‚Perfect Blue‘ (1997)

Satoshi Kon war ein Ausnahmetalent. Sei es der markante, ausdrucksvolle Stil seiner Figuren, sein brillanter Umgang mit Farbe oder – vor allem – seine geschickte „Schnitttechnik“ (soweit man in der Animation davon sprechen kann), die dafür sorgen konnte, dass wir an Fiktion und Realität zweifeln, uns in der Zeit verloren fühlen, die uns im nächsten Moment aber punktgenaue Spannung erleben ließ. Kon was ein visueller Erzähler, wie es nicht allzu viele andere gibt und sein Tod 2010 mit nur 46 Jahren in jeder Hinsicht eine Tragödie. Doch will ich heute auf einen freudigeren Moment schauen, als er 1997 künstlerisch anscheinend vollständig ausgeformt seinen Regie-Einstand mit dem Psychothriller ‚Perfect Blue‘ gab.

Mima Kirigoe ist Sängerin in der japanischen Teengirl-Gruppe CHAM. Allerdings möchte sie überraschend aus der Gruppe aussteigen, um eine Karriere als Schauspielerin, zunächst in der Krimiserie „Double Bind“, zu verfolgen. Dies stößt bei Familie, Management und vor allem Fans nicht unbedingt auf Begeisterung. Im Internet taucht eine Seite auf, die angebliche Tagebucheinträge von Mima veröffentlicht. Zunächst findet Mima das unterhaltsam, als sie jedoch bemerkt, dass der Autor genauestens über ihre Vorlieben und ihren Tagesablauf Bescheid weiß ist sie beunruhigt. Dazu kommt noch, dass ein Stalker sich als äußerst gewaltbereit erweist, die Fernsehkarriere nicht wie erwartet läuft und mit einigen Erniedrigungen verbunden ist und CHAM, kaum dass Mima ausgestiegen ist, zu einem riesigen Erfolg wird. Sie stürzt in eine Persönlichkeitskrise und beginnt zu zweifeln, wer die „wirkliche“ Mima eigentlich ist. Dann beginnt eine Reihe brutaler Morde in ihrem Umfeld.

Identität, Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung sind die großen Themen des Films, die Kon bereits in den allerersten Minuten deutlich macht, wenn er einen perfekt durchgestylten Auftritt von CHAM gegen Mima beim alltäglichen Einkaufen im Supermarkt und Aufnahmen für ein Schauspiel-Demo-Band schneidet. Sofort werden wir mit drei völlig unterschiedlichen Aspekten derselben Person konfrontiert, von denen zunächst nur einer ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit prägt und eine andere die „echte“ ist oder scheint. Mimas Bühnenpräsenz wird, in der Öffentlichkeit im allgemeinen und durch den selbsternannten „Me-Maniac“ im besonderen, vollkommen idealisiert und von der eigentlichen Person gelöst, „Star“-sein bekommt ein zutiefst verstörendes Element. Der Konflikt zwischen diesen Aspekten, sowohl für außenstehende Beobachter, wie für Mima selbst werden zu zentralen Triebfeder des Films.

Und auch wir als Zuschauer können der Realität des Films keine Sekunde trauen. Jeder Schnitt kann uns durch die Zeit zu einer ganz anderen Szene transportieren, was wir aber aufgrund geschickter Verknüpfungen erst einige Sekunden später merken. Oder wir glauben in einer Szene ein Detail über Mima zu erfahren, nur um dann zu bemerken, dass es eigentlich ihren Charakter in der Serie – bezeichnenderweise auch ein Psychothriller – betrifft. Momente der wirklichen Welt des Films beginnen sich in der Serie widerzuspiegeln und umgekehrt. Die Verlorenheit und Verwirrung der Hauptfigur überträgt sich auf uns als Zuschauer. Ich werde mich hüten hier auch nur ein Wort zu viel über das Ende zu verlieren, doch sei verraten, dass es Kon gelingt in einer visuell beeindruckenden Szene seine Themen zu einem ebenso logischen wie atemberaubend spannenden Finale zu bringen.

