Es gibt gewisse Phänomene, die treten nur sehr selten auf. Totale Sonnenfinsternissen etwa. Oder die Blüte des Titanenwurzes. In die Reihe dieser seltenen Phänomene kann man sicher auch Actionfilme einsortieren, die bei den Filmfestspielen von Cannes beinahe 5 Minuten stehende Ovationen bekommen. Einer dieser seltenen Vertreter ist der südkoreanische Film ‚The Villainess‘ von Jung Byung-gil. Und das allein wäre schon Grund genug ihn sich einmal genauer anzusehen.
Eine junge Frau (Kim Ok-vin) mordet sich durch ein Gangsterversteck mit angeschlossenem Drogenlabor. Nachdem sie von der Polizei festgenommen wurde, erwacht sie aber nicht etwa im Gefängnis, sondern in einem geheimen Trainingslager, wo sie von der Leiterin Kwoon-sook (Kim Seo-hyung) vor eine Wahl gestellt wird: dem koreanischen Geheimdienst 10 Jahre lang in neuer Identität als Schläferin für gelegentliche (Mord-)Aufträge dienen und danach ein Leben lang sicheres Gehalt kassieren, oder gleich hier sterben. Der jungen Frau, die nicht am Leben hängt fällt die Antwort zunächst leicht, doch als Kwoon-sook ihr eröffnet, dass sie schwanger sei, nimmt sie das Angebot doch an. Als ihre, geradezu schmerzhaft niedliche, Tochter geboren ist, wird ihr eine Wohnung in Seoul gestellt, in der sie in der Identität der Theaterschauspielerin Chae Yeon-soo leben wird. Zum Wohle aller hätte der Geheimdienst aber gut daran getan, die Vergangenheit der jungen Frau etwas genauer zu durchleuchten…
Der Film beginnt in medias res (oder eher in mordias res). Wir sehen aus der Ich-Perspektive der jungen Frau, wie sie sich durch das Haus kämpft und mordet. Ihr Gesicht sehen wir zum ersten Mal in einem Spiegel, als einer ihrer Widersachen ihren Kopf hindurch schmettert. Dadurch scheint der Zauber aufgehoben, die Kamera, von der subjektiven Sicht der jungen Frau befreit. Doch scheint sie dennoch eine gewisse Subjektivität zu behalten, wenn sie durch den Raum fliegt, Kämpfenden, jetzt in einem Fitnessstudio, wo Hanteln und Springseile zweckentfremdet werden, ausweicht und bemüht scheint, die Situation im Blick zu behalten. Schließlich folgt sie der jungen Frau durch ein Fenster nach draußen.
Das ist ein Auftakt, dem man sich nur schwer entziehen kann. Während der folgenden Ausbildungssequenz behält der Film seine subjektive Sicht aus Yeon-soos Perspektive mit wenigen Ausnahmen bei, demarkiert aber in keiner Weise, wenn er aus der Gegenwart in eine Rückblende wechselt. Damit verwirrt er absichtlich und zeigt uns hier bereits, dass es Aspekte von Yeon-soo gibt, die wir nicht kennen. Hier mehr darüber zu sagen wäre nicht in Ordnung, weil das Heraustüfteln, was nun was ist, Teil des Vergnügens ist.
Der folgende Mittelteil ist in meinen Augen leider der Schwächste. Es ist zwar visuell sehr interessant, auf der einen Seite die sehr naturalistisch ausgeleuchteten Alltagsszenen aus Yeon-soos Leben zu haben. Inklusive romantischer Begegnung mit dem Nachbarn, von der wir als Zuschauer wissen, dass sie nicht so unschuldig oder zufällig ist, denn der freundliche Hyun-soo (Sung Joon) ist in Wirklichkeit Yeon-soos vom Geheimdienst gestellter Aufpasser. Auf der anderen Seite haben wir die Aufträge, die in einem Licht inszeniert sind, das an den Glanz von Neon-Reklamen auf regennassem Asphalt um Mitternacht erinnert. Alles ist etwas „Larger Than Life“, selbst das Blut, das, nicht eben selten, auf Yeon soons Gesicht spritzt scheint zu leuchten.
Dennoch hat der Film hier gewisse Längen, wenn man darauf wartet in wie fern sich Autor/Regisseur Jung Byung-gil sich nun vom bis hierher allzu offensichtlichen Vorbild von Luc Bessons ‚Nikita‘ lösen wird (er tut es!). Dass eine der Auftragssequenzen dann auch noch ziemlich direkt ‚Kill Bill‘ zitiert hilft auch nicht wirklich. Dennoch, der Film belohnt diese kleinen Geduldsproben mit einem wahrlich explosiven Finale, samt liebevoller Hommage an Jackie Chan.
Neben gelungenen Actionszenen bietet der Film optisch ohnehin einiges auf. Neben der oben beschriebenen stilisierten Gewalt, geht das bis hin zu kleinen, unauffällig trockenen, visuellen Gags. Wenn sich Yeon-soo eine Schießerei mit einigen Gangstern in einer Küche liefert, schwenkt die Kamera ein ganz klein wenig, um eine Reihe sorgfältig gerupfter und zubereitungsfertiger Hühner ins Bild zu bekommen und liefert so ein wenig überraschendes und staubtrockenes Orakel zu den Überlebenschancen der Handlanger.
Hauptdarstellerin Kim Ok-vin ist mir zum ersten Mal in Park Chan-wooks ‚Durst‘ aufgefallen. Hier muss sie sich einer nicht ganz leichten Doppelaufgabe stellen: einerseits die emotionalen Aspekte (oder in einigen Fällen, die nicht vorhandene Emotionalität) ihrer Figur überzeugend herüberbringen, gleichzeitig den körperlichen Anforderungen der Stuntsequenzen gerecht werden. Dass sie den ersten Part überzeugend meistert, überrascht nicht, falls man ‚Durst‘ kennt. Selbst wenn das Drehbuch im Mittelteil gelegentlich in Melodramatische abrutscht, bleibt sie zumindest überzeugend. Auch den anderen Aspekt trägt sie gut, was nicht zuletzt damit zu tun haben dürfte, dass sie Erfahrung in Hapkido und Taekwondo mitbringt (behauptet zumindest Wikipedia). Die anderen Darsteller sind durch die Bank gut, aber keiner der herausragend wäre.
Hat man in Cannes also zu recht applaudiert? Nach dem Finale auf jeden Fall. Aber vielleicht sind gerade der starke Anfang und das starke Ende in gewisser Weise auch das „Problem“ des Films, weil sie den etwas schwächeren, wie erwähnt leicht melodramatischen, Mittelteil umso offensichtlicher machen. Obwohl sich auch die kinetischen Actionsequenzen in diesem Mittelteil nicht vor westlicher Action a la ‚John Wick‘ verstecken müssen. So oder so, von mir gibt es eine glasklare Empfehlung!