‚Hereditary‘ (2018)

‚Hereditary‘ wurde von der Kritik mehrfach zum besten Horrorfilm der letzten Jahre erklärt. Einhergehend natürlich mit den üblichen Anmerkungen er sei selbstverständlich „mehr als ein Horrorfilm“, denn ein solcher kann ja schon per Definition nicht wirklich gut sein. Keine Sorge, ich rolle hier nicht meine Profilneurose rund um die Rezeption von Horror als Genre zum x-ten Mal auf, es war halt nur an ‚Hereditary‘ mal wieder besonders auffällig. Und, es schmerzt mich zu sagen, in diesem Fall womöglich sogar einmal zutreffend.

Annie Graham (Toni Collette) ist eine Künstlerin, die in kleinen Modell-Dioramen arbeitet. Gemeinsam mit ihrem Mann Steve (Gabriel Byrne), Tochter Charlie (Milly Shapiro) und Sohn Peter (Alex Wolff) lebt sie in einem schönen Holzhaus in einem Birkenwäldchen. Nachdem ihre Mutter, zu der sie ein mehr als gespanntes Verhältnis gehabt hat, nach langer Krankheit stirbt, besucht sie eine Selbsthilfegruppe, arbeitet jedoch weiter an ihrer Ausstellung „Small World“. Doch scheint der Tod der Mutter eine Kettenreaktion an Katastrophen für die Familie ausgelöst zu haben, die mit einem bizarren Unfall beginnt. Annies Welt versinkt im Chaos und als ihr Joanne (Ann Dowd), eine bei der Selbsthilfegruppe getroffene neue Freundin, zu einer Séance rät, wird dadurch wahrlich nichts besser.

Es gibt diese Prüfsteine für Genres. Die mit denen man einen Film vergleicht, wenn man ausdrücken will, dass er wirklich, wirklich gut ist. ‚2001‘ etwa für den Science Fiction Film. Im Horrorgenre fällt diese Rolle fraglos dem 1973er Film ‚Der Exorzist‘ zu (werde nie verstehen, warum sich niemand für meine tolle Prequel-Idee ‚Der Orzist‘ begeistern kann). Und der wurde auch hier öfters als Vergleich herangezogen. Thematisch ist das in meinen Augen nicht ganz treffend. Da wäre vielleicht ‚Rosemary’s Baby‘ passender. Oder auch ‚Wenn die Gondeln Trauer tragen‘. Atmosphärisch würde ich eher aktuellere Filme als Vergleich heranziehen. ‚Antichrist‘ vielleicht, oder auch ‚Kill List‘. Allen Vergleichen zum Trotz steht Ari Asters Spielfilmdebüt aber sehr sicher auf sehr eigenen Füßen.

Der Grund warum das „mehr als Horror“ Klischee bei mir diesmal zumindest ganz leise Zustimmung findet, ist dass der Film zwischendurch mehrfach deutlich die Genres wechselt. Das passiert nicht mit der brutalen Abruptheit und dem Knirschen eines ‚I am not a Serial Killer‘, doch ist es spürbar. Der Film gibt dabei jedoch nie die vorhergehende Ebene auf. Das genauer auszuführen würde zu allzu heftigen Spoilern führen, vielleicht nehme ich mir den Film noch einmal in einem gesonderten Artikel vor. Dass er sich jedoch auf mehreren Ebenen verstanden wissen möchte, macht der Film sehr schnell klar, wenn die Kamera bereits am Anfang geschickt zwischen Annies Dioramen und den wirklichen Räumen, die sie nachbildet hin und herwechselt. Die Grenze zwischen Modell und Realität und später Traum und Realität wird flüssig und undeutlich.

Was den Horror in ‚Hereditary‘ ungewöhnlich macht ist seine Unausweichlichkeit. Bereits der Name macht klar, dass seine Quelle in der Vergangenheit liegt. Das allein ist beinahe typisch für den Horror, doch üblicherweise ist ein Herumrühren der Protagonisten an Verbotenem notwendig. Ein verbotenes Buch wird gelesen, ein Video wird geschaut, ein verfluchtes Haus bezogen, oder was auch immer. Hier ist klar, dass die finsteren Samen, egal ob man sie nun als dysfunktionale Familie, oder als generationsübergreifendes Ritual verstehen will, vor langer Zeit gepflanzt wurden, und nun ihre grausige Blüte tragen, ganz egal was passiert und was die Protagonisten tun. Wenn sie ihr Tun denn überhaupt noch, oder je, selbst kontrollieren. Der Quader, Anfangs Symbol für Rückzugsort, Sicherheit und Ordnung, sei es das Baumhaus der Kinder oder Annies Dioramen, verliert diese Sicherheit, wird seinerseits zum beschränkenden Gefängnis. Einen Vorgeschmack darauf gibt die Architektur des Hauses, das aussieht als hätte eine unvorstellbare Kraft eine ganze Reihe Quader brutal ineinander gerammt.

