbekannte sagt also nicht seinen Namen, sondern verlangt seinen Anwalt. Die Leitung will das Problem des unbekannten Gefangenen vertuschen, geht gar so weit den Mann in eine Zelle mit einem gewalttätigen Nazi zu sperren, in der Hoffnung es löse sich von allein. Dennis hat genug und informiert anonym Deaver. Der kehrt widerwillig in die Stadt seiner Jugend zurück. Als Kind, 1991, ist er mit seinem Adoptivvater im tiefsten Winter in den Wald gegangen. Vater Deaver wurde bald mit schweren Verletzungen gefunden. Henry blieb über 11 Tage verschwunden und wurde schließlich ohne jede Spur von Kälteschaden gefunden. Bald hieß es Henry habe seinen Vater, der seinen Verletzungen erlag, getötet. Und nun muss Henry feststellen, dass seine demenzkranke Mutter (Sissy Spacek) ausgerechnet mit dem ehemaligen Sheriff Pangborn (Scott Glenn) zusammen ist, der damals von Henrys Schuld überzeugt war.
Es ist eine spannende Prämisse, die sehr viel Raum zum Erzählen gibt. Henrys private Probleme vermischen sich mit den Mysterien des Ortes und dem enigmatischen Gefangenen, um den herum stets Unheil zu geschehen scheint. Leider tritt die Serie eine ganze Weile auf der Stelle und es braucht bis zur vierten Folge von zehn bis die Dinge wirklich in Gang kommen. Das dürfte der Grund sein, warum die Serie recht unbekannt ist. Denn bis dahin heißt es durchhalten. Leider ist die Serie bis dahin auch nicht sonderlich gut darin, die Charaktere zu etablieren. Wiederholt allzu oft bereits Gesagtes und tritt auch hier auf der Stelle. Wenn es dann aber losgeht, dann geht es wirklich los! Die zweite Hälfte der ersten Staffel macht ein ordentliches Fass auf und die Qualität der Folgen steigt erheblich.
Der Höhepunkt ist hier eine Folge, aus der Sicht von Henrys Adoptivmutter Ruth. Wir sehen hier Ereignisse früherer Folgen noch einmal, aus ihrer Sicht. Die Folge stellt ihre Demenzkrankheit als eine Losgelöstheit in der Zeit dar. Mittels im Haus verteilter Schachfiguren schafft sie sich Anker, um zu wissen, wann „jetzt“ und nicht „damals“ ist. Es ist eine spannende und berührende Folge und Sissy Spacek ist grandios. Und hier erreicht denn auch der Meta-Kommentar auf King(-Verfilmungen) seinen Höhepunkt, wenn Spacek, Star der ersten King-Verfilmung ‚Carrie‘, mit Skarsgård, dem Pennywise aus der damals aktuellsten Verfilmung ‚ES‘ interagiert.
Was daneben sicherlich im Gedächtnis bleiben wird, ist die Musik. Nicht nur der von Thomas Newman und Chris Westlake komponierte Soundtrack, sondern die Auswahl an Musikstücken. „Twenty Four Hours from Tulsa“ bildet hier eine Thematische Klammer. In der ersten Folge in der Version von Gene Pitney in der letzten von Dusty Springfield. Aber auch sonst kommen Songs von Tom Waits, Roy Orbison oder Instrumentalstücke von Max Richter zum Einsatz. Am Ende fühlt sich die Staffel erstaunlich „rund“ an. Nicht eben mit einem echten Happy End, aber das wäre wohl auch zu viel verlangt.
Ein paar Probleme bleiben. So habe ich mich gefragt, was genau Jackie Torrance (Jane Levy) und ihre eigene Handlung, um ein seltsames Ehepaar, das das Haus des Selbstmörders Lacey gekauft hat, eigentlich soll. Das fühlte sich stets parallel zu eigentlichen Handlung an, auch wenn, etwas bemüht, ein Zusammenhang hergestellt wurde. Als ich dann aus dem Augenwinkel ein Artwork für Staffel 2 sah, eine junge Frau mit Axt, war ich mir sicher, Jackie wäre einfach die Hauptfigur von Staffel 2. Das war aber ein Irrtum. Ich bin mir dennoch fast sicher, dass das geplant war. Habe aber keine Beweise dafür.
