Kein Film bleibt in seiner Wahrnehmung 20 Jahre lang unverändert. ‚Matrix‘ war gleichsam absolutes Kind seiner Zeit, eine perfekte Abbildung von Mode, Musik und allgemeiner „Coolness“ der späten 90er, wie auch Trendsetter sowohl in technischer als auch in erzählerischer Hinsicht für den frühen Film des frühen 21sten Jahrhunderts. Dann wurden allerdings die Beine des kulturellen Thrones sehr schnell wackelig, als ein mäßiges und ein schlechtes Sequel folgten und ‚Matrix‘ noch dazu eines der Opfer des damaligen Trends zur Multimedialität wurde und für seine Sequels Handlungselemente in einen animierten Kurzfilm und ein hingeschludertes Videospiel auslagerte. Doch darum soll es heute nicht gehen. Heute sprechen wir über ‚Matrix‘ und der war ein Brett, ist noch ein Brett und wird es auch in 20 Jahren noch sein. Ich glaube was ihn so sehr zu einem Kung-Fu-Schlag vor das Brustbein machte, war wie überraschend er aus dem Nichts kam. Fangen wir da am besten an.
Lana und Lilly Wachowski setzten einen Fuß in die Tür Hollywoods durch ihre Mitarbeit am Drehbuch zum Stallone/Banderas Film ‚Assassins‘ (1995). In der Studioführung Warners erwartete man ganz Großes von dem Film. Ein neues Franchise sollte er begründen, zahlreiche Sequels nach sich ziehen. Noch bevor sich zeigte, dass der Rest der Welt deutlich weniger von ‚Assassins‘ hielt als die Warner-Bosse, stellten die Wachowskis Warner ihr eigenes Regieprojekt vor: ‚Bound‘, ein Arthouse-Neo-Noir-Thriller. Warner zeigte sich bereit den zu finanzieren. Aber nur, wenn sie ihre weibliche, lesbische Hauptrolle gegen ein Mann eintauschten. Dazu waren sie nicht bereit. Hier sprang glücklicherweise der ausführende Produzent von ‚Assassins‘, Dino De Laurentiis ein. Er gab ihnen 6 Millionen Dollar Budget und völlig freie Hand. Sie drehten mit Gina Gershon und Jennifer Tilly in den Hauptrollen und Joe Pantoliano als Fiesling. Der Film spielte sein Geld wieder ein, plus einiges dazu und wurde zu einem Kritikerhit. Beim nächsten Mal würde Warner den Wachwoskis wohl genauer zuhören.
Allerdings hatte man bei Warner als nächstes wohl mit einem weiteren Neo-Noir gerechnet. Das war in den 80ern/90ern ein respektables Genre und ein anderes Geschwisterpaar, die Coens, war dort groß geworden. Doch die Wachowskis kamen mit etwas anderem. Einem Arthouse-Science Fiction-Cyberpunk Film. Auch das war in den späten 90ern nicht so ungewöhnlich, doch sollte der 60 statt 6 Millionen Dollar kosten. Dennoch, Warner blieb interessiert, holte sich aber Village Roadshow zusätzlich ins Boot, um das finanzielle Risiko zu teilen. Den Wachowskis ließ man erneut freie Hand. Als sie ihre Stars zu monatelangem Kampfsport- und Stunt Training unter dem Hong Kong-stämmigen Yuen Woo Ping ansetzten und sie in den Pausen philosophische Literatur büffeln ließen, dürften bei Warner die einen oder anderen Fingernägel angekaut worden sein. Das gab sich wohl erst, als der Film nicht nur ein kultureller Meilenstein wurde, sondern auch eine knappe halbe Milliarde Dollar einspielte.
Die Produktion ist so gut dokumentiert wie sonst höchstens noch die ‚Herr der Ringe‘ Filme, darum will ich darüber hier nichts schreiben. Erwähnt sei nur die Anekdote, dass Hauptdarsteller Keanu Reeves im Kampftraining einen Unfall erlitt, infolge dessen es zu einer Versteifung zweier Halswirbel kam. Daher litt er längere Zeit an Lähmungserscheinungen in den Beinen. Doch Reeves weigerte sich das Training auszusetzen, geschweige denn die Rolle abzugeben. So tritt Neo im Film kaum (und wenn ist meist nur „sein“ Bein im Bild), sondern kämpft mit den Fäusten. Umso befriedigender, wenn er am Ende des Films Widersacher Agent Smith gleich einen ganzen Gang hinunterkickt.