Diesen Wandel, dieses Fließen in immer finsterere Gewässer stellt nicht nur die gut eingesetzte Kamera von Pawel Pogorzelski dar, sondern vor allem auch die Musik von Colin Stetson. Dieser kann und muss man in vielen Szenen das Kompliment machen, dass man kaum merkt, dass sie überhaupt da ist. Umgebungsgeräusche und merkwürdige Stimmen gehen über in die Musik und umgekehrt. Das habe ich in vergleichbarem Maße nur in Lynchs ‚Eraserhead‘ erlebt. Allerdings hat Stetsons Musik nicht die dortige maschinell-industriell-metallische Qualität, sondern eine erdig-holzigere, falls das Sinn macht.

Die größte Stärke des Films ist allerdings zweifellos Toni Collette. Die liefert für Annies zweistündigen Nervenzusammenbruch hier eine Karrierebestleistung ab. Von nuancierten, fast zurückhaltenden Momenten, bis hin zu den großen „In Your Face“, von Schrei- und Weinkrämpfen gebeutelten Großaufnahmen ihres Gesichts ist das eine Darstellung, die ich am ehesten noch mit Isabelle Adjani in Andrzej Zulawskis ‚Possession‘ vergleichen kann. Und das meine ich rundum als Kompliment. Collette gegenüber steht Gabriel Byrne, der allerdings erkennt, dass dies hier vollkommen ihr Film ist und sich sehr zurücknimmt. Alex Wolff ist überzeugend und ausdrucksstark als Sohn Peter und Milly Shapiro fällt allein schon deshalb auf, weil sie nicht der typischen, engelsgesichtigen Hollywood-Kinderdarstellerin entspricht. Spätestens wenn ihre Charlie Schokolade mampfend eine tote Taube mit der Bastelschere köpft ahnt man, dass etwas im Argen liegt.

Das liest sich jetzt vielleicht alles so, als wäre das mein neuer Lieblingsfilm. Nun, er ist sicher hervorragend gemacht, als Erstlingsfilm für Aster beinahe schon eine Offenbarung und dennoch hat er mich nicht wirklich begeistert. Nicht dass ich ihn schlecht fand, keineswegs, ich teile nur die überschwängliche Begeisterung nicht. Es fällt mir allerdings schwer den Finger daraufzulegen, woran das liegen könnte. Vielleicht liegt es daran, dass Collettes Annie zwar in jedem Moment überzeugend ist, einige der umgebenden Elemente im Laufe des Films aber doch ein wenig mehr auf die Albernheit zusteuern, als ihnen gut tut. Aster nimmt seine Geisterwelt sehr ernst. Womöglich etwas zu ernst. Auch das wir im letzten Drittel einen Wechsel der Erzählperspektive erleben, könnte zu meinem Problem beitragen. Sicher, die Hälfte von Euch deutet gerade auf den Filmtitel und schüttelt mitleidig den Kopf, aber dennoch…

Aber das größte Problem dürfte wahrscheinlich die Erwartungshaltung sein. Jeder mit Interesse an dem Genre hat vermutlich in den letzten Jahren mindestens einen Horrorfilm gesehen, bei dem das Gefühl mitschwang, den habe die Kritik vielleicht doch etwas übergeigt. Was bleibt ist ein sehr gut gemachter Film mit einer herausragenden Hauptdarstellerin, aber in meinen Augen nicht das Meisterwerk, dass mancher hier entdeckt haben möchte.

22 Gedanken zu “‚Hereditary‘ (2018)

  1. Denke auch, dass dir die Erwartungshaltung da ein wenig im Weg stand 🙂
    Dieser Film hat so großartige, schockierende Szenen die mir komplett den Atem geraubt haben und so weh taten. Und als gar nicht mal so großer Horror-Fan fand ich seine Überschneidungen mit dem Familiendrama, die er zeitweise ist, super spannend. Letztendlich bin ich aber auch keiner, der ihn als Meisterwerk betitelt, weil gerade das Ende überhaupt nicht meins war und so weit entfernt ist von dem realen, puren Horror der ersten Hälfte.