Nein, in Staffel 2 kommt jemand anderes nach Castle Rock. Annie Wilkes (Lizzy Caplan) und ihre Teenager-Tochter Joy (Elsie Fisher) sitzen nach einem Unfall mit Totalschaden in der Kleinstadt fest. Zuvor sind sie durch die Staaten gereist. Annie findet überall kurzzeitige Anstellung als Krankenschwester und räumt dann alsbald die die Krankenhausapotheke aus, damit sie an benötigte Psychopharmaka herankommt. Denn Annie weiß, dass etwas mit ihr nicht stimmt, aber eben auch, wie sie es behandeln kann. Doch in Castle Rock drohen Schwierigkeiten. Zwar bekommt sie problemlos einen Job im händeringend nach Personal suchenden Krankenhaus, allerdings werden die Medikamente dort allzu sorgfältig weggeschlossen. Dazu geraten sie und Joy zwischen die Fronten eines örtlichen Konflikts. Der Boss der semilegalen und schlicht illegalen Geschäfte in Castle Rock, Pop Merill (Tim Robbins, und als Andy Dufresne aus ‚Die Verurteilten, natürlich eine Anspielung in sich selbst) befindet sich im Endstadium einer Krebserkrankung. Er hat nicht nur die beiden Söhne seines im Knast sitzenden Bruders, „Ace“ (Paul Sparks) und Chris (Matthew Allan) aufgezogen, sondern auch zwei somalische Flüchtlingskinder Nadia (Yusra Warsama) und Abdi (Barkhad Abdi). Im Vakuum seiner verblassenden Macht liefern sich Ace und Abdi nun einen Kleinkrieg. Dabei muss Ace sehr bald schmerzhaft feststellen, dass man sich mit Annie nicht anlegen sollte. Ihre Tat allerdings, weckt ein sehr viel älteres Übel tief unter dem Marsten Haus im nahen Jerusalem’s Lot.
Eine jüngere Version einer King-Antagonistin hier zur Protagonistin zu machen ist ein spannender Kniff. King Neulinge werden die scheinbar freundliche und sorgfältige junge Frau sicher anders wahrnehmen, als solche die ‚Misery‘ gelesen oder gesehen haben. Ob ich mit dem Hintergrund, den die Serie ihr verpasst ganz glücklich bin, weiß ich nicht. Teilweise ist mir das zu „on the nose“, aber Lizzy Kaplans merkwürdig-mitfühlende Darstellung lässt sie zu jeder Zeit funktionieren, insbesondere, wenn sie etwas Grauenhaftes tut. Die Idee des persönlichen Schicksals, verwickelt mit dem Horror des Ortes funktioniert hier noch ein ganzes Stück besser als in Staffel 1. Nicht zuletzt weil Annie wie ein Charakter wirkt, der ohnehin neben der ganzen Welt herlebt.
Die großen Themen der ersten Staffel (Adoptiv-)Elternschaft und wie sich gerade schlechte Elternschaft auf der Seele der erwachsenen Kinder widerspiegelt werden hier gekonnt weitergeführt und sind natürlich nicht nur die großen Themen der Serie, sondern fraglos auch von King im Allgemeinen. Das gelingt es hier facettenreich darzustellen. Da macht es deutlich weniger, dass die böser-Kult-aus-alter-Zeit-Geschichte selbst ein klein wenig angestaubt wirkt. Auch werden die King Anspielungen deutlich zurückgefahren. Das Marsten Haus taucht zwar auf, Kurt Barlow (aus ‚Brennen muss Salem‘) wird aber mit keinem Wort erwähnt. Aber gut, Pop und Ace Merill sind häufige Charaktere (Ace ist Kiefer Sutherlands psychotischer Bully aus ‚Stand By Me‘) und Annie ist in sich selbst natürlich ohnehin die größte Anspielung.
Auch musikalisch kann man sich wieder hören lassen. Die Staffel eröffnet mit Carly Simons mächtigem Oscargewinner „Let The River Run“, der erneut zu einer Art Leitmotiv wird, dass sich auch in Folgennamen widerspiegelt. Leonard Cohen, Johnny Cash, die Dubliners und eine Menge mehr werden clever eingesetzt.
So ganz bin ich jetzt nicht dahinter gedrungen, was die Faszination der Serie ausmacht. Vielleicht ist es einfach wie mit einem guten King Roman, der ja auch die Wirkung von Fast Food hat, insoweit man einfach nicht aufhören kann, bis er durch ist. ‚Castle Rock‘ ist eine sehenswerte Serie, wenn man durch die recht drögen ersten dreieinhalb Folgen durchkommt. Auch ist sie letztlich völlig in sich geschlossen, obwohl sie überraschend nach der zweiten Staffel abgesetzt wurde.