Takeshi Kitanos Werke verbinden fast immer einen poetischen Grundton mit explosiver Gewalt. Für ‚Kikujiros Sommer‘, seinem Versuch an einem Familienfilm (ob das gelungen ist, darüber kann man streiten, siehe unten) verzichtet er auf die Gewalteinlagen und ersetzt sie stattdessen durch Slapstick-Momente. Herausgekommen ist ein gleichzeitig typsich, wie untypischer Film von Beat Takeshi und vielleicht der mit dem besten Soundtrack.
Es sind Sommerferien. Der bei seiner Großmutter lebende Masao (Yusuke Sekiguchi) ist einsam. Seine Freunde sind alle im Urlaub und das Fußballtraining fällt aus. Da findet er ein Foto und die Adresse seiner Mutter, die, laut Aussagen der Großmutter, weit weg lebt und hart für ihn arbeitet. Er schleicht sich davon, um seine Mutter zu besuchen, doch wird ihm gleich an der nächsten Straßenecke das Taschengeld von ein paar Bullies abgenommen. Eine Nachbarin beauftragt ihren Mann Kikujiro (Kitano) den Jungen zu seiner Mutter zu begleiten, während sie der Großmutter erzählt, die beiden führen zum Strand. Kikujiro ist die denkbar schlechteste Wahl für einen Begleiter. Der Kleinganove macht zunächst an einer Radrennbahn halt, wo er den Großteil ihres gemeinsamen Reisegeldes verjubelt. Erst als Masao, aufgrund Kikujiros Unachtsamkeit, von einem Kinderschänder im Park bedrängt wird und Kikujiro im letzten Moment eingreift (und dem Kerl die Brieftasche klaut), machen sie sich ernsthaft auf den Weg. Es folgen gestohlene Taxis, ein Aufenthalt in einem Luxushotel, Streit mit Truckern und zahlreiche, teilweise erzwungene, Mitnahmen per Anhalter. Doch verläuft der Besuch bei der Mutter nicht wie erwartet, was aber dafür sorgt, dass Masao und Kikujiro ein wenig näher zueinander finden.
Geschichten um Außenseiter, die aufgrund der Geschehnisse zueinander finden ist kein untypisches Motiv für einen Film und das Road Movie sogar ein recht typisches Setting dafür. Doch umschifft Kitano die typischen, sentimentalen Momente, die für gewöhnlich eine solche brüchige Vater-Sohn Beziehung ausmachen würden. Masao ist ein untypischer Film-Achtjähriger, insofern das er nicht eben tonnenweise Persönlichkeit mitbringt. Er ist sehr introvertiert und sehr still und bleibt es fast den ganzen Film. Und doch merkt man, wie aus dem anfänglichen stoischen Ertragen Kikujiros Eigenarten langsam eine Art Vertrauen wird. Wirkliche Einblicke in Masao bekommen wir mehr über das Rahmenelement eines Bilderbuches, dass er darüber führt, was er im Sommer erlebt hat, sowie seine (Alp-)Träume. In denen kann sich Kitanos Regie voll ausleben und es wimmelt von überzogenen Schurken und finsteren Dämonen.
Kikujiro hingegen bringt schon fast zu viel Persönlichkeit mit. Kitano spielt ihn wie eine Karikatur seiner üblichen Gangsterrollen. Laut und aufbrausend begegnet er jedem anderen Charakter im Film, anscheinend stets auf der Suche nach Streit, wichtiger aber noch, nach Gelegenheiten einfach Geld zu machen. Letztlich wirkt er aber immer nur wie ein polternder Clown, seine Drohungen und Posen sind leer, sein Zorn eine ähnliche Flucht nach innen, wie Masaos stille Traurigkeit. Kikujiro war der Name von Kitanos Vater, zu dem er kein gutes Verhältnis gehabt hat, was die Vermutung nahe legt, der Film präsentiere den Wunsch nach einer, zwar unwesentlichen aber entscheidenden Veränderung im Wesen der Vaterfigur. Kitano hat zwar anfangs bestritten die Figur habe irgendetwas mit seinem Vater zu tun, sagte später jedoch, womöglich sei es seine Art ihm Respekt zu zollen, statt sein Grab zu besuchen.
