Charlie Chaplin hat mit seinem „Tramp“ eine der ersten, wirklich ikonischen Hollywoodfiguren geschaffen. Irgendwo zwischen Landstreicher und Gelegenheitsarbeiter, ein moderner, gutherziger Narr, der sich außerhalb der üblichen gesellschaftlichen Vorschriften bewegte und sie oft genug vorführte. 1914 erschien der Tramp zum ersten Mal in Filmen der Produktionsfirma Keystone. Und nicht zuletzt aufgrund seiner perfekt wiedererkennbaren „Uniform“ aus Melone, Baggy Pants, übergroßen Schuhen und einem hochflexiblen Gehstock erfreute er sich bald weltweiter, universeller Beliebtheit. Der Tramp war eine pantomimische Figur, eine, die man überall nachvollziehen konnte.
Doch die Zeiten änderten sich schnell. Die Industrialisierung der USA schritt zügig voran und in den 20er Jahren brach eine erhebliche Depression über die Weltwirtschaft herein. Der Tramp wandelte sich vom Landstreicher zu einem der zahlreichen, urbanen Arbeitslosen, die das Bild der Innenstädte prägten. Chaplins Sicht auf moderne Technologie begann sich in zweierlei Hinsicht zu verdüstern. Einmal im Allgemeinen. Maschinen sollen dem Menschen helfen, ihn nicht „überflüssig“ machen. Arbeitslos und zum sozialen Abstieg verdammt. Zum anderen aber auch direkt auf seine Branche bezogen. Chaplin mochte den Tonfilm nicht. Equipment und Anforderungen der Tonaufnahme empfand er als künstlerisch einschränkend, aber wichtiger noch, er war überzeugt, der Tramp würde seine universelle Anziehungskraft verlieren, wenn er sprechen würde. Der „Talkie“ wäre sein Ende.
So drehte er mit ‚Lichter der Großstadt‘ 1931 einen Stummfilm (allerdings mit von Chaplin selbst komponierter Musikspur), der zu dieser Zeit bereits als Anachronismus wahrgenommen wurde. So blieb die Werbung für den Film größtenteils an Chaplin selbst hängen. Unter anderem mit eine großen Tour durch Europa, wo er einen durch die Depression schwer gezeichneten Kontinent vorfand, auf dem allerlei nationalistische Strömungen großen Zulauf fanden. In Deutschland waren die ihn niederschreienden Nazis zwar noch in der Minderheit, doch die Zeiten änderten sich.
Unter diesen Eindrücken entstand ‚Moderne Zeiten‘ (und später ‚Der große Diktator‘). Und obwohl Chaplin sich selbst stets als unpolitischen Unterhalter bezeichnet hat, ist seine Aussage hier doch eine schwer misszuverstehende.
Wir sehen den Tramp zu Anfang als einen Fließbandarbeiter, der an der Monotonie seiner Handgriffe verrückt zu werden droht. Es ist ‚Metropolis‘ aus der Sicht eines einfachen Arbeiters, der – wortwörtlich – in das Rädersystem der industriellen Maschinerie hineingezogen und wieder ausgespien wird. Es ist Chaplin auf dem Höhepunkt seines Könnens, visuell einfallsreich und mit perfekt sitzenden Gags. Kurz darauf scheint der Film selbst der Idee, er würde sich politisch positionieren, direkt den Wind aus den Segeln nehmen zu wollen. Nach seinem Nervenzusammenbruch aus dem Krankenhaus entlassen, sieht der Tramp, wie ein Langholzlaster seine (vermutlich rote) Signalfahne verliert. Er hebt sie auf ruft dem Wagen nach und schwenkt die Fahne über dem Kopf, um sie zurückzugeben. Ungesehen von ihm marschiert hinter ihm eine große Demonstration auf, die er nun unwissend, eine rote Fahne schwenkend anzuführen scheint. So wird er von der eintreffenden Polizei direkt als kommunistischer Rädelsführer verhaftet.