Obwohl Kon immer ein großer Fan von Anime und Manga war sagte er selbst, dass er filmisch eher von westlichen Einflüssen geprägt war als japanischen. Der typische Vergleich für ‚Perfect Blue‘ ist der zu den Filmen von Hitchcock und sicherlich lassen sich thematische Parallelen gerade zu ‚Vertigo‘ nicht verleugnen. Die Morde, sowie eine Szene sexueller Gewalt gegen Mima, sind allerdings deutlich „dreckiger“ als alles was Hitchcock produziert hat und wecken eher Assoziationen zu den Filmen Abel Ferraras (es gibt sogar eine direkte Anspielung auf seinen ‚Driller Killer‘ und die Situation am Set der Serie erinnert gelegentlich an ‚Dangerous Game’/’Snake Eyes‘) oder italienischen „Giallo“-Produktionen. In seiner unkonventionellen Schnitttechnik, sowie seiner sehr visuellen Erzählweise wird allerdings Kons größtes von ihm erwähntes Vorbild deutlich: Terry Gilliam, insbesondere ‚Brazil‘ und ‚Die Abenteuer des Baron Münchhausen‘, wobei dieser Einfluss später in Filmen wie ‚Paprika‘ noch weit deutlicher wird.

Fast spannender als die die Quellen der Inspiration ist allerdings der Einfluss, den ‚Perfect Blue‘ insbesondere auf das amerikanische Kino hatte. Darren Aronofsky hat aus seiner Begeisterung für den Film nie einen Hehl gemacht und zitiert ihn visuell mehr oder weniger direkt (mit Kons Segen) in ‚Requiem for a Dream‘ und ‚Black Swan‘, wobei letzterer auch thematische Überschneidungen zu diesem Anime besitzt. Thematische Ähnlichkeit zeigt sich auch in David Lynchs ‚Mulholland Drive‘, der sich ebenso mit Aspekten von Traum und Wirklichkeit, Sein und Wahrnehmung auseinandersetzt. Alejandro González Iñárritus oscarprämierter Film ‚Birdman‘ nutzt gar ein zentrales, erzählerisches Element, das ein direktes Vorbild in Kons Film hat. All das sorgt dafür, dass sich ‚Perfect Blue‘ unglaublich modern anfühlt, von einer Szene mit sehr veralteter Computertechnik einmal abgesehen sind 20 Jahre an diesem Film fast spurlos vorrübergegangen.

Selbst wenn ihr mit Anime normalerweise nicht viel anfangen könnt möchte ich euch ‚Perfect Blue‘ unbedingt ans Herz legen. Ein hervorragender Psychothriller und eine Lehrstunde im visuellen Geschichtenerzählen in einem. Und wenn ihr dem Film auch nur das geringste abgewinnen könnt tut euch einen Gefallen und schaut alles andere, bei dem Kon Regie geführt hat, insbesondere ‚Paprika‘ und ‚Tokyo Godfathers‘. Und wer weiß, vielleicht wird eines Tages ja auch ‚Dreaming Machine‘, das Projekt an dem er bis zu seinem Tod arbeitete, fertiggestellt. Produzent Masao Maruyama sagte einmal es sei sehr schwer einen Regisseur zu finden, der Kon gleichkäme, um den Film zu beenden. Daran habe ich keinen Zweifel.

13 Gedanken zu “‚Perfect Blue‘ (1997)

  1. kon war ein großartiger Filmemacher der bei uns leider viel zu unbekannt ist. schön dass du ein bisschen Werbung machst 🙂 ohne ihn gäbe es so einige filmszenen oder ganze Filme nicht. Aronofsky kopiert viele Szenen aus perfect blue in black Swan und requiem for a dream und ohne Paprika hätte Nolan vllt niemals inception gedreht. Für mehr interessantes über Satoshi kons Filme lege ich jedem dieses kurze video-essay ans herz: https://youtu.be/oz49vQwSoTE

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    • Ja, ich hatte Perfect Blue lange nicht gesehen und hatte vergessen
      1. wie gut er ist
      2. wie einflussreich er letztlich war
      Ich gebe zu, es liest sich etwas wie ein Werbetext aber in diesem Fall find ich das angemessen… 😉

      Ich werde wohl meinem eigenen Rat Folgen und in nächster Zeit auch mal wieder Paprika und Tokyo Godfathers schauen. Paprika fand ich immer etwas besser als Inception, vermutlich weil Nolan zu zerebral ist, um sich sich voll auf Traum(un-)logik einzulassen.
      Danke für den Link, ich hatte ganz vergessen, dass EveryFrame.. ein Video zu Kon hat!