Das bringt mich dazu, dass ich vielleicht kurz die Handlung zusammenfassen sollte. Mr. Anderson (Keanu Reeves ) führt ein Doppelleben. Tagsüber Programmierer für eine Softwarefirma, nachts als Hacker Neo auf der Suche im Netz nach jemandem namens „Morpheus“, getrieben von einem Gefühl, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. In einem Club trifft er Hacker-Legende Trinity (Carrie-Ann Moss), die ihm mitteilt, dass Morpheus auch ihn sucht. Alsbald sieht sich Neo von mysteriösen Agenten unter der Leitung eines Smith (Hugo Weaving) verfolgt, deren Handeln ihn noch mehr an der Welt zweifeln lässt. Endlich begegnet er Morpheus (Lawrence Fishburne) und erfährt die ganze Wahrheit. Seine Welt existiert nicht. Es ist eine Simulation, die „Matrix“. Tatsächlich werden die Menschen schon lange von den Maschinen als biologische Batterien gehalten. Nur wenige sind frei und versuchen weitere aus der Gefangenschaft zu befreien. Tatsächlich glaubt Morpheus gar mit Neo den „Einen“ gefunden zu haben. Den Menschen, der die Matrix kontrollieren kann.
Heute gesehen, fühlt sich der Film erstaunlich wie eine „Brücke“ zwischen klassischem Actionfilm und dem modernen Superheldenfilm an. Machen wir das mal an der Eröffnung fest. Eine Gruppe Polizisten hat „Terroristin“ Trinity in einem leeren Warenhaus in die Enge getrieben. Eine Gruppe Agenten übernimmt die Situation. Als Zuschauer werden wir dank (damals) unbekannten Darstellern wie Moss und Weaving vor die Frage gestellt, wer ist eigentlich „gut“, wer ist „böse“? Die Agenten oder die mysteriöse Frau im engen Leder? Es folgt eine Verfolgung über Häuserdächer (übrigens dieselben Kulissen aus dem thematisch ähnlichen ‚Dark City‘), der sich mit gigantischem Soundtrack und teilweise deutlichen Sets sehr nach „altem“ Hollywood anfühlt. Die Szene endet damit, dass Trinity einen unmöglichen Sprung über eine breite Straße hinweg hinlegt, verfolgt vom Agenten (der gar in typischer Superheldenpose landet). Wir haben den modernen Film erreicht, die Polizisten bleiben verwirrt und hilflos zurück. Dieser Übergang von Alten zum Neuen lässt sich überall im Film finden, nicht zuletzt, wenn sich am Ende Neo Superman-artig aus den Häuserschluchten erhebt.
Über die philosophischen Grundlagen des Films ist an anderen Stellen weit ausführlicher und kompetenter berichtet worden (die Bluray kommt gar mit Audiokommentar von Philosophen daher) als mir das hier möglich wäre. Ich möchte nur noch einmal hervorheben, dass kein Film 20 Jahre lang unverändert wahrgenommen wird. Und mit dem was wir heute darüber wissen, dass Lilly und Lana Wachowski Transfrauen sind, erhalten manche Szenen sicherlich eine weit persönlichere Bedeutung als man damals ahnen konnte. Sei es Neo, der weiß, dass sein wahrer Name Neo ist, doch eine Horde anzugstragender Autoritätspersonen (die Agenten) besteht darauf ihn weiter „Mr. Anderson“ zu nennen. Oder auch der erste Dialog zwischen Trintiy und Neo: Neo „I thought you were a guy.“ Trinity: „Most guys do.“ Oder schlicht die Tatsache, dass Neo eine Pille einnimmt um zu der Person zu werden, die er wirklich ist.