Man kauft ihm diesen Verweis auf eine rein zufällig politisch wirkende Haltung natürlich nicht ab. Doch wäre es falsch, von dem Film ein pures, politisches Manifest zu erwarten (ich halte Chaplin auch keineswegs für einen Kommunisten, eher einen Idealisten). Viele Szenen sind einfach ein liebevoller, komischer Abschied vom Tramp, der hier seinen letzten Auftritt haben sollte. Mit Paulette Goddard als obdachlosem Mädchen, das ein Brot stiehlt, was der Tramp aber auf seine Kappe nimmt, bekommt er eine wunderbare Filmpartnerin an seine Seite. Nicht nur inszeniert er hier eine ebenso komische wie haarsträubende Szene, in der der Tramp mit verbundenen Augen am Abgrund rollschuhläuft, wir bekommen auch zwei Szenen, die sich über die typische, amerikanische, häusliche Idylle lustig machen. Einmal als Traum, in dem Orangen durch die Fenster wachsen und Kühe auf Nachfrage eine Glas Milch füllen und einmal als Realität in einer zerfallenden Bruchbude, in der dem Tramp alles auf den Kopf fällt, was nicht festgenagelt ist. Und einiges, das festgenagelt ist. Hoppla, da sind wir schon wieder politisch…
Beide können der Spirale aus Armut und daraus erwachsenden Konflikten mit der Polizei nicht entgehen. Das Ende ist dementsprechend auch ein düsteres, aber sicher nicht ohne Hoffnung. Denn der Tramp watschelt diesmal nicht allein in den Sonnenuntergang, sondern mit einer Frau an seiner Seite.
Doch wie ging Chaplin nun mit dem Tonfilm um? Der Tonfilm wäre das Ende des Tramps, hat er gesagt, und hier ist das Ende des Tramps. Und doch ist es zum größten Teil ein Stummfilm. Wir hören Geräusche von Maschinen, oder wenn der Tramp in Folge unfreiwilligen Kokainkonsums eine Gruppe Ausbrecher vermöbelt. Wir hören Magenknurren und andere unwillkürliche, menschliche Laute. Wir hören auch Stimmen, aber eben nicht alle. Wir hören Stimmen, die technisch wiedergeben werden. Spricht der Fabrikbesitzer über das Interkom, so ist seine Stimme als Ton zu hören. Ein Erfinder hat den Werbepitch für seine „Arbeiterfütterungsmaschine“ auf Schallplatte aufgenommen, auch das ist als Ton zu hören. Kurz, wer die Technologie kontrolliert, der wird gehört. Alle anderen bleiben stumm.
Doch auch das stimmt nicht. Nicht ganz. Gegen Ende des Films hat Paulette Goddards Charakter dem Tramp einen Job als singender Kellner verschafft. Den Kellner-Teil vertrottelt er weitgehend und erwartet, doch den Liedtext hat ihm seine Freundin ja aufgeschrieben. Und er verliert ihn sofort. So muss der Tramp improvisieren. Und Chaplin singt ein Nonsens-Lied in pseudoitalienischem Kauderwelsch unterstützt von allerlei erklärenden Gesten. Und so wird aus Chaplins Kapitulation vor dem Tonfilm ein letzter Triumph des Stummen. Ein letzter Beweis, dass es keiner (verständlichen) Worte bedarf, um eine lustige Geschichte zu erzählen. „Sing“, ruft seine Partnerin ihm zu „scher dich nicht um die Worte!“ Der Leitspruch der stummen Kunstfigur.
‚Moderne Zeiten‘ fühlt sich auch fast 95 Jahre später erstaunlich aktuell an. Der bedrückende Effekt der Entfremdung von der Arbeit ist durch den Wandel der westlichen Welt von der fertigenden Industrie zur Dienstleistung nicht eben kleiner geworden. Vielleicht im Gegenteil. Chaplins Voraussage, wer durch Technologie gehört wird und wer eben nicht fühlt sich heute erschreckend hellsichtiger denn je an. Doch vor allem ist ‚Moderne Zeiten‘ ein wahnsinnig komischer Film, dessen Humor kaum gealtert ist. Vor allem eben, weil sich Chaplin nicht um die Worte scheren musste. Gut gemachter Slapstick altert nicht (schlechter Slapstick ist hingegen Folter!) und der visuelle Stil des Films, sicherlich ein Stück weit Kommentar auf ‚Metropolis‘ oder das damals beliebte Genre der „Großstadtsymphonie“, ist auch heute noch von sehr hoher Treffsicherheit. Es ist ein würdiger Abschied für die vielleicht größte kleine Figur des Stummfilms.