Viele der Charaktere, denen sie unterwegs begegnen sind ähnlich exzentrisch, doch da vor allem die zentralen Charaktere hervorragend geschrieben sind, fühlen sich die Begegnungen nie forciert an. Sei es der in seinem Auto lebende Mais stehlende Obdachlose/Autor, die vielleicht friedfertigsten Biker, die je im Film zu sehen waren oder der hilfreiche aber auf Regeln bestehende Hotelangestellte. Insbesondere in der zweiten Hälfte, wenn eine ganze Gruppe von Charakteren zusammenkommt (teilweise von Kikujiro gezwungen) um Masao ein unvergessliches Sommererlebnis zu bescheren, können auch diese Randfiguren glänzen.
Erzählerisch gibt es überdeutliche und unauffälligere Anspielungen auf das alte Hollywood. Eine längere Sequenz an einer Bushaltestelle ist nicht nur sehr komisch, sie könnte auch eins zu eins genauso in einem Charlie Chaplin Film vorkommen. Die Grundstruktur des Films hingegen folgt ein wenig dem ‚Zauberer von Oz‘. Kikujiro ist für Masao anfangs sicherlich ein herz-, hirn- und mutloser Begleiter, doch nachdem der Besuch beim Zauberer (der Mutter) sich als enttäuschend herausstellt, merken sie, dass sie alles was sie brauchen bereits in sich tragen. Gleichzeitig ist der Film mit seinem ironisch-distanzierten Tonfall, seiner Unsentimentalität und der Tatsache, dass Kikujiro anfangs ein wirklich unangenehmer Charakter ist weit von Hollywood entfernt. Die Tatsache, dass einer der handlungsauslösenden Momente sich um einen, völlig unsubtil gespielten Kinderschänder dreht, dürfte ihn als Familienfilm wohl ohnehin für die meisten disqualifizieren. Die Tatsache, dass ein anderer Charakter dazu neigt vollkommen nackt herumzulaufen (sehr lustig „zensiert“ im Film) dürfte ein Übriges tun.
Filmisch allerdings ist das durch und durch Kitano, was vermutlich dazu beiträgt, dass nicht die übliche Sentimentalität einsetzt. Seine Kamera ist oft genug distanziert und ironisiert dadurch Momente noch weiter, als der Ton des Films es ohnehin schon tut. Er erzählt seine Geschichte in statischen Szenen und mit bewussten Auslassungen, lässt aber gelegentlich die Kamera etwas länger als nötig auf einer Szene verweilen, um bizarre Momente herbeizuführen. Ein Moment mit einem Nagel und einem Auto auf einem Deich würde ich gar in die Riege der großen visuellen Komik aufnehmen wollen. Auch Kitano-typische Elemente wie Engel oder natürlich der Strand finden ihren Platz.
Und dann ist da noch Joe Hisaishis Musik. Den Hauskomponisten des Studio Ghibli und langjährigen Mitarbeiter Kitanos muss ich wohl nicht großartig vorstellen, jeder, der sich ein wenig mit japanischem Film beschäftigt wird früher oder später aufhorchen, wenn er seinen typischen Stil hört. Und doch hat er mit „Summer“ in ‚Kikujiros Sommer‘ vielleicht meinen persönlichen liebsten Track geschaffen. Seine Musik beschwört sofort die unbeschwerlichen Tage der scheinbar endlosen Sommerferien der Kindheit herauf, doch bevor ich versuche Musik zu beschreiben, hört einfach selbst rein:
Das Bild hat übrigens nix mit dem Film zu tun…
Masaos und Kikujiros Reise wird die Welt nicht grundlegend verändern und genau dasselbe könnte man wohl auch über den Film sagen, der bei der Kritik denn auch nur mittelmäßig ankam. Dennoch finde ich diesen, für den Beat Takeshi der 90er, sehr milden, sehr liebevollen Film absolut sehenswert und es ist einer, der das Gefühl des kindlichen Sommers und seiner unbegrenzten Möglichkeiten besser trifft als viele andere.
Pingback: Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (11-06-18)
Pingback: Reisetagebuch: ‚Shoplifters‘ (2018) | filmlichtung
Pingback: Die 5 Besten am Donnerstag: die 5 besten Filme, an warmen Orten spielen | filmlichtung
Pingback: Die 5 Besten am Donnerstag: die 5 besten Summer Holiday Filme | filmlichtung
Pingback: Schon wieder Hitzefrei?! | filmlichtung