Thematisch passt sich das natürlich wunderbar in das grundsätzliche Thema des Films um Erkenntnis, Platons Höhlengleichnis etwa wird direkt zitiert, und vor allem Selbsterkenntnis ein. Temet Nosce steht über der Tür des Orakels (Gloria Foster), die lateinische Version der altgriechischen Phrase „Gnothi seauton“, die über dem Tor zur Pythia im Apollonischen Orakel zu Delphi stand. „Erkenne Dich selbst“. Da passt es, dass die Sprüche dieses Matrix-Orakels keinesfalls deterministische Zukunftsvoraussagen sind, sondern notwendige, wenn auch kryptische Informationen eben zur Selbsterkenntnis. Daher vergebe ich ‚Matrix‘ auch die Verwendung meiner wohl meistgehassten erzählerischen Faulheitsstütze: die Prophezeiung, die uns sagt, dass der Hauptdarsteller des Films der Held ist und auf die sich Morpheus immer wieder bezieht, damit wir das auch wirklich kapieren. Hier, im Gegensatz zu fast jeder anderen Verwendung, funktioniert sie (halbwegs).
Was mir bei diesem Sehen ganz persönlich aufgefallen ist, ist zum ersten, dass ich erschreckend mit Cypher (Joe Pantoliano) übereinstimme. Nicht mit seinem Verrat und seinen Morden, natürlich, aber damit, dass ich lieber für den Rest meines Lebens simuliertes Steak mit simuliertem Wein genießen würde, als echten Proteinrotz mit echtem, selbstdestillierten Hirntöter, während ich ein Leben auf beständiger Flucht führe. Ja, ich fürchte, ich wäre schwer aus der Matrix zu befreien (aber, hey, Morpheus sagt ja selbst, dass das ab einem bestimmten Alter kaum noch möglich ist. Das hab ich wohl überschritten…). Weiterhin hat mich überrascht, dass der Film deutlich weniger Action enthält als sich in meiner Erinnerung abgesetzt hatte. Aber das liegt vermutlich daran, dass gerade die letzte dreiviertel Stunde, nachdem Trinity und Neo beschließen Morpheus zu befreien, eine Actionszene nach der anderen ist. Von der grandiosen Schießerei in der Empfangshalle zum Kampf gegen den Agenten auf dem Dach, zur Hubschrauberrettung, zum Kampf Neo/Smith in der Ubahnstation usw.
Funktioniert ‚Matrix‘ also 21 Jahre nach Erscheinen und sicher 16 Jahre seit meiner letzten Sichtung noch? Die Frage habe ich ja eingangs schon beantwortet: ja, natürlich funktioniert er noch. In mancher Hinsicht womöglich besser als damals. Die Idee von Neos Doppelleben in „Realität“ und Online ist heute besser nachzuvollziehen als je zuvor, wo jeder mindestens einen Sozialmedien-Account hat, auf dem die meisten, absichtlich oder unabsichtlich, eher eine Version ihrer selbst als tatsächlich sich präsentieren. Die CGI Effekte haben, vor allem verglichen mit dem etwa gleichalten ‚Star Wars Episode I‘, die Zeit erstaunlich gut überstanden. Schwach wirkt nur die ein- oder andere Greenscreenaufnahme. Tatsächlich hat mir der Film diesmal so gut gefallen, dass ich fast gewillt bin den Fortsetzungen eine weitere Chance zu geben. Sollte ich das tun und sollten sie mir gefallen, dann werdet Ihr an dieser Stelle darüber erfahren. Und dem vierten ‚Matrix‘ Film schaue ich einmal skeptisch aber nicht hoffnungslos entgegen.
PS: eine Frage für Experten: wurde für die BluRay die Grünfärbung in den Matrix-Szenen deutlich zurückgenommen? Oder kommt mir das nur so vor? Oder hab ich meinen Fernseher falsch eingestellt? Oder das Ganze nur falsch in Erinnerung?