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  2. Mein Lieblings-Anime und einer der besten Thriller überhaupt. Die deutsche Blu-ray wird dem Film leider nicht gerecht, was Bildqualität und Cover anbelangt. Aber das ändert nichts am grandiosen Film an sich.
    Wenn ich Leuten Anime näher bringen will, dann fällt die Wahl auf Perfect Blue, der bis auf die Anfangsszene sehr westlich daherkommt.

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    • Ich habe ihn auf meiner alten DVD gesehen, die ist auch, gerade bildtechnisch, eher mäßig.

      Der ist vermutlich sehr gut zum Einstieg in Anime geeignet, ja. Ich bin ja selber nicht der größte Animeexperte/-fan aber Perfect Blue ist ein hervorragender Film, animert oder nicht. Deswegen wundert mich wie sehr der, und Kons Gesamtwerk, hier unter dem Radar fliegen. Jeder der sich halbwegs für Film interessiert weiß um den Einfluss von Akira oder GitS aber Perfect Blue und Paprika scheinen weitgehend unbekannt.

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      • „Animiert oder nicht“ – schau dir mal die Realverfilmung an, die es auf Youtube in voller Länge zu bestaunen gibt (Yume Nara Samete – Perfect Blue),der funktioniert nämlich so gar nicht.

        Er fliegt hinter deinen genannten Filmen, das stimmt. Da muss man sich nur mal die Bewertungszahlen bei IMDb und moviepilot anschauen. Aber wenn man im Netz nach Anime, Geheimtipps oder Thrillern sucht, taucht Perfect Blue häufiger auf. Gebe dir vollkommen recht, dass Kons Gesamtwerk mehr Beachtung hierzulande verdient hätte, aber das gilt für die Filmform Anime allgemein, wie ich finde. Bzw. würde ich sogar soweit gehen und sagen, dass der Asiatische Film an sich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Aber das ist ein anderes Thema.

        Aber so ist es doch schön, dass Blogger und andere Vertreter im Netz den Film häufiger in den Fokus rücken, da ich mir nicht erklären kann, wieso seine (viel zu wenigen) Filme nicht automatisch mit der ganz großen und bekannten Riege genannt werden.
        Dachte zuerst, dass es daran scheitere, dass es keine Mangavorlage gibt. Allerdings trifft das auch auf viele Stuio Ghiblis zu. Dass er sich an Erwachsene richtet, kann es auch nicht sein, denn das tun Ghost in the Shell, Akira und Die letzten Glühwürmchen ebenfalls. Also keine Ahnung, woran es scheitert.
        Bin übrigens gerade daran, seine Serie Paranoia Agent nachzuholen. Denke, dass man einmal den Zugang finden muss und dann automatisch den Rest anschaut. So ist es ja häufig.

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        • „Animiert oder nicht“ war eher in der Richtung gemeint, dass es ein guter Film ist, egal wie er gemacht wurde. Das der Realfilm gar nicht mal so gut ist glaube ich Dir einfach mal unbesehen. 😉
          Begeisterung für bestimmte Bereiche des asiatischen Kinos kommt ja durchaus periodisch immer mal auf. Kaiju in den 50er/60ern, Martial Arts Filme, dank Bruce Lee in 70ern (und dank Jackie Chan und Jet Li etc, ist das Interese nie wirklich abgerissen), John Wooiges stilistisches Geballer in den frühen, Wuxia in den späten 90ern und dann schließlich „Asia-Horror“ in den 2000ern. Wobei der schon zu einem guten Teil als westliche Remkes gesehen wurde, was keine schöne Entwicklung ist.

          Kon hätte vermutlich früher oder später einen Film gemacht, der unmöglich zu ignorieren gewesen wäre und dann sein Gesamtwerk in den Fokus gerückt hätte. Er war schließlich gerade mal 46. Scheißkrebs…

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  3. Wirklich eine Schande, dass so ein großartiger Künstler so früh von uns gehen musste!
    Ich habe den Film erst vor kurzem das erste Mal gesehen und mich sofort in ihn verliebt!!!
    Ich kann deiner Rezension nur voll und ganz zustimmen und bin auch schon auf der Suche nach den anderen Werken von Kon

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