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    • Ja, es war auch vor allem das Ende mit dem ich meine Probleme hatte. Ich werde ihn demnächst nochmal schauen, jetzt wo ich besser weiß was auf mich zukommt. Nicht zuletzt weil ich seine Bildsprache wirklich faszinierend fand.

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      • Jaa der hat so tolle Bilder und einen so tollen Sound. Und ich wusste damals nicht worauf ich mich einlasse, der Anfang vom Film war dann auch noch nicht sehr aussagekräftig und dann kommt plötzlich diese Szene von der Heimfahrt nach der Party vom Sohn aus dem nichts. Damit noch nicht genug geht er einfach ins Bett und man hört am nächsten Morgen nur die Mutter, poah das war mit das unangenehmste das ich bis jetzt gesehen habe. Ich saß nur noch mit zusammengeschlagenen Händen überm Kopf und dachte die ganze Zeit nur: „Ach du scheiße.“
        Und wenn dann die Mutter ins Zimmer vom Sohn kommt… Der hat schon Wahnsinnsmomente, zu schade, dass er sein Potential nicht ganz ausschöpft. War mir auch ein Rätsel wie man so einen Film so auflösen konnte.
        Nun ja, es können sich ja genug mit dem Ende arrangieren, meinen Geschmack hat es halt gar nicht getroffen. Mich hat gerade das Ganze davor so gepackt dadurch, dass es so wenig übernatürlich war und so authentisch.

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        • Ja, das waren sehr starke Momente! Mir ist auch sehr die Abendessen-Szene, bei der Annie ihren Sohn anfährt (you just sit there, with that face on your face (eine Aussage, die womöglich sogar doppeldeutig zu verstehen ist)) sehr im Gedächtnis geblieben. Aster ist verdammt gut darin „normale“ Momente zu nehmen und die ins Grausige zu überziehen. Ähnlich wie Lynch… nur ganz anders. 😉

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  2. Ich fand den Film auch gelungen. Aber nicht über die Maßen spektakulär.

    „er sei selbstverständlich „mehr als ein Horrorfilm““

    Ich glaube dieser Punkt war mein größtes Problem mit dem Film. Denn am Ende ist er „nur“ ein gewöhnlicher Horrorfilm. Alles was er vorher sehr geschickt aufbaut, das Familiendrama, die Trauerbewältigung, die psychischen Störungen in der Familie, wird im letzten Drittel quasi eingerissen, weil es gezeigt werden muss, dass es wirklich um einen Geist/Dämon geht, der einen neuen Körper sucht. Das hätte es aus meiner Sicht überhaupt nicht gebraucht. Ein bisschen mehr Ambivalenz wäre hier deutlich besser gewesen.

    Im Übrigen hat der Regisseur in einem Interview noch mal ganz klar festgehalten was er mit seinem Film ausdrücken wollte und wie man ihn deuten soll.

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    • SPOILER!!

      Ja, alles mit König Paimon und seinem magischen Lichtleitsystem ging bei mir etwas ins Leere. Auch das Annie als Hauptfigur plötzlich beiseite gelegt wird, durch die Gegend fliegt und sich den Kopf abschraddelt war… weiß ich nicht, verschwendet? Im Babadook hat ein solcher Perspektivwechsel besser funktioniert, aber der hat die Mutter dann auch nicht zur Nebenfigur gemacht. Und Kill List (über den ich irgendwann mal schreiben muss) kriegt eine ähnliche Wende am Ende besser hin (mMn., sehen auch viele anders).

      Ich fands aber goldig, dass Annies Mutti anscheinend allen Mitgliedern ihres fiesen Kults eigene Türmatten gestickt hat! 😉

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      • Aus persönlicher Erfahrung kann ich dir sagen, dass man als okkulter Sektenführer schauen muss wie man die ganze Freizeit gefüllt bekommt.

        Außerdem betreibt der Schwager eins Kumpels einen Online-Shop, wo man individualisierte Fußmatten im 10er Pack recht kostengünstig erwerben kann.

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  6. „Da wäre vielleicht ‚Rosemary’s Baby‘ passender.“

    Definitiv!

    Der Bizarre Unfall war eine der heftigsten Szenen, die ich seit langer Zeit gesehen habe.

    Bezüglich der Unausweichlickeit muss ich bei Gelegenheit einen kleinen Text zur Einbettung der beiden Szenen schreiben, in der der Lehrer in der Schule über griechische Mythologie spricht. Wenn ich es richtig im Kopf habe, geht es da um die Opferung der Iphigenie.

    Diese Bezüge zur griechischen Tragödie, in denen es um die unausweichbar erscheinende Opferung eines eigenen Kindes geht, sind ja sicherlich nicht zufällig eingebaut.

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