Zur Blu-ray-Frage: Soweit ich weiß gibt es mehrere Heimkino-Fassungen. Die erste DVD wurde wohl weitgehend ohne Grünfilter veröffentlicht, dann hat man den Grünfilter hochgedreht, um den ersten Teil an die Fortsetungen anzupassen (bei der ersten Blu-ray-Auflage) und bei der Neuauflage nun wieder weiter zurückgenommen. Ist aber nur gefährliches Halbwissen… 😉
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Ah, dann verwechsel ich das vermutlich mit den Sequels, wenn die grünstsichiger waren. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den hier zum ersten Mal auf BR gesehen habe und sonst nur auf der allerersten DVD.
Irgendwo müsste ich meine uralte Snappercase DVD auch noch haben, könnte also auch selbst vergleichen. Nur da wo sie hingehört, im Regal, war sie nicht als ich sie mit der BR ersetzen wollte. O Gott, ich verliere die Übersicht über meine Sammlung… 😉
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Hab den letztens auf Netflix nochmal gesehen, der Film ist genial, in jeglicher Hinsicht, die Fortsetzungen lösche ich einfach aus meinem Gedächtnis. Gerade die Identitatsanspielungen sind mir aber nicht aufgefallen. Seltsam.
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Ich haatte den text vor einiger Zeit geschrieben und mich immer noch nicht an die Fortsetzungen range“traut“. Will mir halt meinen guten Eindruck nicht zum zweiten Mal kaputt machen… 😉
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Wie sagt man immer so schön: Ein Meilenstein der Filmgeschichte. (Der dummerweise durch die beiden Fortsetzungen sein thronartiges Alleinstellungsmerkmal verliert.)
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Ich fand ja damals „Matrix reloaded“ ganz toll fanden, hab ihn dreimal im Kino gesehen und konnte „Matrix Revolutions“ gar nicht abwarten. Klar enthielt er eine Überdosis von an sich selbst besoffenen Gelaber, aber eben auch noch spektakulärere Action und spannende Fragen über das Wesen der Matrix, ihrer Schöpfer und Neos Rolle in selbiger. Ich war überzeugt, das der nächste Film enthüllen würde, dass auch das vermeintlich freie „Zion“ ein Teil des Matrix-Programms ist, gebaut für eben jene die sich nicht kontrollieren lassen wollten. Die Wachowskis waren offensichtlich anderer Meinung und ich kann mich noch an mein ungläubiges Staunen erinnern, als der CGI-Overkill von „Revolutions“ entlich überstanden war. DAS sollte es gewesen sein worauf alles hinaus lief? Jetzt mal ernsthaft Jungs, bzw. inzwischen Mädels: wann startet der richtige Film?
Nun ja, wie heißt es so schön: die Zeit heilt alle Wunden. Vor ein paar Jahren habe ich dem dritten Teil noch mal eine Chance eingeräumt und ihn als zwar fehlerhaft, aber kurzweilig eingestuft. Es will aber immer noch nicht wirklich zusammen passen. Im Vergleich zum in sich selbst sehr runden ersten Teil wirken die Fortsetzungen eher wie durch mäßige Handlungs-Spinnerei zusammenhängende Set-Pieces. Das wurde in „Reloaded“ noch halbwegs kaschiert, tritt in „Revolutions“ dann aber blank zum Vorschein. Und was aus dem ultracoolen „Morpheus“ im Laufe der Filme gemacht wurde geht ohnehin auf keine Kuhhaut.
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Ja, das deckt sich ziemlich mit meiner Wahrnehmung der Sequels, als ich sie jetzt wiedergesehen habe. Ärger und Enttäuschung sind inzwischen ziemlich verraucht. Und ja, den zweiten kann man schauen, auch wenn das Pacing immer noch vollkommen merkwürdig ist. Revolutions habe ich selbst jetzt nicht bis zum Ende geschafft ohne zwischendurch vorzuspulen. Böse, ich weiß, aber nee geht einfach nicht.
Aber wie auch immer, ich bin sehr froh, dass die Schwestern trotzdem über Jahre noch Geld für ihre Projekte aufbringen konnten. ich mag zwar nicht alle, aber hochoriginell sind sie dennoch alle. Niemand außer den Wachowskis hätte Speed Racer gemacht… jedenfalls so wie er ist.
Ich muss aber sagen, ich bin durchaus gespannt, was ein vierter Matrix-Teil heute aus den gelegten Grundlagen noch machen kann.
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